Ungerecht und illegal: Ein Gastbeitrag von Asena Günal über den Fall Osman Kavala

Eine Frau geht während einer Pressekonferenz an einem Bildschirm vorbei, auf dem der inhaftierte Osman Kavala zu sehen ist
Ungerecht und illegal: Ein Gastbeitrag von Asena Günal über den Fall Osman Kavala
Autorin: Asena Günal 15.03.2022

Seit mehr als vier Jahren sitzt Osman Kavala im Gefängnis, weil er angeblich die Gezi-Park-Proteste organisierte, an einem Putschversuch beteiligt war und Spionage betrieb. Bisher wurde er für kein Verbrechen verurteilt. Die Auswirkungen auf die türkische Zivilgesellschaft sind verheerend, schreibt unsere Gastautorin Asena Günal, Vorsitzende von Anadolu Kültür in Istanbul.

Die Verhaftung von Osman Kavala ist mittlerweile über vier Jahre her. Am 18. Oktober 2017 wurde er festgenommen, und wir dachten, „er kommt bestimmt nicht ins Gefängnis“. Als er schließlich am 1. November inhaftiert wurde, sagten wir uns, dass „sie ihn bestimmt nicht lange drin behalten“. Heute ist der 15. März 2022, Tag Nr. 1596 von Kavalas Haft.

Kriminalisierung von zivilen und demokratischen Handlungen

Kavala geriet aus verschiedenen Gründen schon vor geraumer Zeit ins Visier: Er hatte sich mit Vertreter*innen aus der Politik, der Presse und der Wissenschaft solidarisiert, die der Regierung ein Dorn im Auge waren.

Foto von Asena Gunal
© privat

Asena Günal ist Geschäftsführerin von Anadolu Kültür. Die Stiftung wurde 2002 von Osman Kavala gegründet.

Er hatte Nichtregierungsorganisationen unterstützt, die sich für Menschen- und Sozialrechte einsetzen. Er hatte Projekte im Auftrag von Anadolu Kültür durchgeführt, die die Schaffung und Verbreitung von Kultur und Kunstwerken fördern sollten. Mit diesen Projekten wollte er kulturelle Vielfalt und Kulturrechte fördern, lokale Initiativen unterstützen und die Zusammenarbeit auf regionaler und internationaler Ebene stärken. Zudem leitete er Initiativen, die den Dialog mit Armenien anstrebten und Raum für die kurdische Sprache und Kultur schufen.

Er geriet ins Visier, da seine Handlungen bewiesen, dass all das noch immer möglich war. Er symbolisierte den Glauben an die Rechtsstaatlichkeit in diesem Land. Genau deshalb kommen seine Verhaftung und Inhaftierung der Kriminalisierung all dieser zivilen und demokratischen Handlungen und der daran beteiligten Personen und Organisationen gleich. Mit seiner Festnahme wollte die Regierung alle einschüchtern, die ihre Rechte in Anspruch nehmen wollen, vor allem diejenigen, die sich in der Zivilgesellschaft engagieren und künstlerisch und kulturell tätig sind.

Er symbolisierte den Glauben an die Rechtsstaatlichkeit in diesem Land

Rechtshandlungen ohne Gesetzesgrundlage

Nach seiner Festnahme wurde Kavala von Recep Tayyip Erdoğan und den regierungsnahen Medien verschiedener Verbrechen bezichtigt. Bis zur offiziellen Anklage vergingen 16 Monate. Laut der Anklage soll Kavala angeblich die Proteste vom Gezi-Park geplant, finanziert und organisiert haben – als ob eine soziale Bewegung wie die Gezi-Proteste von einer einzelnen Person oder Organisation ausgehen könnte.

Zwischen Juni 2019 und Februar 2020 gab es sechs Anhörungen. Sie glichen alle einem Kampf, in dem die Anwält*innen einem Gremium aus Richter*innen und einem Staatsanwalt die Grundlagen von Recht und Gerechtigkeit vermitteln mussten. Die Justiz verstieß im Laufe des Prozesses auf verschiedenen Ebenen gegen geltendes Gesetz. So verhörte sie zum Beispiel in Abwesenheit der Anwält*innen einen Zeugen und missachtete das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR).

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte forderte 2019 die Freilassung von Osman Kavala. © Dursun Aydemir/Anadolu Agency/Getty Images)

Verhaftung verstößt gegen die Europäischen Menschenrechtskonventionen

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) prüfte Kavalas Antrag in Bezug auf seine Inhaftierung und entschied am 10. Dezember 2019, dass diese  gegen Artikel 5 und 18 der Europäischen Menschenrechtskonvention verstoße. Der Gerichtshof forderte seine sofortige Freilassung. Obwohl das Ministerkomitee in acht Beschlüssen und zwei vorläufigen Resolutionen die starke Vermutung nahegelegt hat, dass die derzeitige Inhaftierung von Kavala weiteren Verstößen gegen die Menschenrechtskonvention gleichkommt, auf die im Urteil des EGMR Bezug genommen wird, ignoriert die türkische Regierung dieses Urteil. Das verstößt gegen die türkische Verfassung, die den Gesetzesvorrang der Europäischen Menschenrechtskonvention anerkennt.

Erneute Festnahme direkt nach der Freilassung

In der letzten Anhörung dieses Falls am 18. Februar 2020 sprach das Gericht Kavala und andere Angeklagte frei. Das kam vollkommen unerwartet. Wir waren überrascht, aber gleichzeitig äußerst froh! Familie, Freunde und Kolleg*innen von Kavala sowie eine Gruppe Journalist*innen machten sich auf, um ihn in einer Freizeiteinrichtung an der Straße zu den Strafvollzugsanstalten Silivri zu empfangen. Andere warteten in der Stadt auf seine Rückkehr.

Aber wo blieb er? Wir warteten. Nach einigen Stunden fand unsere Freude ein abruptes Ende. Wir erfuhren, dass gegen Kavala ein erneuter Haftbefehl in derselben Sache erlassen worden war. Das Fahrzeug, das ihn zu seinen Angehörigen bringen sollte, fuhr direkt zum Polizeipräsidium. Er wurde wieder verhaftet und nach Silivri zurückgeschickt. Es war absolut frustrierend. Dieses Mal wurde er wegen eines „Putschversuchs“ festgenommen. Seine Haft konnte jedoch wegen einer kurz zuvor in Kraft getretenen Gesetzesänderung nicht verlängert werden, weshalb sie ihn erneut verhafteten – dieses Mal auf Grundlage einer neuen Anklage, die noch absurder war: die der „Spionage“.

Kavala musste weitere siebeneinhalb Monate auf eine erneute Anklage warten. Keiner der Anklagepunkte beruhte auf Fakten, Beweisen oder einer objektiven Beurteilung eines konkreten Verbrechens. Diese Anklageschrift sollte zivilgesellschaftliche Organisationen ihrer Glaubwürdigkeit berauben und ihre Arbeit als gefährlich und spaltend darstellen.

Kolleg*innen und Angehörige warteten vergeblich auf Osman Kavala. © OZAN KOSE/AFP via Getty Images)

Politisierung und Instrumentalisierung der Judikative

Kavalas Verhaftung ist ein bemerkenswertes Beispiel für die Politisierung der Judikative und ihre Instrumentalisierung für politische Zwecke. Sie ist ein Beispiel dafür, wie die angeblichen Verbrechen auf die jeweiligen Personen zugeschnitten werden, die bestraft werden sollen. Dies zeigt deutlich, wie Verschwörungstheorien anstelle von Beweisen verwendet werden und damit nicht nur entgegen dem Gesetz, sondern auch der Vernunft gehandelt wird.
Laut dem Rule of Law Index 2020 des World Justice Project weist die Türkei vor allem in den Bereichen „Beschränkungen der Regierungsbefugnisse“, „Grundrechte“ und „Regierungseinfluss auf das Strafverfolgungssystem“ die niedrigsten Punktzahlen auf. Von 128 Ländern belegt sie Platz 107 und erreicht die niedrigste Punktzahl unter den osteuropäischen und zentralasiatischen Ländern. Das sind nicht nur Zahlen. Sie stehen für das, was unser Leben im Wesentlichen prägt – untrennbar verbunden mit dem, was wir direkt miterleben.

Die Zivilgesellschaft: ungeschützt, geächtet und im Visier

Was mit Kavala passiert war, machte uns bei Anadolu Kültür angreifbar. Ungefähr ein Jahr nach Kavalas Inhaftierung wurden 2018 vier unserer vorsitzenden Mitglieder und einige Berater*innen nach einer Razzia im Morgengrauen in Gewahrsam genommen. Um 5:30 Uhr morgens platzte die Polizei in unsere Häuser, durchsuchte sie und beschlagnahmte dabei all unsere elektronischen Geräte. Während der Polizeihaft wurde ich zu bestimmten Kunstveranstaltungen befragt, die wir 2013 organisiert hatten. Keine von ihnen war Gegenstand eines Gerichtsverfahrens und ihr Inhalt ist nach wie vor durch verschiedene Veröffentlichungen und Webseiten öffentlich einsehbar. Ich wurde unter gerichtlichen Auflagen freigelassen. Immer noch darf ich nicht ins Ausland reisen. Sämtliche Berufungsanträge zur Aufhebung dieses Ausreiseverbots wurden  abgelehnt. Außerdem habe ich meine elektronischen Geräte noch nicht wieder zurück. Während und nach der Polizeihaft wurden meine Familie und ich zur Zielscheibe der regierungstreuen Medien, was uns mehr aus der Bahn geworfen hat als die Haft selbst.

Die staatlichen Unterdrückungsmaßnahmen gegen Anadolu Kültür gingen noch weiter. Das Finanzministerium begann, gegen zivilgesellschaftliche Organisationen zu ermitteln, die von der Open Society Foundation gefördert wurden, die ihre Aktivitäten in der Türkei nach unserer Festnahme einstellte. Anadolu Kültür musste sich gründlichen Rechnungsprüfungen unterziehen und erhielt eine Steuerstrafe auf Grundlage von erfundenen Behauptungen.

Nach einer Meldung des türkischen Handelsministeriums folgten 2020 erneut Ermittlungen gegen Anadolu Kültür, und es kam zu einer weiteren Rechnungsprüfung. Eine Vielzahl von Dokumenten, auf denen die Aktivitäten der letzten zehn Jahre aufgezeichnet sind, wurden dem Prüfer des Ministeriums übermittelt. Das Handelsministerium reichte Klage ein und forderte unsere Auflösung. Anadolu Kültür ist das erste Unternehmen, gegen das Anklage erhoben wurde, weil es nicht genügend wirtschaftliche Aktivitäten vorweisen konnte. Offensichtlich war dies ein weiterer Einschüchterungsversuch gegen zivilgesellschaftliche Organisationen. Nach einem Prozess mit Gerichtsverhandlungen und Gutachten verkündete das Gericht in seinem abschließenden Urteil im Dezember 2021, dass die Klage abgewiesen worden sei. Anadolu Kültür konnte mit diesem Sieg beweisen, dass in der Türkei wenigstens ein bisschen „Rechtsstaatlichkeit“ herrscht.

Entschlossen und unbeirrt

Trotz aller widrigen Umstände setzen wir unsere Arbeit mit der Hilfe und Solidarität unserer Unterstützer*innen, NROs, Menschenrechtsorganisationen, Künstler*innen und vielen Menschen aus der Türkei und Europa fort. Während wir unsere Projekte erarbeiteten und umsetzten, war Kavala immer eingebunden. Eine*n Anwält*in ließ ihm Informationen von Anadolu Kültür zukommen, und ich besuchte ihn im Gefängnis. Er entwickelte mit uns neue Ideen, und seine Entschlossenheit und Unbeirrtheit gaben uns die Kraft, weiterzumachen. Dabei verlor er nie seine Güte und lenkte die Aufmerksamkeit immer wieder auf die Bedeutung der Unabhängigkeit der Justiz und der Rechtsstaatlichkeit, ohne seine eigene Situation in den Vordergrund zu rücken.

Auch wenn er seit über vier Jahren auf unbegründete, ungerechte und absurde Weise gefangen gehalten wird, kämpft er weiter für die Ideen, hinter denen er voll und ganz steht. Auch vom Gefängnis aus ist er mit eingebunden, arbeitet mit uns zusammen und vollbringt dabei Großes. Seine nächste Anhörung ist am 21. März, am Frühlingsanfang. Ich wünsche mir sehnlichst, dass er an diesem Tag endlich freigelassen und dieses  ermüdende Justiztheater beendet wird.