Medien und Demokratie: Unabhängigkeit ist das höchste Gut

Medien und Demokratie: Unabhängigkeit ist das höchste Gut
Autorin: Carola Hoffmeister 11.07.2023

Die Aufgabe eines Rechtsstaates ist es, seine Bürger*innen zu schützen – vor staatlicher Willkür, Diskriminierung und Menschen­rechts­verletzungen. Die Aufmerksamkeit auf Unrecht zu lenken, eine Aufgabe der Medien. Beide gehören in einer Demokratie untrennbar zusammen, sagt Jessica White von der Nicht­regierungs­organisation Freedom House.

Frau White, derzeit wird viel über den neuen Rechts­staatlichkeits­bericht der EU-Kommission gesprochen. Wie wichtig ist die Presse­freiheit für den demokratischen Rechts­staat?

Jessica White: Sehr wichtig. Demokratien brauchen nicht nur freie Wahlen, sie brauchen auch freie Medien. Denn nur wenn Bürger*innen Zugang zu unabhängigen Quellen haben, können sie sich informieren, sich eine Meinung bilden und unabhängige Entscheidungen treffen – sowohl im Hinblick auf die zu wählende Regierung als auch in Bezug auf die alltägliche Selbst­bestimmung. Entsprechend kann eine Demokratie nicht ohne kritische Medien existieren. Fehlt die Presse­freiheit, gibt es keine Demokratie.

Die Europäische Union gilt weltweit als sicherste Region für Journalist*innen. Trotzdem geraten laut Reporter ohne Grenzen auch hier Vertreter*innen der Presse zunehmend unter Druck. Was gefährdet die Presse­freiheit in Demokratien?

Für unser Projekt „Reviving News Media in an Embattled Europe“, übersetzt „Wieder­belebung der Nachrichten­medien in einem umkämpften Europa“, haben wir uns sechs Länder genauer angesehen: Estland, Frankreich, Deutschland, Ungarn, Italien und Polen. So unter­schiedlich diese Länder sind, der Zusammen­bruch traditioneller und auf Werbung basierender Geschäfts­modelle sowie der Aufstieg von Social-Media-Plattformen ist für alle eine Heraus­forderung. Dies führt in vielen Ländern zu wirtschaftlicher Anfälligkeit und erhöhtem Kosten­druck für den Qualitäts­journalismus. Gleich­zeitig sehen wir in einigen europäischen Demokratien, dass geschäftliche und politische Interessen neue Wege finden, diese Schwächen auszunutzen und den eigenen Einfluss auf die Bericht­erstattung in den Medien zu vergrößern und dadurch die unabhängige Kontrolle durch die Presse zu untergraben.

Jessica White
© privat

Jessica White hat in Edinburgh und Coimbra Spanisch und Portugiesisch studiert. Außerdem absolvierte sie in Paris einen Postgraduierten-Master­studien­gang in Inter­nationaler Entwicklung. Bei Freedom House arbeitet sie als Senior Research Analyst.

2022 gab es außerdem so viele Angriffe auf Medien­vertreter*innen während Demonstrationen wie noch nie zuvor. Viele Länder, darunter Deutschland, sind dadurch in der Rangliste der Pressefreiheit 2022 abgerutscht.

Dies ist ein alarmierender Trend. Das öffentliche Misstrauen gegenüber demokratischen Institutionen wie den Medien schafft ein zunehmend feindseliges Umfeld für Journalist*innen, die ihre Arbeit in einem sicheren Umfeld verrichten wollen – sowohl vor Ort als auch online. Unsere Organisation Freedom House hat die zunehmenden Angriffe auf Medien in der ganzen Welt verfolgt, und selbst in Demokratien sind Journalist*innen Einschüchterungen und Gewalt ausgesetzt. Aber wir sehen auch, wie öffentliches Vertrauen als Waffe eingesetzt werden kann. In Ungarn zum Beispiel verleumden regierungs­nahe Medien und Meinungs­macher*innen regelmäßig unabhängige, regierungs­kritische Medien, indem sie sie als Gegner*innen und Agent*innen ausländischer Interessen und nicht als Informations­quellen darstellen.

Rechtsstaatlichkeitsbericht der EU

Seit 2020 veröffentlicht die EU-Kommission einen Rechtsstaatlichkeitsbericht, mit dem sie über die Gesamtlage der Rechts­staatlichkeit in den EU-Mitglieds­ländern informiert. Dafür analysiert sie vier Schlüssel­bereiche der Rechts­staatlichkeit: das Justiz­system, den Rahmen für die Korruptions­bekämpfung, Freiheit und Pluralismus der Medien sowie andere institutionelle Fragen im Zusammen­hang mit der Gewalten­teilung. Seit 2022 enthält der Bericht spezifische Empfehlungen für jeden Mitglieds­staat.

Demonstrierende in Budapest, der Hauptstadt Ungarns. Sie sind gegen Viktor Orbáns Bildungspolitik. Sie fordern kostenlose Hochschulbildung und Freiheit für die Bildung.
Demonstrierende in Budapest, der Hauptstadt Ungarns. Sie sind gegen Viktor Orbáns Bildungspolitik. Sie fordern kostenlose Hochschulbildung und Freiheit für die Bildung. © picture alliance

Die Länder, die Sie untersucht haben, sind sehr unterschiedlich in Bezug auf die Medienfreiheit und den Zustand ihrer Demokratie.

Absolut. Unsere Organisation stuft beispielsweise in ihrer jährlichen Bewertung der politischen Rechte und bürgerlichen Freiheiten Ungarn lediglich als „teilweise frei“ ein. Denn seit der Macht­über­nahme hat die regierende Fidesz-Partei von Minister­präsident Viktor Orbán eine Reihe von Maßnahmen ergriffen, um die Rechts­staatlichkeit zu unter­graben und die Kontrolle des Staates über unabhängige Institutionen, einschließlich der Medien, zu festigen. Angriffe auf die Medien­freiheit und den Pluralismus sind auch in Polen besorgnis­erregend, wo die regierende Partei Prawo i Sprawiedliwość (PiS), übersetzt Recht und Gerechtigkeit, abweichende Stimmen aus den öffentlich-rechtlichen Rund­funk­anstalten verbannt hat. Staatliche Unternehmen haben ihren Einfluss auf Presse­verteiler­netze und regionale Medien hingegen verstärkt. Estland, Deutschland und Frankreich sind in Sachen Medien­freiheit deutlich besser aufgestellt. Aber selbst in diesen etablierten Demokratien ist es für Medien­unternehmen schwieriger geworden, vielfältige Inhalte und einen ressourcen­intensiven Journalismus zu finanzieren, insbesondere auf lokaler Ebene.

Im Gegensatz zu Erhebungen, die den Grad der Presse­freiheit beispiels­weise anhand der Zahl von inhaftierten, getöteten oder vermissten Journalist*innen messen, verfolgen Sie in Ihrer Studie einen anderen Ansatz. Wie sind Sie vorgegangen?

Ich habe fast 40 Interviews mit Medien­expert*innen und -fachleuten geführt, die sich auf die sechs an unserer Umfrage beteiligten Länder verteilen. Bei meiner Auswahl habe ich mich an Redakteur*innen und Journalist*innen verschiedener unabhängiger Medien aus dem gesamten ideologischen Spektrum gewandt, seien es öffentlich-rechtliche Rund­funk­anstalten, Online­nachrichten­seiten, Zeitungen oder Radio­stationen. Um ein umfassenderes Bild der Medien­landschaft in den einzelnen Ländern zu erhalten, habe ich auch Medien­expert*innen aus dem akademischen Bereich, aus zivil­gesellschaftlichen Organisationen und aus Medien­verbänden befragt. Die Interviews fanden teilweise über Zoom statt, ich bin aber auch nach Deutschland, Polen und Ungarn gereist. Inhaltlich kreisten meine Fragen vor allem um vier Voraus­setzungen, die unerlässlich für eine unabhängige Bericht­erstattung sind: erstens die Fähigkeit der Medien, sich finanziell selbst zu tragen, zweitens die Möglichkeit, ein breites Publikum zu repräsentieren und zu erreichen, drittens die Fähigkeit der Medien­schaffenden, das Vertrauen der Öffentlichkeit zu gewinnen, und viertens die Kompetenz der Medien, Fragen von öffentlichem Interesse ohne Angst vor Vergeltungs­maßnahmen zu recherchieren. Anschließend habe ich die Interview­protokolle analysiert und die Ergebnisse mit Expert*innen überprüft.

Selbst in Demokratien sind Journalist*innen Einschüchterungen und Gewalt ausgesetzt – besonders bei Demonstrationen.
Selbst in Demokratien sind Journalist*innen Einschüchterungen und Gewalt ausgesetzt – besonders bei Demonstrationen. © picture alliance

Was hat Sie am meisten überrascht?

Überraschend und beeindruckend fand ich die Kreativität, mit der Medien­schaffende in eher repressiven Umfeldern Hindernisse und akuten Druck überwinden. In Ungarn beispiels­weise erhalten investigative Journalist*innen auf kritische Fragen oft keine Antworten, sie werden ignoriert. Einige Bericht­erstatter*innen haben deshalb angefangen, das Schweigen der Regierungs­beamt*innen vor dem Mikrofon aufzuzeichnen und diesen Moment der Stille in ihren Radio- oder Fernseh­beitrag einzubauen. Sie machen dadurch ihre Arbeits­weise transparent und entlarven durch die Leer­stelle die fehlende Kooperation der Verantwortlichen. Solche Taktiken im Umfeld presse- und damit demokratie­feindlicher Umgebungen haben das Interesse von europäischen Journalist*innen geweckt und zu einem Austausch über die Landes­grenzen hinweg geführt.

Wie können Medienschaffende in diesen Regionen ihre Unabhängigkeit noch wahren?

Viele suchen nach alternativen Geschäftsmodellen. In Ungarn ist eine werbefinanzierte Bericht­erstattung nahezu unmöglich, da der Staat der wichtigste Werbeträger ist und Gelder an Medien weiter­leitet, die der Regierung gehorchen. Private Werbe­treibende sind vorsichtiger bei der Schaltung von Anzeigen in kritischen Medien, schließlich müssen sie Konsequenzen befürchten. Hier haben Journalist*innen Crowdfunding-Kampagnen gestartet oder Abosysteme für ihre Publikationen eingeführt. Einige haben Stiftungen gegründet und sammeln darüber Spenden für die eigene Arbeit. Andere experimentieren mit neuen Formaten und Kanälen insbesondere im digitalen Raum, sie bauen Netzwerke auf und schützen sich vor Angriffen auf die Pressefreiheit, indem sie sich verbünden.

Sie wollen auf Grundlage Ihres Projektes Handlungs­empfehlungen für die Gesellschaft und die Politik generieren. Welche Ratschläge können Sie geben?

Ja, wir wollen Empfehlungen generieren. Wobei ich denke, dass die Heraus­forderungen, mit denen die unabhängigen Medien konfrontiert sind, systemischer Natur sind. Medien­unternehmen sind daher nicht in der Lage, das System als Ganzes zu verändern. Sie können sich nur mit Ausweich­strategien behelfen – und tun dies auch mit einigem Erfolg. Um die freie Bericht­erstattung und damit die Demokratie zu schützen, bräuchten wir aber verschiedene politische Maßnahmen, um Medien­unternehmen zu ermutigen, nach­haltige Wege zur Finanzierung einer unabhängigen Bericht­erstattung zu gehen. Außerdem wären politische und staatliche Maßnahmen gegen physische und miss­bräuchliche juristische Angriffe auf Journalist*innen wichtig. Das wäre ein klares Signal zur Verteidigung der demokratischen Grundwerte.

Auf EU-Ebene gibt es außerdem den neuen Europäischen Rechtsakt zur Medienfreiheit, über den nun beraten wird.

Der European Media Freedom Act ist interessant, da er sich für Medien­pluralismus und die Unabhängigkeit der Presse einsetzt, zum Beispiel durch eine stabile Finanzierung öffentlich-rechtlicher Medien. Die Bestimmungen dieses Vorschlages gilt es zu stärken, damit die Medien ihre Unabhängigkeit stärken und ihre Arbeit ohne ungebührliche Einmischung verrichten können. Genauso ist es aber wichtig, beim Schutz der Presse­freiheit die Gesellschaft mit ein­zu­beziehen. Dafür ist es gut, dass wir auf Grundlage unseres Projektes und des Länder­vergleiches sehen, welche Maßnahmen den Weg ebnen für die alternative Finanzierung einer freien Bericht­erstattung.


Medien und Demokratie

Das Pilotprojekt „Reviving News Media in an Embattled Europe“ will die Öffentlichkeit über die Bedrohungen der unabhängigen Medien informieren, mögliche Lösungen aufzeigen und Politiker*innen Wissen und ein Instrumentarium für gezielte Interventionen an die Hand geben. Der Projekt­partner Freedom House ist eine inter­nationale gemein­nützige, über­parteiliche Organisation, die die Verteidiger*innen der Demokratie unter­stützt und sich für eine Welt einsetzt, in der alle frei sind.
freedomhouse.org