„Wir brauchen Europa mehr denn je“

Gäste des Willy-Brandt-Hauses werden mit sozialdemokratischen Werten in Empfang genommen.
„Wir brauchen Europa mehr denn je“
Autor: Felix Jung Fotos: Stefanie Loos 09.05.2024

Kommt der Rechtsruck oder nicht? Die Lage vor der EU-Wahl Anfang Juni ist angespannt. Anlässlich des Europatages am 9. Mai sprachen wir mit der Mercator-Kolleg-Absolventin Lucie Haupenthal, die das EU-Wahlprogramm der SPD mitverfasst hat.

Ein strahlender Frühlingshimmel liegt über der SPD-Zentrale am Halleschen Tor in Berlin. In den bläulichen Scheiben des dreieckigen Gebäudes spiegelt sich die viel befahrene Kreuzung. Drei Bezirke grenzen hier aneinander: Mitte, Kreuzberg und Schöneberg. „Wir treffen uns hinten in der Passage, nicht vorne an der Spitze“, beschreibt Lucie Haupenthal den Weg zum richtigen Eingang des Willy-Brandt-Hauses. Die 31-jährige Mercator-Kolleg-Absolventin ist seit knapp einem Jahr Referentin im Inter­nationalen Sekretariat der SPD. In den vergangenen Monaten schrieb sie das EU-Wahl­programm für die Sozial­demokrat*innen mit – in einer Zeit, in der die Demokratie unter immensem Druck stand. Wie blickt sie auf die kommende EU-Wahl, auf Europas zukünftige Rolle in der Welt?

50 Seiten Demokratie

„Eigentlich hätte ich heute rot tragen sollen“, scherzt Lucie Haupenthal, als sie in einer grünen Hose die Treppe herunter­kommt. Hier, im Atrium des Willy-Brandt-Hauses, liegt nicht nur die Historie politischer Diskurse in der Luft. Man bekommt auch ein Gefühl für die zentralen Themen unserer Zeit: Zusammen­halt, Respekt und Klima­gerechtig­keit. Das Gebäude steht der Öffentlichkeit zur Verfügung, immer wieder treffen wir hier Besucher*innen der vielen kosten­losen Ausstellungen. Doch für das Gespräch geht es nach oben, in Lucie Haupenthals Büro in der 6. Etage. Wer einen Blick hinter die politische Kulisse werfen darf, merkt schnell: Der Alltag der Mitarbeiter*innen ist von Spontanität und einem lebendigen Miteinander zwischen Tür und Angel geprägt. In den Fluren wird viel gegrüßt, alle sind per Du. Angekommen im obersten Stockwerk, sprechen wir über das Europa­wahl­jahr, Lucie Haupenthals neuen Beruf und nicht zuletzt über die Zukunft der Demokratie.

Lucie Haupenthal
© Stefanie Loos

Lucie Haupenthal arbeitet im Internationalen Sekretariat der SPD mit den Schwer­punkten Europa, Sicherheit und Verteidigung. Davor war sie Leiterin der Kampagnen­arbeit des European Council on Foreign Relations (ECFR) und verantwortlich für die Entwicklung von Kampagnen­strategien und die Koordinierung der Advocacy-Prioritäten innerhalb der Organisation. Lucie Haupenthal ist Absolventin des Mercator Kollegs und arbeitete zur EU-NATO-Kooperation am Beispiel der Sicherheit im Mittel­meer­raum in der Ständigen Vertretung der Bundes­republik Deutschland bei der EU, beim Allied Command Transformation der NATO und im Libyen-Projekt des International Centre for Migration Policy Development.

„Du sammelst als Erstes Bausteine von den Brüsseler Abgeordneten im Europa­parlament. Dazu kommt Material von Verbänden, vom Gewerkschafts­bund, von Thinktanks“, erklärt Lucie Haupenthal die Erstellung des Parteiwahl­programms. „Und wir versuchen, daraus einen ersten kohärenten Text zu schreiben.“ Insgesamt 50 Seiten seien es für die Europawahl 2024 geworden, berichtet sie, während wir gemeinsam ihren Schreib­tisch in einem Eckbüro in Augen­schein nehmen. Seit Abgabe des Programms ist wieder mehr Zeit für andere Themen wie die Vorbereitung der Münchner Sicherheits­konferenz oder die Organisation von Veranstaltungen gegen Rechts­extremismus. Der persönliche Dankesbrief des türkischen Partei­vorsitzenden liegt auch auf ihrem Tisch. „Ihn haben wir zum Bundespartei­tag eingeladen, und ich habe seine Delegation begleitet“, erzählt sie.

Sozialdemokratie damals und heute - Lucie Haupenthal mit Willy Brandts Statue.
Sozialdemokratie damals und heute - Lucie Haupenthal mit Willy Brandts Statue. © Stefanie Loos
Nicht nur im Hinterkopf, sondern auch auf dem Schreibtisch: die Zukunft Europas.
Nicht nur im Hinter­kopf, sondern auch auf dem Schreib­tisch: die Zukunft Europas. © Stefanie Loos
Lucie Haupenthal im großen Konferenzzimmer der SPD-Zentrale.
Lucie Haupenthal im großen Konferenz­zimmer der SPD-Zentrale. © Stefanie Loos

Lucie Haupenthal ist in ihrem Element, das merkt man. „Politik hat mich schon immer gereizt“, sagt die studierte Politik­wissenschaftlerin auf dem Weg zum Nachbar­büro. „Es ist einfach etwas Besonderes, dieses Aushandeln der Prozesse live mit­zu­erleben.“ Vor einigen Monaten arbeitete sie noch bei einem politischen Thinktank, also auf der Ideen­geber­seite des Wahl­programms. Als Absolventin des Mercator Kollegs kam plötzlich alles anders: „Ich wurde von einem Büro­leiter hier aus dem Haus angerufen – ein Mercator-Kontakt: ob ich mir nicht vorstellen könne, mich auf die Referenten­stelle zu bewerben.“ Nach Kolleg­stationen bei der NATO, der Ständigen Vertretung der Bundes­republik Deutschland bei der EU und einer spontanen Verlegung nach Tunesien wartete also gleich die nächste unbekannte Situation. Kein Problem, wie Lucie Haupenthal sagt. Sie mag es so, der Heraus­forderung wegen.

Außenpolitik greifbar machen

Als politische Herausforderung steht nun der drohende Rechts­ruck der EU im Raum. Wer sich für ein starkes Europa und eine hohe Wahl­beteiligung einsetzt, muss gleich­zeitig mit den zunehmenden Stimmen gegen demokratische EU-Institutionen umgehen. Außen­politik sei kein Eliten­konsensus mehr, sagt Lucie Haupenthal dazu. „Die Leute mischen sich heute ein, und die Europawahl ist deswegen keine Nebenwahl mehr.“ Die Skepsis gegen­über den großen Institutionen, der Demokratie und dem Konstrukt Europa rechnet sie insbesondere den komplexen außenpolitischen Entscheidungen zu: „Das Schwierige an meinen Themen ist, dass Außenpolitik wenig greifbar ist. Für dich und mich ist vollkommen klar, dass wir Europa brauchen. Aber wie kann man das für die Allgemeinheit runter­brechen?“ Beim Wahl­programm und beim direkten Kontakt zu den Menschen sieht Lucie Haupenthal den Schlüssel zum Erfolg darin, bei der individuellen Perspektive anzufangen. „Du nimmst ein Problem mit direktem Bezug zur Person, zum Beispiel die Arznei­mittel­knappheit. Du fragst: Woran liegt das? Und dann bist du ganz schnell bei den großen Fragen.“ Menschen auf diese Weise für die Demokratie und für Europa begeistern zu können, sei eines ihrer Erfolgs­rezepte.

Erneut geht es durchs Willy-Brandt-Haus, zum Abschluss in den großen Konferenz­raum mit Blick nach daußen, über Berlin. Am ovalen Konferenztisch mit Leder­sesseln werden die offiziellen Meetings abgehalten, die großen Dinge entschieden. Hier klingen besorgtere Töne an, was die Zukunft der europäischen Demokratie angeht: „Man kann sich zwar beschweren, wenn man das Gefühl hat, dass die Politiker*innen es nicht hinkriegen. Aber die fehlende Bereitschaft, selbst etwas zu tun – das macht mir Angst“, sagt Lucie Haupenthal. Die europäische Demokratie eigenverantwortlich anzuschieben, werde deshalb immer wichtiger – auch wenn viele den Impuls verspürten, sich in ihr Schneckenhaus zurückzuziehen. Als überzeugte Europäerin sagt sie: „Wir brauchen Europa in dieser unsicheren Welt mehr denn je.“


Mercator Kolleg

Das Mercator Kolleg für internationale Aufgaben ist ein gemeinsames Projekt der Studien­stiftung des deutschen Volkes und der Stiftung Mercator. Seit 15 Jahren fördert es jährlich engagierte deutsch­sprachige Hoch­schul­absolvent*innen und junge Berufs­tätige aller Fach­richtungen, die für unsere Welt von morgen Verantwortung übernehmen.
Ab 2025 werden erstmalig jährlich 20 Stipendien an berufs­erfahrene Change­maker*innen, Transfer­meister*innen und Strategie­entwickler*innen aller Fach­bereiche und Branchen vergeben.
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