So faszinierend ist Europas Demokratiegeschichte
Der britische Historiker und Direktor der Dahrendorf Programme der Oxford University, Timothy Garton Ash, mahnt die Europäer*innen, sich auf ihre lange Demokratiegeschichte nicht zu viel einzubilden. Freiheit müsse auch heute immer wieder aufs Neue erkämpft werden.
Professor Garton Ash, Europa ist die Wiege der Demokratie. Liegt uns Europäer*innen der Drang nach Freiheit mehr im Blut als Menschen anderer Kontinente?
Zweifellos prägt die lange Demokratiegeschichte des Kontinents – vom antiken Griechenland über das Römische Reich bis zu den italienischen Stadtstaaten des Mittelalters – auch seine Bewohner*innen. Wir sollten uns aber davor hüten, uns selbst zu beglückwünschen. Denn der amerikanische Beitrag ist enorm. Die USA sind die Wiege der modernen Demokratie.
Viele Menschen in europäischen Staaten betrachten Demokratie als Selbstverständlichkeit.
Freiheit muss immer erkämpft werden, auch in etablierten liberalen Demokratien. Diese Lektion haben uns spätestens Donald Trump und die europäischen Populist*innen gelehrt. Die Bürger*innen müssen sich ständig mit einbringen und dabei helfen, die Freiheiten, die wir haben, zu verteidigen.
Timothy Garton Ash ist ein britischer Historiker, Publizist und Schriftsteller. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Gegenwartsgeschichte Europas seit 1945. Er ist Professor für Europäische Studien an der Universität Oxford, Senior Fellow an der Hoover Institution der Stanford University und lebt in Oxford.
Welche Etappen europäischer Demokratiegeschichte haben tiefe Spuren hinterlassen?
Als ich mein Buch „Redefreiheit“ geschrieben habe, habe ich mich intensiv mit dem Athen 500 Jahre vor Christi Geburt beschäftigt. Ich wurde während der Recherchen daran erinnert, wie außergewöhnlich dieser Moment in der Geschichte war. Aus Jahrtausenden mit Herrschaftsformen, die wir heute als Autoritarismus bezeichnen würden, ging plötzlich, wie aus dem Nichts, die Essenz der Demokratie hervor. Es war eine deliberative Demokratie, in der Bürger – allerdings nur Männer mit einem bestimmten sozialen Status – über öffentliche Diskurse und Beratungen an Entscheidungsprozessen teilnahmen. Und die waren untrennbar mit der Redefreiheit verbunden. Die Menschen trafen sich, um zu debattieren.
Deliberative Demokratie
Das Adjektiv „deliberativ“ kommt vom lateinischen deliberatio und bedeutet Beratschlagung oder Überlegung. Die deliberative Demokratie ist also die beratende, überlegte, Diskurse verhandelnde Demokratie. Sie betont die Teilhabe der Bürger*innen am jeweiligen Entscheidungsprozess. Und auch die Offenheit und Transparenz, mit der alle politischen Themen verhandelt werden.
Die Kernidee der deliberativen Demokratie ist, dass durch Austausch von Argumenten Verständigung oder Konsens erzielt werden kann. So sind Lösungen möglich, die sachlich, vernünftig und moralisch richtig sind. Grundvoraussetzung ist natürlich die Bereitschaft der Bürger*innen zur Teilhabe.
Wird die Europäische Union diesem Vorbild gerecht?
Es gehört zu den großen Problemen der europäischen Demokratie, dass sie nicht vollständig deliberativ ist. Europäische Politik wird in der jeweiligen Landessprache der 27 Mitgliedsstaaten über nationale Medien gemacht, sodass wir nicht wirklich von einer „europäischen Öffentlichkeit“ im Sinne von Jürgen Habermas sprechen können. Daraus ergibt sich ein Mangel. Dennoch ist es völlig angemessen, von der EU als einer demokratischen Gemeinschaft zu sprechen. Sie ist etwas Einzigartiges, das es in der Geschichte noch nie gegeben hat.
Auf welche Vorbilder stützt sie sich?
Das Modell, das die Menschen bei der Schaffung der EU im Kopf hatten, sind die nationalen Demokratien des 20. Jahrhunderts wie die der Vereinigten Staaten, Großbritanniens, Frankreichs oder auch Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg. Das führt aber dazu, dass die Bürger*innen die EU mit einer modernen nationalstaatlichen Demokratie des 20. Jahrhunderts vergleichen. Aber es ist ein konzeptioneller Fehler, sie an diesem Maßstab zu messen.
Haben wir denn kein Demokratiedefizit in der EU, so wie es ihre Kritiker*innen behaupten?
Es gibt sehr wohl das Problem, dass nicht mehr alle EU-Mitgliedsstaaten Demokratien sind, beispielsweise Ungarn. Auf EU-Ebene gibt es eher ein Problem der Perzeption, wenn die Europäer*innen sich durch das Europäische Parlament, den EU-Rat oder die EU-Kommission nicht repräsentiert sehen.
Perzeption ist das Resultat von Kommunikation. Weshalb reden Politiker*innen und Bürger*innen trotz langer Demokratieerfahrung in Europa offenbar aneinander vorbei?
Das dürfen sich beide Seiten ankreiden. Viele meiner Studierenden, aber auch junge Europäer*innen, mit denen wir gesprochen haben, glauben, dass die Welt von supranationalen Konzernen aus der Pharma- oder der Tech-Industrie regiert wird, die nicht unter der effektiven Kontrolle eines Parlaments stehen. Das mag eine Übertreibung sein, aber natürlich haben die jungen Leute damit nicht ganz unrecht. Die Frage ist, wer der Souverän über die Googles und Facebooks ist. Wir haben definitiv dieses Problem. Aber es ist doch eines der stärksten Argumente für die EU, dass sie den Souverän tatsächlich skaliert.
Das bedeutet, dass eine Demokratie ihre Glaubwürdigkeit nur durch eine große Machtfülle wahrt?
Immanuel Kant sagte: Was wir brauchen, ist eine Weltbürgergesellschaft. Wir könnten sogar hinzufügen: mit einer Weltregierung. Weil wir riesige globale Herausforderungen haben, brauchen wir starke globale Governance-Strukturen. Die EU bildet einen Baustein für diese Strukturen.
Was können die Demokrat*innen von heute von den demokratischen Vordenkern der Antike lernen?
Ich glaube nicht, dass das bipolare Gerede von einem Wettbewerb zwischen Demokratie und Autokratie besonders hilfreich ist. Länder wie Indien, die Türkei, Brasilien oder Südafrika sagen uns, dass sie nicht zu einer bipolaren Welt zurückkehren wollen.
Wie lassen sich Menschen davon überzeugen, dass eine Demokratie eine gute Wahl ist.
Der altgriechische Staatsmann Perikles hat vor 2500 Jahren eine mögliche Antwort darauf gegeben: Das Geheimnis des Glücks ist die Freiheit, und das Geheimnis der Freiheit ist der Mut. Ich finde, das ist immer noch eine ziemlich gute Antwort. Eine andere Antwort, die nicht unbedingt im 5. Jahrhundert vor Christus in Athen gegeben worden wäre, ist die des indischen Ökonomen Amartya Sen: Entwicklung als Freiheit. Die Idee dahinter ist eine symbiotische Beziehung: Es braucht Freiheit, damit ein Land sich entwickeln kann, und Entwicklung ermöglicht individuelle Freiheit.
Nun kommen allerdings Staaten wie China, die sagen, dass sie den Bürger*innen ein besseres Modell anbieten, was wir als entwicklungspolitischen Autoritarismus bezeichnen könnten. Deswegen müssen Demokratien jetzt beweisen, dass ihr Modell gemessen an den Kriterien der Entwicklung im weitesten Sinne besser abschneidet. Ein guter Anfang wäre es, etwas gegen die riesigen Ungleichheiten in unseren eigenen demokratischen Gesellschaften zu tun, die seit der Finanzkrise 2008 so groß geworden sind wie nie zuvor.
Dahrendorf Programme zur Rolle der EU in der Welt
Der britische Historiker Timothy Garton Ash untersucht als Direktor der Dahrendorf Programme an der Oxford University die Beziehungen und die gegenseitige Wahrnehmung von Europa und außereuropäischen Ländern, die in der sich verändernden internationalen Ordnung des 21. Jahrhunderts eine besondere Rolle einnehmen. Es entsteht ein weltweites „Dahrendorf-Netzwerk“ aus erfahrenen Wissenschaftler*innen und jungen Akademiker*innen, das Europas Rolle in der Welt aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet.