Die fabelhafte Forschung der Amélie
Rechtspopulistische Parteien nutzen die Corona-Krise für ihre Angriffe auf die liberale Demokratie. Wie genau und welche Folgen daraus für die Zeit nach der Pandemie zu ziehen sind, darüber gibt es kaum Forschung. Das will die überzeugte Europäerin Amélie Jaques-Apke ändern.
Die Corona-Pandemie wird in vielen Ländern von der populistischen Rechten als politisches Instrument benutzt, wird verharmlost oder gar negiert. Sie hat einen Spalt getrieben zwischen europäische Staaten – ganz faktisch durch Grenzschließungen, politisch auch durch nationalstaatliche Reflexe. Dagegen stemmt sich Amélie Jaques-Apke, Direktorin der französisch-deutschen Denkfabrik EuropaNova und re:constitution-Fellow, derzeit in Berlin. Die passionierte Europäerin wird in den kommenden Monaten wissenschaftlich analysieren, wie radikal rechtspopulistische Parteien, zum Beispiel Vox in Spanien und Lega in Italien, die Corona-Pandemie für ihre Politik nutzen.
Zuhause ist, überall zu leben
Seit Oktober wohnt die 30-jährige Deutsch-Französin in Berlin. Übergangsweise. Wie immer. Wo ihr Zuhause ist? „Das weiß ich nicht“, gibt sie im Video-Interview zu und lacht, „die Frage ist gemein.“ Geboren in Stuttgart, der Vater Deutscher, die Mutter Deutsch-Französin, aufgewachsen in Montpellier im Süden Frankreichs, deutsch-französisches Abitur, Feldforschung in Ägypten und Kuba, Stationen in Guatemala, Chile, Argentinien, bei der Delegation der Europäischen Union in Washington, nun der Thinktank zwischen Paris und Berlin. Sie spricht Französisch, Deutsch, Englisch, Spanisch, Italienisch und etwas Arabisch. „Zuhause? Ich will noch in zehn weiteren Ländern leben, das ist doch auch etwas …“, sagt sie nach kurzer Bedenkzeit.
Jetzt ist also erst einmal die deutsche Hauptstadt ihre Heimat. Und wenn Amélie Jaques-Apke, die ihre binationale Herkunft schon im Namen trägt, „Berlin“ sagt, schwingt ein leichter südfranzösischer Singsang mit. Wer ihre wissenschaftliche Passion für die Erforschung des Populismus in ihrer Vita sucht, der findet keine einfache Antwort. Da ist zunächst ihre Familiengeschichte und „l’héritage“, das kulturelle Erbe aus Frankreich und Deutschland, den zwei Staaten, die am Anfang der europäischen Idee standen.
Abi und Ägypten
Nach dem deutsch-französischen Abitur AbiBac ergatterte Jaques-Apke mit 18 Jahren dann ein Forschungsstipendium, reiste nach Ägypten. „Ich wollte eigentlich Archäologie studieren“, sagt sie, daher das nordafrikanische Land. Sie untersuchte den Einfluss der Geschichte Ägyptens auf die heutige Gesellschaft mit einem soziologischen Ansatz. „Nach vier Monaten kam ich tätowiert und von der politischen Feldforschung fasziniert zurück.“ Amélie Jaques-Apke sitzt in ihrer Dachgeschosswohnung am Rande der Hauptstadt und erzählt diese Geschichten in ihren Laptop, doch in ihren Augen funkelt die weite Welt.
Mit 19 Jahren forschte sie auf Kuba zur „transition castriste“, wie ihr auf Französisch herausrutscht, um schnell auf Deutsch zu erklären: „Ich wollte wissen, wie die Menschen auf Kuba den Übergang von Fidel zu Raúl Castro erleben.“ Zu einer Zeit ohne Internet, in der Tourismus noch beschränkter und kontrollierter war als heute und ein „vide politique“, eine gefährliche politische Leere, die Insel überkam. Für ihre Forschung brauchte sie Interviews – was über den offiziellen Weg unmöglich war. „Kubaner*innen durften Ausländer*innen wie mich nicht zu Hause empfangen.“ Sie knüpfte Kontakte in der Künstler*innenszene, die neuen Bekannten halfen ihr bei der Suche nach Interviewpartner*innen. „Einmal musste ich vor der Polizei fliehen“, sagt sie. „In letzter Minute konnte ich raus. Die Familie hatte viel riskiert, um mit mir zu reden.“ Eine prägende Zeit verbrachte sie auch in Chile, wo sie für die deutsche Botschaft mit dem indigenen Volk der Mapuche arbeitete.
Forschen auf dem Boden der Tatsachen
Für sie ist Forschung immer Feldarbeit, vor allem in Corona-Zeiten. „Ich finde, Politikwissenschaft darf nicht aus dem Elfenbeinturm heraus passieren“, sagt sie. Auch im Rahmen von re:constitution will sie direkt vor Ort untersuchen, wie die populistische radikale Rechte in Spanien und Italien die Covid-19-Krise als ideologisches Arsenal nutzt. Dabei arbeitet sie nicht nur mit den Universitäten in Barcelona und Pisa zusammen, sondern auch mit einem Thinktank in Rom. „Mir ist es wichtig, nicht nur im Universitätsuniversum zu leben, sondern auch mit Denkfabriken und angewandter Politik zusammenzuarbeiten.“
Im Laufe des Jahres 2021 will Jaques-Apke ihr Forschungsprojekt bearbeiten. Eine Ferndiagnose aus dem Homeoffice lehnt sie ab. „Wir brauchen echte, belastbare Forschung.“ Die politische populistische Kultur sei im europäischen Süden verschieden von der im Norden, Westen oder Osten: „In Italien zum Beispiel ist die Wählerschaft an Populismus, an Regierungs- und EU-Krisen gewöhnt.“ Spanien ist kein Ausnahmefall mehr und hat nun auch eine radikale Rechte, Portugal ebenfalls. „Die Krise wurde zu einem Spektakel, zu einer Performance. Was macht das mit der Rechtsstaatlichkeit? Wie geht es nach der Pandemie weiter? Das alles ist noch zu wenig erforscht.“
Und wenn Amélie Jaques-Apke forscht, dann auch wirklich vor Ort – und intensiv. „Für die Zeit der Recherche ziehe ich für ein paar Monate nach Spanien und Italien, samt Partner und Katzen“, sagt sie. Sie wird die Tausenden Kilometer mit dem Auto fahren, so umgeht die Wissenschaftlerin die Unsicherheiten des Flugverkehrs in Corona-Zeiten. Sie plant, in ganz Spanien und Italien mit Politiker*innen und Wissenschaftler*innen Interviews zu führen, „draußen, an der frischen Luft, mit Abstand, da habe ich schon gute Erfahrungen gemacht.“ Auch will Jaques-Apke Demonstrationen besuchen und an politischen Veranstaltungen teilnehmen, „um den politischen Moment festzuhalten – natürlich unter Einhaltung der Corona-Schutzmaßnahmen.“ Und wenn Corona das Reisen doch gänzlich unmöglich macht? „Dann komme ich einfach später wieder und führe die Interviews zu Ende.“
re:constitution – Exchange and Analysis on Democracy and the Rule of Law in Europe
re:constitution ist ein Programm des Forums Transregionale Studien und der NGO Democracy Reporting International, gefördert von der Stiftung Mercator. Es trägt dazu bei, ein Netzwerk aufzubauen, das sich mit europäischen Verfassungsfragen, dem Spannungsfeld zwischen pluralistischen Auslegungen von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sowie der Zusammenarbeit innerhalb der EU befasst.
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