EU – wozu?
9. Mai 1950, fünf Jahre nach Kriegsende. Was wäre, wenn die Länder Europas politisch zusammenarbeiten würden? Wenn sie sich zusammenschließen und Kriege untereinander so unmöglich machen würden? Gedacht und gesagt hat das Robert Schumann, damals französischer Außenminister. 71 Jahre später ist die EU für viele ihrer Bürger*innen etwas ganz Normales, über das man kaum nachdenkt. Doch was tut sie für uns, was meistert sie gut, wo hakt es? Politikanalystin Sophie Pornschlegel erklärt.
Nach etwas mehr als 70 Jahren scheint die europäische Idee zu bröckeln. Wie erklären Sie Kritiker*innen die Vorteile der EU?
Sophie Pornschlegel: Viele EU-Bürger*innen sind sich der Vorteile der Europäischen Union nicht bewusst, weil wir uns an sie gewöhnt haben. Sei es die Freizügigkeit, also das Reisen durch die Union ohne Grenzkontrollen, der Verbraucherschutz oder ganz konkret die Abschaffung der Roaminggebühren. Und ganz wichtig: Die EU hat Frieden auf dem europäischen Kontinent gebracht. Außerdem kann die EU als geopolitischer, aber auch wirtschaftlicher Akteur international mit mehr Macht auftreten als jeder der 27 Mitgliedstaaten allein. Leider verkennen viele Mitgliedsländer, dass alle einen Vorteil davontragen, wenn die EU „mit einer Stimme“ spricht.
Der/die einzelne Bürger*in aber verliert sich in diesem Konstrukt: Herrscht in der EU ein Demokratiedefizit?
Pornschlegel: Diese Kritik kommt schnell aus einem nationalen Blickwinkel heraus, der annimmt, das Europäische Parlament sei der Bundestag und die Kommission die Regierung. So ist es aber nicht. Es gibt kein europäisches Volk. Das europäische Konstrukt ist international einzigartig, ein Zusammenschluss, der seine Legitimität genauso aus den nationalen Regierungen als auch durch seine Bürger*innen erhält. Die Regierungen der Mitgliedstaaten sind im Europäischen Rat und im Rat der Europäischen Union vertreten. Insofern kann man von einer Legitimationskette sprechen, denn jede einzelne Regierung wurde von den einzelnen nationalen Wähler*innen demokratisch gewählt. Außerdem werden die Bürger*innen durch das Europaparlament repräsentiert. Und schließlich tritt die Kommission für gemeinsame europäische Belange ein. Im Vergleich zu anderen internationalen Institutionen wie den Vereinten Nationen oder dem Internationalen Währungsfonds ist die EU dann doch sehr demokratisch. Aber dieses Spannungsfeld – zwischen Regierungen und Bürger*innen, zwischen dem Rat und dem europäischen Parlament – macht es zu einem komplexen Gefüge, das oft unübersichtlich und technokratisch wirkt.
Sophie Pornschlegel ist Senior Policy Analyst beim Brüsseler Think Tank European Policy Centre (EPC) und Projektleiterin von “Connecting Europe”, eines gemeinsamen Projekts des EPCs und der Stiftung Mercator. Dort arbeitet sie an den Themen Europapolitik und EU-Institutionen, deutsch-französischen Beziehungen sowie Zivilgesellschaft und Rechtsstaatlichkeit.
Trotzdem hört man im politischen Tagesgeschäft der einzelnen Länder oft die Entschuldigung: „Brüssel ist schuld.“
Pornschlegel: In der Tat gibt es die Tendenz für nationale Politiker*innen, Erfolg zu nationalisieren und Scheitern zu europäisieren. Heißt: Wenn es gut läuft, verkauft es die nationale Regierung der eigenen Wählerschaft als Erfolg. Wenn nicht, ist in der Tat schnell „Brüssel schuld“. Wenn man sich das genau anschaut, sind es aber die 27 Nationalstaaten zusammen, die Entscheidungen treffen oder blockieren. Nehmen wir den Vorwurf „Die EU lässt Menschen im Mittelmeer ertrinken“. Hier wird verkannt, wer genau die Reform des Dublin-Verfahrens blockiert: Das sind Ungarn, Polen, Tschechien und die Slowakei. Hier muss sich Kritik auch an die richtigen Hauptstädte richten – und das ist nicht Brüssel.
Vier Staaten können Reformen blockieren, weil im Rat die Einstimmigkeit immer noch als höchstes Gut gilt. Wie sinnvoll ist das, wenn es dazu führt, dass die Regierung Maltas, die eine halbe Million Menschen vertritt, dieselbe Veto-Macht hat wie Deutschland mit 82 Millionen?
Pornschlegel: Es gibt immer wieder Kritik an dieser Veto-Macht, das stimmt. Aber man darf nicht vergessen, dass es auch dem Zusammenhalt der Union dient: Keine Regierung kann später gegenüber den eigenen nationalen Wähler*innen sagen, „wir wurden überstimmt“. Jede*r Einzelne muss die getroffene Haltung mittragen. Es stimmt aber auch, dass die Einstimmigkeit aufgrund der Erweiterung und der jetzigen Größe der EU zu vielen Blockaden führt, und das ist problematisch. Man müsste also in einigen Bereichen die Einstimmigkeit durch eine Mehrstimmigkeit ersetzen oder die EU verkleinern, was eher unwahrscheinlich ist.
In den Neunzigern und Nullerjahren wuchs die EU schnell: Bei der Osterweiterung 2004 sind auf einen Schlag zehn neue Staaten beigetreten. Seitdem überschatten Krisen – und der Brexit – die Union. Hat die EU ihre Integrationskraft verloren?
Pornschlegel: Natürlich ist die Dynamik nicht mehr die Gleiche wie am Anfang, als die „EU“ noch ein Wirtschaftsverband unter europäischen Staaten war. Doch schon das Scheitern der europäischen Verteidigungsunion in den 1950er-Jahren zeigt, dass die europäische Integration nie geradlinig verlaufen ist. Auch die Osterweiterung erschwerte sie. Zwar war der Beitritt der zehn Länder eine wichtige geopolitische Entscheidung, um die ost- und zentraleuropäischen Staaten nicht im Vakuum zwischen Europa und Russland zu lassen. Aber EU-intern hat es zu Schwierigkeiten geführt, weil die Entscheidungsprozesse nicht für 27 Mitglieder vorgesehen sind. Darüber hinaus befindet sich die EU seit über einem Jahrzehnt im Zeitalter der „Polykrise“, also vielen, sich teilweise überlagernden Krisen: die Finanzkrise 2007, gefolgt von der Eurokrise 2012, der Flüchtlingskrise 2015, dem Brexit, der seit 2016 seinen Lauf nimmt, und jetzt seit 2020 Corona. Das sind natürlich Faktoren, die den Zusammenhalt der EU erschweren.
Müsste die EU nicht gestärkt aus Krisen hervorkommen, weil Nationalstaaten bei globalen Herausforderungen an ihre Grenzen stoßen und es gemeinsam besser geht?
Pornschlegel: Nationale Interessen weichen voneinander ab. Das ist auch vollkommen in Ordnung, wenn es ein großes Vertrauen zwischen den Regierungen gibt und den politischen Willen, gemeinsame Lösungen zu finden – dem ist aber oft nicht so. Das hat sich bei der Coronakrise gezeigt, als die Regierungen in einem nationalstaatlichen Reflex die Grenzen dichtgemacht haben. Davor auch bei der Eurokrise: Schon als der Euroraum geschaffen wurde, konnten sich die Staaten nicht auf eine gemeinsame soziale und fiskale Dimension einigen. Auch hier fehlte es vielen Staaten aus dem sogenannten Norden, also zum Beispiel Deutschland, den Niederlanden, den skandinavischen Staaten, an Verständnis für die Staaten aus dem Süden. Italien, Griechenland, aber auch Frankreich sind keine starken Exportnationen, sie profitieren nicht von der Währungsunion wie die Bundesrepublik. Die negativen Aspekte des Euros für die Bürger*innen in den Südstaaten der EU wurden aber lange ausgeklammert, bis es zur Eurokrise kam. Bis heute hat man sich nicht auf eine umfassende politische Lösung einigen können, obwohl sie im Interesse aller ist.
Es gibt zusätzlich noch den „Konstruktionsfehler“ in der EU, dass nationale Regierungen vor allem ihrer nationalen Wählerschaft verpflichtet sind und nicht den Europäer*innen als Gesamtes. Somit verteidigen Politiker*innen in Brüssel ihre nationalen Interessen, statt nach dem gemeinsamen europäischen Interesse zu suchen. Und sie geben natürlich nur ungerne zu, dass ihr Handlungsspielraum in vielen Bereichen eingeschränkt ist. Weil die EU in manchen Bereichen die Kompetenzen hat, aber auch, weil nationale Lösungen nicht die Tragweite haben, die es braucht – beispielsweise beim Thema Klimawandel oder digitale Transformation. Und schließlich fehlt es sehr oft an Verständnis für die anderen. Das hängt auch damit zusammen, dass Völkerverständigung nicht als Priorität wahrgenommen wird. Dass beispielsweise Erasmus nun für alle – nicht nur für Student*innen – erhältlich ist, ist ein Schritt in die richtige Richtung, war aber viel zu lange ein Zeichen dafür, dass die EU-Staatsbürgerschaft nur einer oftmals akademischen Elite vorbehalten ist.
Sie haben von Verständnis und Völkerverständigung gesprochen. Welche Auswirkungen hat das Corona-Jahr in der Hinsicht für den Zusammenhalt der EU?
Pornschlegel: Es wird immer dann problematisch, wenn man über andere redet statt mit ihnen. Wenn zum Beispiel in der niederländischen Presse über die Spanier*innen hergezogen wird, weil sie einen gemeinsamen Corona-Wiederaufbaufonds befürworten, und in der spanischen Presse die fehlende Solidarität angeprangert wird. Jede*r redet über die/den andere*n, aber keine*r miteinander: Das hat etwas von dem WDR-Talk, bei dem sich weiße Männer über Rassismus unterhalten. Nur durch das Zusammentreffen, das Reden, wird Vertrauen aufgebaut, auch auf der höchsten Ebene. Deshalb ist es besonders hinderlich, dass die informellen Treffen im Europäischen Rat – die sogenannte „corridor diplomacy“ – wegen Corona nicht stattfinden. Das wirkt sich negativ auf die EU-Entscheidungen aus.
Welche Meilensteine stehen der EU aktuell bevor?
Pornschlegel: Mit dem Wiederaufbaufonds „Next Generation EU“ gibt es eine Reihe von Meilensteinen, die auf uns zukommen. Zunächst die Frage, ob das Bundesverfassungsgericht erlaubt, EU-Eigenmittel aufzunehmen. Es wäre für uns alle extrem schädlich, wenn die Entscheidung negativ ausfällt, weil es dann keinen Geldtopf gäbe, um aus dieser Krise zu kommen. In einem Binnenmarkt sitzen wir sowieso im gleichen Boot: Deutschland ist genauso negativ betroffen, wenn wir diese Krise nicht alle zusammen überbrücken. Übrigens ist auch das wieder ein Thema der Völkerverständigung: Auf Deutsch hat das Wort „Schulden“ etwas Negatives, man steht in der Schuld, man ist daran schuldig. Das ist in anderen Sprachen anders, „debt“ auf Englisch oder „dette“ auf Französisch haben diese moralische Konnotation nicht. Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob die Mitgliedstaaten die EU befähigen, die aufgenommenen Schulden durch neue EU-Steuern zurückzuzahlen. Dafür plant die EU-Kommission beispielsweise eine neue CO2-Steuer und eine Finanztransaktionssteuer. Das muss aber noch durch den Europäischen Rat, und das wird sicherlich keine einfache Sache.
Mit der Klimakatastrophe wartet die nächste Krise auf die EU, Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat den „New Green Deal“ ausgerufen. Müsste die Antwort auf eine globale Aufgabe nicht auch global sein?
Pornschlegel: Eigentlich schon. Das Problem ist aber: Die Ergebnisse der UN-Klimakonferenzen sind nicht bindend, und die Ergebnisse waren bisher enttäuschend. Daher ist für uns Europäer*innen die nächstkleinere Ebene die EU. Hier gilt ja immer noch, dass die Staaten zusammen mehr erreichen können als jeder einzelne für sich, zum Beispiel wenn es um Strukturhilfen für betroffene Regionen geht. Natürlich sind bei der Klimakrise China, Indien und die USA mit in der Pflicht, doch kann die EU hier auch mit gutem Beispiel vorangehen.
Connecting Europe
Das Projekt Connecting Europe will die Kluft zwischen der EU und ihren Bürger*innen überbrücken und aktives Engagement von Zivilgesellschaft, Aktivist*innen, Bürger*innen, Think Tanks und der akademischen Welt in Entscheidungsprozessen der EU ermöglichen. Connecting Europe ist eine Initiative vom European Policy Center (EPC) und von uns.