„Die Wunde, die das historische Unrecht gerissen hat, können wir nicht heilen“
Kann Geld die Vergangenheit wiedergutmachen? Ob NS-Raubkunst, die Schlösser der Hohenzollern oder die Dekolonialisierung – die Themen Restitution und Entschädigung erhitzen die Gemüter. Sophie Schönberger veranschaulicht in ihrem Buch „Was soll zurück? Die Restitution von Kulturgütern im Zeitalter der Nostalgie“ die Herausforderungen an Beispielen. Im Interview erklärt sie, warum dieses Thema uns alle betrifft.
Frau Prof. Dr. Schönberger, im Koalitionsvertrag der Ampel-Regierung wurde dem kolonialen Erbe Deutschlands erstmals ein Unterkapitel gewidmet. Da heißt es: „Wir unterstützen insbesondere die Rückgabe von Objekten aus kolonialem Kontext.“ Wie beurteilen Sie es, dass dann nun vermehrt Bilder, Schmuck und Kunst aus kolonialen Raubzügen an die betroffenen Länder zurückgegeben werden sollen?
Sophie Schönberger: Ich denke, dass es wichtig ist, diese Debatte zu führen und sie auch explizit als politische Aufgabe einer Regierung wahrzunehmen, nicht lediglich als Sonderproblem von Museen. Allerdings wird sich erst in der Praxis erweisen müssen, wie die Koalition dieses Ziel umsetzt. Denn im Einzelnen sind diese Fragen der Rückgaben gerade bei Objekten aus kolonialem Kontext immer überaus komplex, und die gerechten Lösungen liegen nicht immer klar auf der Hand, etwa bei der Frage, an wen überhaupt solche Objekte heute herausgegeben werden sollen.
Sophie Schönberger
Sophie Schönberger ist Professorin für Öffentliches Recht, Kunst- und Kulturrecht an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und Co-Direktorin des Instituts für Deutsches und Internationales Parteienrecht und Parteienforschung.
Wo liegt der Unterschied zwischen Entschädigung und Restitution?
Schönberger: Beides sind Maßnahmen zur Vergangenheitsbewältigung. Bei der Restitution geht es allerdings meistens um ein Objekt, das ursprünglich historisch seine*n Besitzer*in gewechselt hat und jetzt zurückgegeben werden soll. An Objekten lassen sich Lebensgeschichten erzählen. Das ist viel anschaulicher und fassbarer und deswegen auch häufig sehr viel emotionaler besetzt als die Entschädigung, bei der einfach nur Geld gezahlt wird.
Kann eine Geldzahlung der Vergangenheit gerecht werden?
Schönberger: Meiner Meinung nach nicht. Es geht ja meistens darum, dass Menschen ermordet, verletzt oder gequält wurden. Es geht um Menschen, deren ganzes Leben geraubt wurde, die fliehen mussten. Wie will man das mit Geld wiedergutmachen? Ja, was reicht denn dann aus? Um es jetzt ganz zynisch zu formulieren: Was ist ein ermordetes jüdisches Kind in Birkenau wert? Hier sieht man, wie grotesk das werden kann und wie schnell so eine Diskussion auch in eine unethische Dimension kippt.
Die Vergangenheit zu heilen ist eine utopische Vorstellung
Lässt sich die Vergangenheit heilen, oder ist das eine utopische Vorstellung?
Schönberger: Meines Erachtens ist das eine utopische Vorstellung, und ich glaube auch nicht, dass es die eine perfekte Form von Restitution gibt. Die Wunde, die das historische Unrecht gerissen hat, die bleibt, und die können wir nicht heilen. Wir können die Ermordeten nicht wieder zum Leben erwecken. Es geht vielmehr darum, einen Umgang damit zu finden, indem man sich bewusst macht, welches Unrecht man mit der Rückgabe aufarbeiten will, und gleichzeitig anerkennt, dass man es nicht wiedergutmachen kann. Alles, was wir heute machen können, ist, aus der Vergangenheit zu lernen und die Gegenwart und Zukunft besser zu gestalten.
Worin liegen die Unterschiede der Restitution von NS-Raubkunst und kolonialen Kulturgütern?
Schönberger: Der erste große Unterschied ist, dass wir mit der Restitution von NS-Raubkunst deutlich mehr Erfahrung haben. Wir haben eine erste Welle direkt nach dem Krieg gehabt, wo das Ganze tatsächlich auch rechtlich geregelt war. Dann hatten wir eine zweite Welle nach der Wiedervereinigung in den neuen Bundesländern, auch die gesetzlich normiert. Und jetzt haben wir seit 1998, also schon seit über 20 Jahren, diese dritte Welle, wo ohne rechtliche Regelung, sondern mit politischer Einigung viel restituiert wird. Über die Rückgabe von kolonialen Objekten im Rahmen der Dekolonialisierung gab es seit den 70er-Jahren immer wieder Diskussionen, faktisch wurde aber sehr wenig zurückgegeben. Das NS-Unrecht ist zeitlich deutlich näher an unserer Gegenwart als das koloniale Unrecht, was es vergleichsweise einfacher macht, die Geschichte von Objekten im Einzelfall nachzuvollziehen. Die Objekte bei der NS-Raubkunst können in aller Regel noch individuell zugeordnet und die heutigen Erb*innen gefunden werden. Bei kolonialen Objekten ist das sehr selten so. Es gibt den Fall der Restitution von Bibel und Peitsche von Hendrik Witbooi, dem namibischen Volkshelden, dessen Objekte jetzt zurückgegeben werden. Da die Familie mittlerweile sehr weit verstreut ist, wurden die Objekte an den Staat Namibia zurückgegeben. Diese Rückgabe an den Staat selbst ist der Regelfall bei der Restitution kolonialer Objekte, aber das kann auch große Konflikte provozieren, weil das den einzelnen Menschen, die betroffen sind, nicht gerecht wird.
Ein Kunstwerk einfach wegzuschieben finde ich ein bisschen ahistorisch
2019 gab Angela Merkel zwei Bilder vom Künstler Emil Nolde, die im Kanzleramt hingen, an die Stiftung Preußischer Kulturbesitz zurück, weil er Anhänger des Nationalsozialismus war. Sie haben das kritisiert. Warum?
Schönberger: Ein Kunstwerk einfach wegzuschieben finde ich ein bisschen ahistorisch, weil so getan wird, als könne man die deutsche Geschichte von diesen Menschen mit antisemitischem Gedankengut reinigen. Nein, wir hatten keine Stunde null im Jahr 1945. Das antisemitische und das nationalsozialistische Gedankengut, die sind 1945 nicht einfach verschwunden. Wie gehen wir damit um, dass diese Wurzeln in die Bundesrepublik noch so weit hineingereicht haben und trotzdem ein demokratischer und menschenrechtsachtender Staat entstanden ist? Es ist wichtig, diese Ambivalenz auszuhalten. Und das tut man nicht, wenn man als Reaktion auf einen Antisemitismusvorwurf die Bilder einfach abhängt. Denn das Leben ist ambivalent, und wenn man das nicht auszuhalten lernt, dann droht man, die Fehler viel eher zu wiederholen.
Sagen Sie deshalb, dass Entschädigungsgüter politisch sind – dass es also eine politische Entscheidung braucht, bevor gestohlene Kulturgüter wie Kunst zurückgegeben werden oder eine Entschädigungssumme dafür gezahlt wird?
Schönberger: Entschädigungsgüter sind politisch, weil es keine natürliche Zuordnung gibt. Es gibt keinen Automatismus, der Gerechtigkeit herstellt, sondern nur Entscheidungen, die getroffen werden müssen. Wenn es ausschließlich nach rechtlichen Maßstäben geht, muss im Grunde fast nichts zurück, weil es Verjährungsvorschriften gibt, die dafür sorgen, dass nach langer Zeit solche Dinge nicht rückabgewickelt werden. Da wird dann die NS-Raubkunst oder das koloniale Kulturgut nicht anders behandelt als der vergessene Regenschirm in der Bahn. Auch symbolisch ist es meiner Ansicht nach viel stärker, wenn politisch die Entscheidung getroffen wird, dass das Unrecht so groß war, dass man es wiedergutmachen möchte, statt es einfach als eine Eigentumsfrage abzutun.
In Ihrem Buch schreiben Sie, dass es zur Zeit der Kolonialherrschaft rechtlich und moralisch nicht als verwerflich galt, brutale Eroberungen vorzunehmen. Wie kann in der Gegenwart mit vergangenem Recht umgegangen werden?
Schönberger: Heutige Moralvorstellungen und damalige Rechtsvorstellungen entwickeln sich immer stärker auseinander. Moralische Maßstäbe verändern sich über die Zeit. Rechtliche Maßstäbe verändern sich über die Zeit nur dann, wenn sie explizit verändert werden. Weil das Recht niemand antastet, bleibt es und schützt damit eine Situation, die damals als moralisch, heute aber als zutiefst unmoralisch gilt. Und da gibt es eine ganz einfache Lösung, nämlich: Man ändert das Recht, indem man eben das veraltete Recht den heutigen moralischen Ansprüchen anpasst.
In Ihrem Buch setzen Sie drei Schwerpunkte: NS-Raubkunst, koloniale Kulturgüter und die Hohenzollern. Wie würden Sie den Konflikt rund um die Hohenzollern zusammenfassen?
Schönberger: Die Gemengelage bei den Hohenzollern ist wahnsinnig kompliziert. Letztlich geht es um verschiedene Fragen: Was ist nach der Revolution 1918 passiert? Wie wurde staatliches Vermögen und Privatvermögen der ehemaligen Herrscher*innen auseinanderdividiert? Was steht den ehemaligen Monarch*innen aus dieser Auseinandersetzung heute noch zu? Zum anderen geht es um Enteignungen in der sowjetisch besetzten Zone zwischen 1945 und 1949, als dem ehemaligen deutschen Kronprinzen ein Teil des Vermögens, das seiner Familie nach der Revolution zugesprochen wurde, durch die sowjetische Besatzungsmacht wieder weggenommen wurde. Bei der Frage, ob heute ein Anspruch für diese Entschädigungen besteht, spielt wiederum eine dritte Frage eine Rolle: Hat der ehemalige Kronprinz einen Beitrag dazu geleistet, dass sich das Unrechtsregime des Nationalsozialismus etablieren konnte? Wenn das so ist, ist der Entschädigungsanspruch ausgeschlossen. Bei den Verhandlungen mit den Hohenzollern stehen also weite Teile der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts juristisch und moralisch zur Debatte.
Jan Böhmermann sprach 2019 in „Neo Magazin Royale“ über Georg Friedrich von Preußen und den Streit mit den Hohenzollern und verschaffte dem Thema Aufmerksamkeit unter jungen Menschen. Konnten Sie mitlachen?
Schönberger: Ich finde, er hat einen großen Beitrag geleistet, indem er dieses Thema in die Öffentlichkeit gebracht hat. Das macht er mit seinen Mitteln der Satire, die manchen besser gefällt als anderen. Aber selbst wenn ich nicht über alles lache, was Böhmermann macht, finde ich es großartig, dass er mit den Instrumenten, die er hat, das Schlaglicht der Öffentlichkeit auf solche Themen wirft.
Hey #prinzdumm! Israel Kaunatjike, der deutsche Sprecher der Herero, hat eine Botschaft für dich!
Und schau doch mal auf: https://t.co/CANT05h2xt! 😉 pic.twitter.com/LdcszGthSL— ZDF Magazin Royale (@zdfmagazin) November 14, 2019
In Ihrem Buch schreiben Sie von einer eher rechtsgeführten Glorifizierung der Vergangenheit im Gegensatz zu einer eher linksgeführten Wiedergutmachung der Vergangenheit. Wie meinen Sie das?
Schönberger: Es ist so, dass wir meiner Einschätzung nach heute in einer Zeit leben, die auf sehr unterschiedliche Weise sehr von der Vergangenheit besessen ist. Was uns eint, ist diese sehr starke Vergangenheitsfixierung, und was uns trennt, ist die Frage der Bewertung der Vergangenheit. Aus dem rechten Spektrum haben wir die nostalgische Einstellung, dass früher alles schöner war. In Westdeutschland haben wir eine große Nostalgie für die alte Bundesrepublik, wo wir kleine Räumlichkeiten hatten, halbwegs geschlossene Gesellschaften, überschaubare Verhältnisse. Das ist die Scheinvorstellung; wenn man näher hinguckt, war das nie wirklich so. Diese große Nostalgie äußert sich in Forderungen wie „Zurück zur D-Mark“, „Raus aus dem Euro“ oder „Grenzen wieder schließen“. Wir beobachten so etwas auch international bei Viktor Orbán, der wieder zum ungarischen Nationalstaat zurückwill, bei den Brexitbefürworter*innen, die Großbritannien wieder abschotten wollen, oder auch „Make America great again“ von Trump. Das sind alles Spielarten davon. Die politisch linke Seite des Spektrums ist ebenfalls von der Vergangenheit besessen, aber von den negativen Seiten, von der Unrechtsvergangenheit. Dieses Unrecht der Vergangenheit ist schwer auszuhalten, und es muss trotzdem damit umgegangen werden. Manchmal kippt das dann in Versuche, die Vergangenheit zu reparieren. Rückgaben sind ein häufiges Mittel dafür, um alles so wiederherzustellen, als wenn das Unrecht nicht geschehen wäre. Aber das ist eine gefährliche Utopie. Denn wenn ich versuche, die Gegenwart so zu ändern, als sei das Unrecht nicht geschehen, dann blende ich das Unrecht aus und kann nicht mehr daraus lernen. Das Problematische ist, dass aus entgegengesetzten politischen Richtungen mit völlig unterschiedlichen Intentionen diese jeweilige Art und Weise, mit der Vergangenheit umzugehen, gar nicht mehr so unterschiedlich ist, wie die Beteiligten es gerne hätten.
Wider das Vergessen
Lässt sich vergangenes Unrecht durch späte Rückgaben oder Geldzahlungen wiedergutmachen? Was muss, was soll, was kann zurückgegeben werden? Sophie Schönberger, Professorin für Öffentliches Recht, Kunst- und Kulturrecht, zeigt auf, wie wichtig es ist, dass wir uns mit unserer Vergangenheit auseinandersetzen.
Das Buch ist in der Edition Mercator im C.H.Beck Verlag erschienen.
Es ist unsere Aufgabe, jetzt etwas Gutes zu machen und nicht zu vergessen, was passiert ist
Gibt es gute Beispiele für Entschädigungen?
Schönberger: Ein tolles kleineres Projekt, das mir jetzt spontan einfällt, ist das der Staatsbibliothek in Hamburg. Hier gibt es einige Bücher, die auf verschlungenen Wegen in den Bestand gekommen sind und letztlich Raubgut von geflohenen jüdischen Mitbürger*innen sind. Dessen hat man sich angenommen, indem die ehemaligen Eigentümer*innen und ihre Nachfahr*innen ausfindig gemacht wurden. Einige haben die Bücher zurückgenommen, viele aber auch nicht. Und dann hat die Bibliothek die Bücher nicht einfach behalten, sondern in jedes dieser Bücher ein Einlegeblatt vorne eingeklebt, auf dem die Verfolgungsgeschichte der ehemaligen Eigentümer*innen dokumentiert ist. Jetzt kann jeder Besucherin, jedem Besucher der Hamburger Stabi durch Zufall so ein Buch in die Hand fallen. Es wird ein Statement gesetzt: Nein, Vergangenes ist nicht vergessen. Unser ganzes System, wie wir es heute kennen, beruht auf diesem historischen Unrecht. Und es ist unsere Aufgabe, damit jetzt etwas Gutes zu machen und nicht zu vergessen, was passiert ist.
Edition Mercator
Die Stiftung Mercator gibt gemeinsam mit dem Verlag C.H.Beck die Buchreihe Edition Mercator heraus. Renommierte Autor*innen greifen darin aktuelle wissenschaftliche Themen von hoher gesellschaftlicher Relevanz auf und denken diese weiter. Die Bücher sollen dazu einladen, einen Zugang zu der öffentlichen Diskussion zu finden.
Edition Mercator im C.H.Beck Verlag