Medien und Demokratie: Unabhängigkeit ist das höchste Gut
Die Aufgabe eines Rechtsstaates ist es, seine Bürger*innen zu schützen – vor staatlicher Willkür, Diskriminierung und Menschenrechtsverletzungen. Die Aufmerksamkeit auf Unrecht zu lenken, eine Aufgabe der Medien. Beide gehören in einer Demokratie untrennbar zusammen, sagt Jessica White von der Nichtregierungsorganisation Freedom House.
Frau White, derzeit wird viel über den neuen Rechtsstaatlichkeitsbericht der EU-Kommission gesprochen. Wie wichtig ist die Pressefreiheit für den demokratischen Rechtsstaat?
Jessica White: Sehr wichtig. Demokratien brauchen nicht nur freie Wahlen, sie brauchen auch freie Medien. Denn nur wenn Bürger*innen Zugang zu unabhängigen Quellen haben, können sie sich informieren, sich eine Meinung bilden und unabhängige Entscheidungen treffen – sowohl im Hinblick auf die zu wählende Regierung als auch in Bezug auf die alltägliche Selbstbestimmung. Entsprechend kann eine Demokratie nicht ohne kritische Medien existieren. Fehlt die Pressefreiheit, gibt es keine Demokratie.
Die Europäische Union gilt weltweit als sicherste Region für Journalist*innen. Trotzdem geraten laut Reporter ohne Grenzen auch hier Vertreter*innen der Presse zunehmend unter Druck. Was gefährdet die Pressefreiheit in Demokratien?
Für unser Projekt „Reviving News Media in an Embattled Europe“, übersetzt „Wiederbelebung der Nachrichtenmedien in einem umkämpften Europa“, haben wir uns sechs Länder genauer angesehen: Estland, Frankreich, Deutschland, Ungarn, Italien und Polen. So unterschiedlich diese Länder sind, der Zusammenbruch traditioneller und auf Werbung basierender Geschäftsmodelle sowie der Aufstieg von Social-Media-Plattformen ist für alle eine Herausforderung. Dies führt in vielen Ländern zu wirtschaftlicher Anfälligkeit und erhöhtem Kostendruck für den Qualitätsjournalismus. Gleichzeitig sehen wir in einigen europäischen Demokratien, dass geschäftliche und politische Interessen neue Wege finden, diese Schwächen auszunutzen und den eigenen Einfluss auf die Berichterstattung in den Medien zu vergrößern und dadurch die unabhängige Kontrolle durch die Presse zu untergraben.
Jessica White hat in Edinburgh und Coimbra Spanisch und Portugiesisch studiert. Außerdem absolvierte sie in Paris einen Postgraduierten-Masterstudiengang in Internationaler Entwicklung. Bei Freedom House arbeitet sie als Senior Research Analyst.
2022 gab es außerdem so viele Angriffe auf Medienvertreter*innen während Demonstrationen wie noch nie zuvor. Viele Länder, darunter Deutschland, sind dadurch in der Rangliste der Pressefreiheit 2022 abgerutscht.
Dies ist ein alarmierender Trend. Das öffentliche Misstrauen gegenüber demokratischen Institutionen wie den Medien schafft ein zunehmend feindseliges Umfeld für Journalist*innen, die ihre Arbeit in einem sicheren Umfeld verrichten wollen – sowohl vor Ort als auch online. Unsere Organisation Freedom House hat die zunehmenden Angriffe auf Medien in der ganzen Welt verfolgt, und selbst in Demokratien sind Journalist*innen Einschüchterungen und Gewalt ausgesetzt. Aber wir sehen auch, wie öffentliches Vertrauen als Waffe eingesetzt werden kann. In Ungarn zum Beispiel verleumden regierungsnahe Medien und Meinungsmacher*innen regelmäßig unabhängige, regierungskritische Medien, indem sie sie als Gegner*innen und Agent*innen ausländischer Interessen und nicht als Informationsquellen darstellen.
Rechtsstaatlichkeitsbericht der EU
Seit 2020 veröffentlicht die EU-Kommission einen Rechtsstaatlichkeitsbericht, mit dem sie über die Gesamtlage der Rechtsstaatlichkeit in den EU-Mitgliedsländern informiert. Dafür analysiert sie vier Schlüsselbereiche der Rechtsstaatlichkeit: das Justizsystem, den Rahmen für die Korruptionsbekämpfung, Freiheit und Pluralismus der Medien sowie andere institutionelle Fragen im Zusammenhang mit der Gewaltenteilung. Seit 2022 enthält der Bericht spezifische Empfehlungen für jeden Mitgliedsstaat.
Die Länder, die Sie untersucht haben, sind sehr unterschiedlich in Bezug auf die Medienfreiheit und den Zustand ihrer Demokratie.
Absolut. Unsere Organisation stuft beispielsweise in ihrer jährlichen Bewertung der politischen Rechte und bürgerlichen Freiheiten Ungarn lediglich als „teilweise frei“ ein. Denn seit der Machtübernahme hat die regierende Fidesz-Partei von Ministerpräsident Viktor Orbán eine Reihe von Maßnahmen ergriffen, um die Rechtsstaatlichkeit zu untergraben und die Kontrolle des Staates über unabhängige Institutionen, einschließlich der Medien, zu festigen. Angriffe auf die Medienfreiheit und den Pluralismus sind auch in Polen besorgniserregend, wo die regierende Partei Prawo i Sprawiedliwość (PiS), übersetzt Recht und Gerechtigkeit, abweichende Stimmen aus den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten verbannt hat. Staatliche Unternehmen haben ihren Einfluss auf Presseverteilernetze und regionale Medien hingegen verstärkt. Estland, Deutschland und Frankreich sind in Sachen Medienfreiheit deutlich besser aufgestellt. Aber selbst in diesen etablierten Demokratien ist es für Medienunternehmen schwieriger geworden, vielfältige Inhalte und einen ressourcenintensiven Journalismus zu finanzieren, insbesondere auf lokaler Ebene.
Im Gegensatz zu Erhebungen, die den Grad der Pressefreiheit beispielsweise anhand der Zahl von inhaftierten, getöteten oder vermissten Journalist*innen messen, verfolgen Sie in Ihrer Studie einen anderen Ansatz. Wie sind Sie vorgegangen?
Ich habe fast 40 Interviews mit Medienexpert*innen und -fachleuten geführt, die sich auf die sechs an unserer Umfrage beteiligten Länder verteilen. Bei meiner Auswahl habe ich mich an Redakteur*innen und Journalist*innen verschiedener unabhängiger Medien aus dem gesamten ideologischen Spektrum gewandt, seien es öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten, Onlinenachrichtenseiten, Zeitungen oder Radiostationen. Um ein umfassenderes Bild der Medienlandschaft in den einzelnen Ländern zu erhalten, habe ich auch Medienexpert*innen aus dem akademischen Bereich, aus zivilgesellschaftlichen Organisationen und aus Medienverbänden befragt. Die Interviews fanden teilweise über Zoom statt, ich bin aber auch nach Deutschland, Polen und Ungarn gereist. Inhaltlich kreisten meine Fragen vor allem um vier Voraussetzungen, die unerlässlich für eine unabhängige Berichterstattung sind: erstens die Fähigkeit der Medien, sich finanziell selbst zu tragen, zweitens die Möglichkeit, ein breites Publikum zu repräsentieren und zu erreichen, drittens die Fähigkeit der Medienschaffenden, das Vertrauen der Öffentlichkeit zu gewinnen, und viertens die Kompetenz der Medien, Fragen von öffentlichem Interesse ohne Angst vor Vergeltungsmaßnahmen zu recherchieren. Anschließend habe ich die Interviewprotokolle analysiert und die Ergebnisse mit Expert*innen überprüft.
Was hat Sie am meisten überrascht?
Überraschend und beeindruckend fand ich die Kreativität, mit der Medienschaffende in eher repressiven Umfeldern Hindernisse und akuten Druck überwinden. In Ungarn beispielsweise erhalten investigative Journalist*innen auf kritische Fragen oft keine Antworten, sie werden ignoriert. Einige Berichterstatter*innen haben deshalb angefangen, das Schweigen der Regierungsbeamt*innen vor dem Mikrofon aufzuzeichnen und diesen Moment der Stille in ihren Radio- oder Fernsehbeitrag einzubauen. Sie machen dadurch ihre Arbeitsweise transparent und entlarven durch die Leerstelle die fehlende Kooperation der Verantwortlichen. Solche Taktiken im Umfeld presse- und damit demokratiefeindlicher Umgebungen haben das Interesse von europäischen Journalist*innen geweckt und zu einem Austausch über die Landesgrenzen hinweg geführt.
Wie können Medienschaffende in diesen Regionen ihre Unabhängigkeit noch wahren?
Viele suchen nach alternativen Geschäftsmodellen. In Ungarn ist eine werbefinanzierte Berichterstattung nahezu unmöglich, da der Staat der wichtigste Werbeträger ist und Gelder an Medien weiterleitet, die der Regierung gehorchen. Private Werbetreibende sind vorsichtiger bei der Schaltung von Anzeigen in kritischen Medien, schließlich müssen sie Konsequenzen befürchten. Hier haben Journalist*innen Crowdfunding-Kampagnen gestartet oder Abosysteme für ihre Publikationen eingeführt. Einige haben Stiftungen gegründet und sammeln darüber Spenden für die eigene Arbeit. Andere experimentieren mit neuen Formaten und Kanälen insbesondere im digitalen Raum, sie bauen Netzwerke auf und schützen sich vor Angriffen auf die Pressefreiheit, indem sie sich verbünden.
Sie wollen auf Grundlage Ihres Projektes Handlungsempfehlungen für die Gesellschaft und die Politik generieren. Welche Ratschläge können Sie geben?
Ja, wir wollen Empfehlungen generieren. Wobei ich denke, dass die Herausforderungen, mit denen die unabhängigen Medien konfrontiert sind, systemischer Natur sind. Medienunternehmen sind daher nicht in der Lage, das System als Ganzes zu verändern. Sie können sich nur mit Ausweichstrategien behelfen – und tun dies auch mit einigem Erfolg. Um die freie Berichterstattung und damit die Demokratie zu schützen, bräuchten wir aber verschiedene politische Maßnahmen, um Medienunternehmen zu ermutigen, nachhaltige Wege zur Finanzierung einer unabhängigen Berichterstattung zu gehen. Außerdem wären politische und staatliche Maßnahmen gegen physische und missbräuchliche juristische Angriffe auf Journalist*innen wichtig. Das wäre ein klares Signal zur Verteidigung der demokratischen Grundwerte.
Auf EU-Ebene gibt es außerdem den neuen Europäischen Rechtsakt zur Medienfreiheit, über den nun beraten wird.
Der European Media Freedom Act ist interessant, da er sich für Medienpluralismus und die Unabhängigkeit der Presse einsetzt, zum Beispiel durch eine stabile Finanzierung öffentlich-rechtlicher Medien. Die Bestimmungen dieses Vorschlages gilt es zu stärken, damit die Medien ihre Unabhängigkeit stärken und ihre Arbeit ohne ungebührliche Einmischung verrichten können. Genauso ist es aber wichtig, beim Schutz der Pressefreiheit die Gesellschaft mit einzubeziehen. Dafür ist es gut, dass wir auf Grundlage unseres Projektes und des Ländervergleiches sehen, welche Maßnahmen den Weg ebnen für die alternative Finanzierung einer freien Berichterstattung.
Medien und Demokratie
Das Pilotprojekt „Reviving News Media in an Embattled Europe“ will die Öffentlichkeit über die Bedrohungen der unabhängigen Medien informieren, mögliche Lösungen aufzeigen und Politiker*innen Wissen und ein Instrumentarium für gezielte Interventionen an die Hand geben. Der Projektpartner Freedom House ist eine internationale gemeinnützige, überparteiliche Organisation, die die Verteidiger*innen der Demokratie unterstützt und sich für eine Welt einsetzt, in der alle frei sind.
freedomhouse.org