Merhaba vom Markt – so geht europäischer Austausch 2023

drei Jugendliche machen ein Selfie
Merhaba vom Markt – so geht europäischer Austausch 2023
Autorin: Annette Walter Fotos: Mika Volkmann 19.09.2023

Was können junge Erwachsene von Gleich­altrigen aus anderen Ländern lernen, um ihre eigene Stadt zu gestalten? Dieser Frage ging eine Gruppe aus der Türkei, Deutschland und Frankreich in diesem Sommer auf einer Reise durch Europa nach. AufRuhr stellt drei der Teil­nehmer*innen vor. Wie haben sie den Austausch erlebt?

Es ist ein besonderer Moment für 50 Jugendliche aus der Türkei, Frankreich und Deutschland an diesem heißen Sommertag in Osnabrück. Draußen suchen Passant*innen Schatten in den trubeligen Straßen­cafés. Doch im alt­ehr­würdigen Friedens­saal des Rathauses ist von sengender Hitze nichts zu spüren. Der Saal ist ein ganz besonderer Ort. Hier saßen vor 375 Jahren die Herrschenden Europas in prächtigen Gewändern beisammen und verhandelten das Ende des Dreißig­jährigen Krieges. In den Monaten von Mai bis Oktober 1648 war es dann so weit: In Osnabrück und Münster wurden die Verträge zum „Westfälischen Frieden“ beschlossen.

Heute geht es legerer zu im Friedenssaal in Osnabrück. AufRuhr trifft drei Jugendliche, die bei dem Projekt „Europa beginnt in deiner Stadt“ der Deutsch-Türkischen Jugendbrücke und dem Deutsch-Französischen Jugendwerk (DFJW) dabei sein durften: Cemre aus Çanakkale, Martin aus Angers und Deyana aus Osnabrück. In den letzten drei Wochen sind sie Freund*innen geworden auf einer Reise quer durch Europa. Sie wanderten gemeinsam in den türkischen Bergen, besichtigten einen Windpark bei Osnabrück und absolvierten den Workshop „Wenn die Welt ein Dorf mit 100 Menschen wäre – nach­haltige Städte entwerfen“. Das war ein intensiver Austausch über Nach­haltigkeit, Integration und Inklusion. Nun über­geben sie zusammen mit den anderen Teilnehmer*innen die „Osnabrücker Erklärung“ an Bürger­meisterin Birgit Strangmann. 14 Punkte umfasst das Papier, Visionen wie mehr Natur in der Stadt oder keine Lebens­mittel mehr verschwenden. Und vor allem: Frieden als alternativ­loses Ziel politischen und menschlichen Handelns. Es sind die Träume von Cemre, Martin und Deyana. AufRuhr hat mit den drei Europäer*innen gesprochen.

Cemre Ince Huriye aus Çanakkale, Türkei, 27 Jahre: „Beeindruckt hat mich, wie der Müll in Frankreich und Deutschland getrennt wird.“

„Nach meinem Bachelor­abschluss im Fach Politik­wissenschaft und Inter­nationale Beziehungen habe ich begonnen, mit Jugendlichen zu arbeiten. Dazu gehörten auch verschiedene inter­nationale und nationale Jugend­arbeits­projekte. Für ein kurz­fristiges Freiwilligen­projekt des Europäischen Solidaritäts­korps war ich in Polen. Nun bin ich ehren­amtliche Mitarbeiterin des Jugend­vereins Çanakkale Koza und kümmere mich dort um viele spannende Projekte.

Auf unserer Reise habe ich fest­gestellt, wie sehr wir alle vom Klimawandel betroffen sind: Trocken­heit, Sturz­fluten, Waldbrände. Wir haben alle unter ähnlichen Folgen zu leiden. Aber es gibt auch Unterschiede. Die Menschen aus Frankreich und Deutschland sind sich des Themas Umwelt­schutz viel bewusster, ihre Städte sind sauberer. Leider fehlt uns in der Türkei dieses Denken noch. Beeindruckt hat mich, wie der Müll in Frankreich und Deutschland getrennt wird.

Cemre Ince Huriye
„Mein Selfie vor dem Rathaus von Çanakkale symbolisiert für mich Teilhabe, denn das Rathaus ist ein Ort, an dem viele Dinge geschehen, die meine Stadt besser machen, und wir Bürger*innen können alle ein wichtiger Teil davon sein. Einerseits fühle ich mich zu Hause, wenn ich vor dem Rathaus stehe. Auf der anderen Seite fühle ich mich aber vor allem als Weltbürgerin. Çanakkale ist nicht der einzige Ort, an dem ich eine Heimat habe.“ © privat

Die Energie in unserer Gruppe war großartig. Alle mochten sich. Es gab keine Vorurteile. Alle waren freundlich und jederzeit offen für Gespräche. Morgens, wenn wir noch schläfrig waren, machten wir bereits Witze.“

Martin Teyssier
„Ich habe dieses Selfie direkt vor der Haupteingangstür des Rathauses von Angers gemacht. Dieser Ort strahlt für mich Ruhe aus: Das Rathaus ist ein Ort, der Respekt verdient, wenn ich ihn betrete. Für mich bedeutet dieses Gebäude, dass die Entscheidungen, die der Stadtrat trifft, insbesondere in Fragen des internationalen Friedens und der Zusammenarbeit, von größter Bedeutung sind. Wenn ich mich dort aufhalte, spüre ich sofort dieses europäische Gefühl. Ich komme regelmäßig am Rathaus vorbei, besonders während meiner Schulzeit, da unsere Schule direkt dahinter liegt.“ © privat

Martin Teyssier aus Angers, Frankreich, 19 Jahre: „Es ist diese Art des Austauschs zwischen jungen Europäer*innen, die ein friedliches Zusammenleben der Menschen sichert.“

„Ich komme aus Angers, der angeblich grünsten Stadt Frankreichs. Pro Einwohner*in gibt es Grünflächen von mindestens 500 Quadrat­metern. Nach der Schule habe ich ein Studium an der Universität Grenoble begonnen: Jura, Sprachen und inter­nationales Recht. Schon immer habe ich mich für Ziele engagiert, die mir am Herzen liegen, etwa für die Rechte von Flüchtlingen, Menschen im Exil und für Umwelt­schutz.

Später möchte ich einmal für eine Organisation wie Amnesty International arbeiten. Ich glaube, dass nach­haltige Entwicklung die größte Heraus­forderung für die Menschheit ist – sowohl unter Berücksichtigung ökologischer als auch sozialer Aspekte. Deshalb war diese Reise für mich die perfekte Gelegenheit, mein Engagement umzusetzen und andere Kulturen – insbesondere die türkischen und deutschen Vorstellungen des ökologischen Wandels – zu entdecken. Ich bin sehr glücklich, Teil dieser Gruppe zu sein. Es war eine großartige Erfahrung, die unbedingt gefördert werden sollte. Ich denke, es ist diese Art des Austauschs zwischen jungen Europäer*innen, die ein friedliches Zusammen­leben der Menschen sichert. Trotz unserer Unterschiede können wir alle zusammen­arbeiten.

In Osnabrück gefiel mir der öffentliche Nahverkehr besonders gut. In Çanakkale fiel mir auf, dass die Wasser­qualität schwankt, weshalb die Menschen lieber Wasser kaufen als das aus der Leitung zu trinken wie bei uns in Frankreich. Leider sammeln sich dadurch mehr Plastikflaschen an.

Ich halte die Arbeit auf lokaler Ebene für sehr wichtig. Wenn dort allen klar wird, wie immens wichtig Umweltschutz ist, dann wird die Regierung auch auf nationaler Ebene reagieren.“

Deyana Mohammad aus Osnabrück, Deutschland, 21 Jahre: „Ich hatte im Leben selten die Gelegenheit, so viele Menschen mit so vielen unterschiedlichen Erfahrungen kennen­zu­lernen.“

„Ich arbeite ehrenamtlich für die Stadt Osnabrück. Gerade habe ich mein Abitur erfolg­reich absolviert. Im Herbst möchte ich ein Pharmazie­studium anfangen – am liebsten in Hamburg. Am Projekt ,Europa beginnt in deiner Stadt‘ habe ich teilgenommen, um neue Menschen kennen­zu­lernen und meinen Beitrag für Frieden zwischen Menschen und Ländern zu leisten. Als gebürtige Syrerin weiß ich, wie wichtig das ist. Ich spreche sechs Sprachen und konnte viel davon nutzen. Es ging für mich auch um den Austausch über Probleme wie Geschlechter­ungleichheit in der Bildung oder darum, wie ich meine Stadt verschönern kann.

Gemeinsam mit anderen jungen Menschen will ich ein starkes Zeichen setzen, dass wir für ein gerechtes und friedliches Europa stehen. Wir haben viel über Politik gesprochen. Unsere Politiker*innen arbeiten hart, aber nicht genug, um den Klima­wandel zu verhindern. Wir selbst können durch kleine Schritte viel verändern und unsere Umwelt schützen.

Deyana Mohammad
„Mein Selfie vor dem Osnabrücker Rathaus auf dem Marktplatz symbolisiert den Frieden, denn dort wurde vor 375 Jahren der Westfälische Frieden geschlossen. Wenn ich auf dem Marktplatz bin, dann fühle ich mich im Herzen von Osnabrück, umgeben von einer Vielzahl von Menschen, die die Geschichte ihrer Stadt schätzen. Es gefällt mir, dass das Rathaus nicht nur Politiker*innen, sondern auch Bürger*innen und Kindern zugänglich ist.“ © privat

Çanakkale ist eine sehr schöne Stadt. Ein paar Dinge könnten noch weiterentwickelt werden: Weniger Plastik­flaschen wären gut. Und der Müll müsste sortiert werden – auch wenn wir Deutschen da etwas pingelig sind.

An Angers hat mir sehr gefallen, dass die Stadt­verwaltung sehr offen ist und nichts hinter verschlossenen Türen verbirgt. Es hört sich banal an, dass wir als junge Menschen aus verschiedenen Ländern zusammen­gekommen sind. Ist es aber nicht. Ich hatte im Leben selten die Gelegenheit, so viele Menschen mit so vielen unter­schiedlichen Erfahrungen kennen­zu­lernen. Wir haben viel voneinander gelernt zu Nach­haltig­keit und Klima­wandel. Wir wollen auch nach dem Treffen den Kontakt halten. Es sind Freundschaften entstanden, die ich ein Leben lang pflegen möchte.“


Deutsch-Türkische Jugendbrücke

Die Deutsch-Türkische Jugendbrücke und das Deutsch-Französische Jugendwerk (DFJW) bringen mit Unter­stützung der Stiftung Mercator im Rahmen der Initiative „Europa beginnt in deiner Stadt“ junge Europäer*innen im Alter von 13 bis 30 Jahren in den Austausch. Ziele der Initiative sind die Wieder­belebung des europäischen Jugend­austauschs, die Stärkung der Jugend­partizipation sowie die Integration und die Inklusion von Jugendlichen in politische Prozesse auf kommunaler Ebene.

www.jugendbruecke.de