Magie der türkisch-kurdischen Begegnung

Magie der türkisch-kurdischen Begegnung
Autorin: Anna E. Poth 02.05.2023

Obwohl ihr Direktor Hakan Altınay und Co-Leiter Osman Kavala von der türkischen Regierung 2017 inhaftiert worden sind, bringt die Istanbuler Boğaziçi European School of Politics weiter junge Türk*innen zusammen – darunter Anhänger*innen vom Oppositionsbündnis CHP und der Regierungspartei AKP. Der akademische Leiter Fikret Adaman und der Koordinator Kerem Mert İspir über ein respektvolles Miteinander und die politische Lage in der Türkei.

Im Vorfeld der Parlaments- und Präsidentschaftswahlen gab es im April Schüsse auf Parteizentralen der Opposition in Istanbul. Selbst der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan spricht von einer „Schicksalswahl“ am 14. Mai. Wie schätzen Sie die politische Situation in der Türkei ein?

Fikret Adaman: Die Türkei macht einen demokratischen Rückschritt. Im Jahr 2022 lag die Türkei im Rule of Law Index des World Justice Project auf dem 116. Platz von 140 Ländern. Diese Entwicklung müssen wir sehr ernst nehmen. Ich hoffe, dass die kommenden Wahlen dazu beitragen werden, diese politische Situation wieder umzukehren.

Die Boğaziçi European School of Politics (ESP) in Istanbul ist ein Ort, an dem europäische Werte vermittelt und politische Diskussionen geführt werden, an dem über Freiheit und Demokratie gesprochen wird. Sie beziehen klar Stellung gegen die Polarisierung in der Gesellschaft. Die Verhaftungen von Osman Kavala und Hakan Altınay haben Ihre Arbeit erschwert. Wie machen Sie trotz der politischen Repressionen weiter?

Fikret Adaman: Anfänglich waren wir Teil der Boğaziçi Üniversitesi (Bosporus-Universität). Doch aufgrund der politischen Repression mussten wir uns neu orientieren. Seit Januar 2021 agiert die Politik gegen die Autonomie der Universität. Wir haben unseren eigenen Verein gegründet, die Boğaziçi European School of Politics Association, und arbeiten mit dem Istanbuler Museum Arter zusammen. Dort können wir die Räumlichkeiten nutzen. Ehrlich gesagt tun wir das, was wir immer getan haben. Wir machen weiter, was wir bisher gemacht haben – nämlich junge Menschen mit unterschiedlichem politischen Hintergrund zusammenzubringen und einen Raum zu schaffen, um einander zuzuhören. Angesichts der hohen politischen Polarisierung im Land müssen wir sehr sensibel und vorsichtig sein. Sicher keine leichte Aufgabe, aber wir tun unser Bestes.

Fikret Adaman war Mercator-IPC Senior Fellow im Jahrgang 2021/22. Er ist Professor an der Boğaziçi-Universität. Zudem arbeitet er eng mit Akademiker*innen der Sabancı-Universität zusammen. Er ist seit Beginn an im akademischen Team der Boğaziçi European School of Politics tätig.

Kerem Mert İspir: Auch haben wir jetzt keine totale Immunität. Wir sind dem Innenministerium unterstellt. Wir arbeiten immer mit großer Vorsicht.

Nun leiden Sie nicht nur unter dem politischen Druck. Die Folgen der Erdbeben in der Türkei und in Syrien im Februar sind verheerend: Zehntausende Tote und Millionen obdachlose Menschen. Wie haben Sie auf das Unglück reagiert?

Fikret Adaman: Am zweiten Tag des Winterprogramms mit 24 Teilnehmer*innen passierte das schwere Erdbeben im Zentrum von Kahramanmaraş. Wir haben zugesehen, dass wir schnell durchkommen und alle wieder von Istanbul aus nach Hause fahren können.

Kerem Mert İspir

Kerem Mert İspir ist seit 2016 Koordinator der Boğaziçi European School of Politics in Istanbul. Zuvor war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politikwissenschaften und Internationale Beziehungen an der Boğaziçi-Universität.

Kerem Mert İspir: Nach dem Erdbeben haben zwei unserer Alumni aus Antalya und Istanbul gemeinsam Hilfe organisiert – der eine ist ein Regierungsmitarbeiter des Oppositionsbündnisses CHP und der andere ist von der Regierungspartei AKP. In unseren Evaluationsfragebögen wird immer deutlich, wie wichtig Empathie und Respekt den Teilnehmer*innen geworden ist. Eigentlich ist jede Gruppe voller Überraschungen. Manchmal ist es auch Magie. Es entstehen Freundschaften zwischen kurdischen und türkischen Nationalist*innen. Beispielsweise kommen sie am nächsten Tag zu uns und sagen, dass sie nicht schlafen konnten, weil sie bis vier Uhr morgens diskutiert haben.

An welche beeindruckenden Szenen erinnern Sie sich noch gerne?

Fikret Adaman: Auch wenn wir in unserem achttägigen Programm nur wenige Tage mit allen Teilnehmer*innen zusammen sind, sehen wir schon ihre Veränderungen. Manchmal entstehen Freundschaften, manche unterstützen unsere Arbeit seit vielen Jahren oder kommen nur mal vorbei, um „Hi“ zu sagen.

Wie wählen Sie die jungen Menschen aus, die bei diesem besonderen Austausch dabei sein dürfen?

Kerem Mert İspir: Jedes Jahr bekommen wir mehr als 1.000 Bewerbungen. Junge Leute wollen unser Programm absolvieren und kommen aus allen Regionen zu uns. Wir tun unser Bestes, um weitere Seminare zu organisieren und die jungen Menschen in Istanbul zusammenzubringen. Jede Gruppe setzen wir so zusammen, dass wir eine politische und geografische Vielfalt haben und möglichst gleich viele Männer und Frauen dabei sind. Es werden viele wichtige Themen wie Außenpolitik, Menschenrechte, Wählertrends und Genderfragen diskutiert. Namhafte Akademiker*innen der führenden türkischen Universitäten halten Vorträge.

Wie genau läuft das Programm ab?

Fikret Adaman: Unsere Teilnehmer*innen sind junge Führungskräfte, die in politischen Parteien und zivilgesellschaftlichen Organisationen arbeiten. Manche engagieren sich zudem sehr stark politisch oder gesellschaftlich. Auch Leute von Presseagenturen oder größeren Unternehmen sind manchmal dabei. Früher haben wir Politiker*innen eingeladen. Aufgrund der angespannten Lage machen wir das jetzt nicht mehr. Hakan Altınay hat immer eine sehr schöne Rede zu Beginn unseres Programms gehalten. Wir erklären den Teilnehmer*innen, dass es hier Grundregeln gibt, ganz egal wie verschieden wir sind. Grundregeln wie „Wir hören einander zu und provozieren nicht.“ Manchmal kann es in Diskussionen etwas lauter werden, dann greifen wir ein, aber das ist sehr selten. Im Laufe des Programms teilen wir die Leute in Gruppen auf. Sie arbeiten dann zu Themen, die wir ihnen vorgegeben haben. Sie diskutieren miteinander und bereiten Präsentationen vor. Aber das ist nur ein kleiner Teil. In diesem achttägigen Programm bieten wir mehr als zwanzig Vorträge an und arbeiten intensiv mit einem herausragenden akademischen Team zusammen.

Auch die Teilnehmer*innen des ESP-Winterprogramms sind junge Führungskräfte, die in politischen Parteien und zivilgesellschaftlichen Organisationen arbeiten. Im achttägigen Austausch wurden europäische Werte vermittelt und politische Diskussionen geführt – alles mit der Grundregel „Wir hören einander zu und provozieren nicht.“
Die Teilnehmer*innen des ESP-Winterprogramms sind junge Führungskräfte, die in politischen Parteien und zivilgesellschaftlichen Organisationen arbeiten. Im achttägigen Austausch wurden europäische Werte vermittelt und politische Diskussionen geführt – alles mit der Grundregel „Wir hören einander zu und provozieren nicht.“

Ihr Direktor Hakan Altınay ist von der türkischen Regierung inhaftiert worden, er kann also keine Rede mehr halten. Hat sich Ihre Arbeitsweise aufgrund der politischen Lage in den vergangenen Jahren geändert?

Kerem Mert İspir: Unser Programm hat sich schon verändert. Wir positionieren uns klar gegen die Polarisierung in unserer Gesellschaft und beziehen Stellung. Unser Land hat sich verändert, und die aktuellen Debatten sind größer und wichtiger als zuvor. Auch wenn wir immer aufpassen müssen, können wir sagen, dass wir einen großen Impact haben.

Hat die weltweite Pandemie Ihre Projektarbeit und damit Ihr Wirken erschwert?

Kerem Mert İspir: Wir organisieren unsere Alumni-Meetings als Onlinetreffen. Für unsere aktuellen Gruppen haben wir Treffen außerhalb der Gebäude organisiert, beispielsweise in einem großen Garten und in Kleingruppen. Wir brauchen den direkten Austausch, nur so können sich Menschen mit unterschiedlichsten Meinungen gegenseitig verstehen und aufeinander eingehen. Allerdings konnten wir in den vergangenen Jahren nicht nach Europa reisen. Das können wir erst jetzt wieder.

Schwere Erdbeben erschütterten Anfang Februar viele Städte und Dörfer in der Türkei – es traf auch die Stadt Kahramanmaraş schwer. Nach den Beben haben zwei Alumni der Boğaziçi European School of Politics trotz unterschiedlicher politischer Ausrichtung gemeinsam Hilfe organisiert.
Schwere Erdbeben erschütterten Anfang Februar viele Städte und Dörfer in der Türkei – es traf auch die Stadt Kahramanmaraş schwer. Nach den Beben haben zwei Alumni der Boğaziçi European School of Politics trotz unterschiedlicher politischer Ausrichtung gemeinsam Hilfe organisiert. © Getty Images

Sie fahren mit den Teilnehmer*innen zu den EU-Institutionen nach Straßburg oder nach Berlin. Was nehmen die jungen Menschen von den Reisen mit?

Fikret Adaman: Wir fahren einmal im Jahr mit einer Gruppe von fünf bis sechs Teilnehmer*innen nach Straßburg und besuchen das europäische Parlament. Mit einer weiteren Gruppe fahren wir nach Deutschland und verbringen eine Woche in Berlin. Für die jungen Leute ist es sehr inspirierend, das deutsche politische System kennenzulernen und mit Politiker*innen zu sprechen. Die Leute, die diese Trips zusammen gemacht haben, bilden eine deutlich bessere Gemeinschaft. Das empfinde ich als sehr wertvoll.

Kerem Mert İspir: Es ist immer bemerkenswert, wie unsere jungen Leute aus der Türkei auf die deutsche Erinnerungskultur zum Zweiten Weltkrieg reagieren. Sie berichten uns immer wieder, dass sie sich voller Respekt fragen, wie eine Nation so detailreich verschiedene Aspekte ihrer tragischen Vergangenheit aufgearbeitet hat und zudem vor den Verbrechen warnt. Manche unserer Teilnehmer*innen kommen mit dem Gefühl nach Deutschland, dass sie dort nicht willkommen sind. Es ist schön zu sehen, dass das nicht der Fall ist und sie feststellen können, dass einige türkische Zeitungen nicht immer die Wahrheit schreiben. In Deutschland sehen sie, dass die Meinungen und Ansichten junger Leute einen Wert haben. In der Türkei haben wir noch eine sehr hierarchische Struktur. Dieser Unterschied inspiriert sie sehr, auch in der Türkei ein besseres System zu schaffen.

Ich möchte weiterhin für eine bessere Zukunft in unserem Land kämpfen und natürlich Osman Kavala und Hakan Altınay in Freiheit sehen.

Fikret Adaman, Professor an der Boğaziçi-Universität

Was gibt Ihnen Mut, Ihre Programme im politisch angespannten Umfeld fortzuführen?

Kerem Mert İspir: Das ist eine schwierige Frage. Ich fühle mich verantwortlich für meine Tochter, unsere Freund*innen in Gefangenschaft und unser Heimatland. Ich möchte, dass wir wieder einen besseren Ort zum Leben haben. Unsere Gesellschaft verdient eine bessere Politik, eine bessere Gesundheitsversorgung, eine bessere Zukunft.

Fikret Adaman: Ich bin schon von Anfang an im Team der Boğaziçi European School of Politics dabei. Es war immer herausfordernd und ein Risiko, wenn wir Teilnehmer*innen mit so unterschiedlichen Ansichten zusammengebracht haben. Hakan Altınay und Osman Kavala haben ein wundervolles Team zusammengestellt. Auch ich möchte mich weiterhin für eine bessere Zukunft in unserem Land einsetzen und natürlich Osman und Hakan in Freiheit sehen.


Boğaziçi European School of Politics

Die Boğaziçi (übersetzt: Bosporus) European School of Politics (ESP) wurde 2014 als Mitglied der Schools of Political Studies des Europa­rates gegründet. Die ESP stellt Menschen­rechte, Rechts­staatlichkeit, europäische Normen und Institutionen in den Mittel­punkt ihres Programmes. Dieses ermöglicht Türk*innen von 20 bis 35 Jahren, die sich für eine offene Gesellschaft sowie für Dialog und Kooperation einsetzen, einen umfassenden Austausch zwischen der Türkei und Deutschland und auf europäischer Ebene.
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