So faszinierend ist Europas Demokratie­geschichte

altgriechischer Tempel
So faszinierend ist Europas Demokratie­geschichte
Autor: Marcel Grzanna 26.10.2023

Der britische Historiker und Direktor der Dahrendorf Programme der Oxford University, Timothy Garton Ash, mahnt die Europäer*innen, sich auf ihre lange Demokratiegeschichte nicht zu viel einzubilden. Freiheit müsse auch heute immer wieder aufs Neue erkämpft werden.

Professor Garton Ash, Europa ist die Wiege der Demokratie. Liegt uns Europäer*innen der Drang nach Freiheit mehr im Blut als Menschen anderer Kontinente?

Zweifellos prägt die lange Demokratie­geschichte des Kontinents – vom antiken Griechenland über das Römische Reich bis zu den italienischen Stadt­staaten des Mittel­alters – auch seine Bewohner*innen. Wir sollten uns aber davor hüten, uns selbst zu beglück­wünschen. Denn der amerikanische Beitrag ist enorm. Die USA sind die Wiege der modernen Demokratie.

Viele Menschen in europäischen Staaten betrachten Demokratie als Selbst­verständlichkeit.

Freiheit muss immer erkämpft werden, auch in etablierten liberalen Demokratien. Diese Lektion haben uns spätestens Donald Trump und die europäischen Populist*innen gelehrt. Die Bürger*innen müssen sich ständig mit einbringen und dabei helfen, die Freiheiten, die wir haben, zu verteidigen.

Timothy Garton Ash
© Getty Images

Timothy Garton Ash ist ein britischer Historiker, Publizist und Schrift­steller. Sein Forschungs­schwer­punkt ist die Gegenwarts­geschichte Europas seit 1945. Er ist Professor für Europäische Studien an der Universität Oxford, Senior Fellow an der Hoover Institution der Stanford University und lebt in Oxford.

Welche Etappen europäischer Demokratiegeschichte haben tiefe Spuren hinter­lassen?

Als ich mein Buch „Rede­freiheit“ geschrieben habe, habe ich mich intensiv mit dem Athen 500 Jahre vor Christi Geburt beschäftigt. Ich wurde während der Recherchen daran erinnert, wie außer­gewöhnlich dieser Moment in der Geschichte war. Aus Jahr­tausenden mit Herrschafts­formen, die wir heute als Autoritarismus bezeichnen würden, ging plötzlich, wie aus dem Nichts, die Essenz der Demokratie hervor. Es war eine deliberative Demokratie, in der Bürger – allerdings nur Männer mit einem bestimmten sozialen Status – über öffentliche Diskurse und Beratungen an Entscheidungs­prozessen teilnahmen. Und die waren untrennbar mit der Rede­freiheit verbunden. Die Menschen trafen sich, um zu debattieren.

Deliberative Demokratie

Das Adjektiv „deliberativ“ kommt vom lateinischen deliberatio und bedeutet Beratschlagung oder Über­legung. Die deliberative Demokratie ist also die beratende, überlegte, Diskurse verhandelnde Demokratie. Sie betont die Teilhabe der Bürger*innen am jeweiligen Entscheidungs­prozess. Und auch die Offenheit und Transparenz, mit der alle politischen Themen verhandelt werden.

Die Kernidee der deliberativen Demokratie ist, dass durch Austausch von Argumenten Verständigung oder Konsens erzielt werden kann. So sind Lösungen möglich, die sachlich, vernünftig und moralisch richtig sind. Grund­voraus­setzung ist natürlich die Bereitschaft der Bürger*innen zur Teilhabe.

Wird die Europäische Union diesem Vorbild gerecht?

Es gehört zu den großen Problemen der europäischen Demokratie, dass sie nicht vollständig deliberativ ist. Europäische Politik wird in der jeweiligen Landes­sprache der 27 Mitglieds­staaten über nationale Medien gemacht, sodass wir nicht wirklich von einer „europäischen Öffentlichkeit“ im Sinne von Jürgen Habermas sprechen können. Daraus ergibt sich ein Mangel. Dennoch ist es völlig angemessen, von der EU als einer demokratischen Gemeinschaft zu sprechen. Sie ist etwas Einzigartiges, das es in der Geschichte noch nie gegeben hat.

Auf welche Vorbilder stützt sie sich?

Das Modell, das die Menschen bei der Schaffung der EU im Kopf hatten, sind die nationalen Demokratien des 20. Jahr­hunderts wie die der Vereinigten Staaten, Groß­britanniens, Frankreichs oder auch Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg. Das führt aber dazu, dass die Bürger*innen die EU mit einer modernen national­staatlichen Demokratie des 20. Jahr­hunderts vergleichen. Aber es ist ein konzeptioneller Fehler, sie an diesem Maßstab zu messen.

Haben wir denn kein Demokratie­defizit in der EU, so wie es ihre Kritiker*innen behaupten?

Es gibt sehr wohl das Problem, dass nicht mehr alle EU-Mitglieds­staaten Demokratien sind, beispielsweise Ungarn. Auf EU-Ebene gibt es eher ein Problem der Perzeption, wenn die Europäer*innen sich durch das Europäische Parlament, den EU-Rat oder die EU-Kommission nicht repräsentiert sehen.

Perzeption ist das Resultat von Kommunikation. Weshalb reden Politiker*innen und Bürger*innen trotz langer Demokratie­erfahrung in Europa offenbar aneinander vorbei?

Das dürfen sich beide Seiten ankreiden. Viele meiner Studierenden, aber auch junge Europäer*innen, mit denen wir gesprochen haben, glauben, dass die Welt von supra­nationalen Konzernen aus der Pharma- oder der Tech-Industrie regiert wird, die nicht unter der effektiven Kontrolle eines Parlaments stehen. Das mag eine Über­treibung sein, aber natürlich haben die jungen Leute damit nicht ganz unrecht. Die Frage ist, wer der Souverän über die Googles und Facebooks ist. Wir haben definitiv dieses Problem. Aber es ist doch eines der stärksten Argumente für die EU, dass sie den Souverän tatsächlich skaliert.

Demonstration in Washington, D.C.
Die Redefreiheit ist eng verknüpft mit der Versammlungs­freiheit – welche diese Demonstrant*innen in Washington, D.C. wahr­nehmen. © unsplash

Das bedeutet, dass eine Demokratie ihre Glaub­würdigkeit nur durch eine große Machtfülle wahrt?

Immanuel Kant sagte: Was wir brauchen, ist eine Welt­bürger­gesellschaft. Wir könnten sogar hinzufügen: mit einer Weltregierung. Weil wir riesige globale Heraus­forderungen haben, brauchen wir starke globale Governance-Strukturen. Die EU bildet einen Baustein für diese Strukturen.

altgriechischer Tempel
Der Erechtheion ist ein Tempel auf der Akropolis in Athen, erbaut etwa zwischen 420 und 406 Jahre vor Christi Geburt. Das war damals die Geburts­stunde der Redefreiheit in Griechenlands Hauptstadt. Ash: „Das war damals ein außer­gewöhnlicher Moment in der Geschichte. Die Menschen trafen sich, um zu debattieren. Bürger – allerdings nur Männer mit einem bestimmten sozialen Status – nahmen über öffentliche Diskurse und Beratungen an Entscheidungs­prozessen teil.“ © stocksy

Was können die Demokrat*innen von heute von den demokratischen Vordenkern der Antike lernen?

Ich glaube nicht, dass das bipolare Gerede von einem Wettbewerb zwischen Demokratie und Autokratie besonders hilf­reich ist. Länder wie Indien, die Türkei, Brasilien oder Südafrika sagen uns, dass sie nicht zu einer bipolaren Welt zurück­kehren wollen.

Wie lassen sich Menschen davon überzeugen, dass eine Demokratie eine gute Wahl ist.

Der altgriechische Staatsmann Perikles hat vor 2500 Jahren eine mögliche Antwort darauf gegeben: Das Geheimnis des Glücks ist die Freiheit, und das Geheimnis der Freiheit ist der Mut. Ich finde, das ist immer noch eine ziemlich gute Antwort. Eine andere Antwort, die nicht unbedingt im 5. Jahrhundert vor Christus in Athen gegeben worden wäre, ist die des indischen Ökonomen Amartya Sen: Entwicklung als Freiheit. Die Idee dahinter ist eine symbiotische Beziehung: Es braucht Freiheit, damit ein Land sich entwickeln kann, und Entwicklung ermöglicht individuelle Freiheit.

Nun kommen allerdings Staaten wie China, die sagen, dass sie den Bürger*innen ein besseres Modell anbieten, was wir als entwicklungs­politischen Autoritarismus bezeichnen könnten. Deswegen müssen Demokratien jetzt beweisen, dass ihr Modell gemessen an den Kriterien der Entwicklung im weitesten Sinne besser abschneidet. Ein guter Anfang wäre es, etwas gegen die riesigen Ungleichheiten in unseren eigenen demokratischen Gesellschaften zu tun, die seit der Finanz­krise 2008 so groß geworden sind wie nie zuvor.

Dahrendorf Programme zur Rolle der EU in der Welt

Der britische Historiker Timothy Garton Ash untersucht als Direktor der Dahrendorf Programme an der Oxford University die Beziehungen und die gegen­seitige Wahr­nehmung von Europa und außer­europäischen Ländern, die in der sich verändernden inter­nationalen Ordnung des 21. Jahrhunderts eine besondere Rolle einnehmen. Es entsteht ein weltweites „Dahrendorf-Netzwerk“ aus erfahrenen Wissenschaftler*innen und jungen Akademiker*innen, das Europas Rolle in der Welt aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet.

www.sant.ox.ac.uk/dahrendorf-programme