„Wir brauchen Europa mehr denn je“
Kommt der Rechtsruck oder nicht? Die Lage vor der EU-Wahl Anfang Juni ist angespannt. Anlässlich des Europatages am 9. Mai sprachen wir mit der Mercator-Kolleg-Absolventin Lucie Haupenthal, die das EU-Wahlprogramm der SPD mitverfasst hat.
Ein strahlender Frühlingshimmel liegt über der SPD-Zentrale am Halleschen Tor in Berlin. In den bläulichen Scheiben des dreieckigen Gebäudes spiegelt sich die viel befahrene Kreuzung. Drei Bezirke grenzen hier aneinander: Mitte, Kreuzberg und Schöneberg. „Wir treffen uns hinten in der Passage, nicht vorne an der Spitze“, beschreibt Lucie Haupenthal den Weg zum richtigen Eingang des Willy-Brandt-Hauses. Die 31-jährige Mercator-Kolleg-Absolventin ist seit knapp einem Jahr Referentin im Internationalen Sekretariat der SPD. In den vergangenen Monaten schrieb sie das EU-Wahlprogramm für die Sozialdemokrat*innen mit – in einer Zeit, in der die Demokratie unter immensem Druck stand. Wie blickt sie auf die kommende EU-Wahl, auf Europas zukünftige Rolle in der Welt?
50 Seiten Demokratie
„Eigentlich hätte ich heute rot tragen sollen“, scherzt Lucie Haupenthal, als sie in einer grünen Hose die Treppe herunterkommt. Hier, im Atrium des Willy-Brandt-Hauses, liegt nicht nur die Historie politischer Diskurse in der Luft. Man bekommt auch ein Gefühl für die zentralen Themen unserer Zeit: Zusammenhalt, Respekt und Klimagerechtigkeit. Das Gebäude steht der Öffentlichkeit zur Verfügung, immer wieder treffen wir hier Besucher*innen der vielen kostenlosen Ausstellungen. Doch für das Gespräch geht es nach oben, in Lucie Haupenthals Büro in der 6. Etage. Wer einen Blick hinter die politische Kulisse werfen darf, merkt schnell: Der Alltag der Mitarbeiter*innen ist von Spontanität und einem lebendigen Miteinander zwischen Tür und Angel geprägt. In den Fluren wird viel gegrüßt, alle sind per Du. Angekommen im obersten Stockwerk, sprechen wir über das Europawahljahr, Lucie Haupenthals neuen Beruf und nicht zuletzt über die Zukunft der Demokratie.
Lucie Haupenthal arbeitet im Internationalen Sekretariat der SPD mit den Schwerpunkten Europa, Sicherheit und Verteidigung. Davor war sie Leiterin der Kampagnenarbeit des European Council on Foreign Relations (ECFR) und verantwortlich für die Entwicklung von Kampagnenstrategien und die Koordinierung der Advocacy-Prioritäten innerhalb der Organisation. Lucie Haupenthal ist Absolventin des Mercator Kollegs und arbeitete zur EU-NATO-Kooperation am Beispiel der Sicherheit im Mittelmeerraum in der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland bei der EU, beim Allied Command Transformation der NATO und im Libyen-Projekt des International Centre for Migration Policy Development.
„Du sammelst als Erstes Bausteine von den Brüsseler Abgeordneten im Europaparlament. Dazu kommt Material von Verbänden, vom Gewerkschaftsbund, von Thinktanks“, erklärt Lucie Haupenthal die Erstellung des Parteiwahlprogramms. „Und wir versuchen, daraus einen ersten kohärenten Text zu schreiben.“ Insgesamt 50 Seiten seien es für die Europawahl 2024 geworden, berichtet sie, während wir gemeinsam ihren Schreibtisch in einem Eckbüro in Augenschein nehmen. Seit Abgabe des Programms ist wieder mehr Zeit für andere Themen wie die Vorbereitung der Münchner Sicherheitskonferenz oder die Organisation von Veranstaltungen gegen Rechtsextremismus. Der persönliche Dankesbrief des türkischen Parteivorsitzenden liegt auch auf ihrem Tisch. „Ihn haben wir zum Bundesparteitag eingeladen, und ich habe seine Delegation begleitet“, erzählt sie.
Lucie Haupenthal ist in ihrem Element, das merkt man. „Politik hat mich schon immer gereizt“, sagt die studierte Politikwissenschaftlerin auf dem Weg zum Nachbarbüro. „Es ist einfach etwas Besonderes, dieses Aushandeln der Prozesse live mitzuerleben.“ Vor einigen Monaten arbeitete sie noch bei einem politischen Thinktank, also auf der Ideengeberseite des Wahlprogramms. Als Absolventin des Mercator Kollegs kam plötzlich alles anders: „Ich wurde von einem Büroleiter hier aus dem Haus angerufen – ein Mercator-Kontakt: ob ich mir nicht vorstellen könne, mich auf die Referentenstelle zu bewerben.“ Nach Kollegstationen bei der NATO, der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland bei der EU und einer spontanen Verlegung nach Tunesien wartete also gleich die nächste unbekannte Situation. Kein Problem, wie Lucie Haupenthal sagt. Sie mag es so, der Herausforderung wegen.
Außenpolitik greifbar machen
Als politische Herausforderung steht nun der drohende Rechtsruck der EU im Raum. Wer sich für ein starkes Europa und eine hohe Wahlbeteiligung einsetzt, muss gleichzeitig mit den zunehmenden Stimmen gegen demokratische EU-Institutionen umgehen. Außenpolitik sei kein Elitenkonsensus mehr, sagt Lucie Haupenthal dazu. „Die Leute mischen sich heute ein, und die Europawahl ist deswegen keine Nebenwahl mehr.“ Die Skepsis gegenüber den großen Institutionen, der Demokratie und dem Konstrukt Europa rechnet sie insbesondere den komplexen außenpolitischen Entscheidungen zu: „Das Schwierige an meinen Themen ist, dass Außenpolitik wenig greifbar ist. Für dich und mich ist vollkommen klar, dass wir Europa brauchen. Aber wie kann man das für die Allgemeinheit runterbrechen?“ Beim Wahlprogramm und beim direkten Kontakt zu den Menschen sieht Lucie Haupenthal den Schlüssel zum Erfolg darin, bei der individuellen Perspektive anzufangen. „Du nimmst ein Problem mit direktem Bezug zur Person, zum Beispiel die Arzneimittelknappheit. Du fragst: Woran liegt das? Und dann bist du ganz schnell bei den großen Fragen.“ Menschen auf diese Weise für die Demokratie und für Europa begeistern zu können, sei eines ihrer Erfolgsrezepte.
Erneut geht es durchs Willy-Brandt-Haus, zum Abschluss in den großen Konferenzraum mit Blick nach daußen, über Berlin. Am ovalen Konferenztisch mit Ledersesseln werden die offiziellen Meetings abgehalten, die großen Dinge entschieden. Hier klingen besorgtere Töne an, was die Zukunft der europäischen Demokratie angeht: „Man kann sich zwar beschweren, wenn man das Gefühl hat, dass die Politiker*innen es nicht hinkriegen. Aber die fehlende Bereitschaft, selbst etwas zu tun – das macht mir Angst“, sagt Lucie Haupenthal. Die europäische Demokratie eigenverantwortlich anzuschieben, werde deshalb immer wichtiger – auch wenn viele den Impuls verspürten, sich in ihr Schneckenhaus zurückzuziehen. Als überzeugte Europäerin sagt sie: „Wir brauchen Europa in dieser unsicheren Welt mehr denn je.“
Mercator Kolleg
Das Mercator Kolleg für internationale Aufgaben ist ein gemeinsames Projekt der Studienstiftung des deutschen Volkes und der Stiftung Mercator. Seit 15 Jahren fördert es jährlich engagierte deutschsprachige Hochschulabsolvent*innen und junge Berufstätige aller Fachrichtungen, die für unsere Welt von morgen Verantwortung übernehmen.
Ab 2025 werden erstmalig jährlich 20 Stipendien an berufserfahrene Changemaker*innen, Transfermeister*innen und Strategieentwickler*innen aller Fachbereiche und Branchen vergeben.
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