Internationale Beziehungen – für Menschen gemacht?

Internationale Beziehungen – für Menschen gemacht?
Autorin: Onur Burçak Belli 04.05.2021

Wie sollten die internationalen Beziehungen zwischen der EU, der Türkei und den Ländern der MENA-Region gestaltet werden? Geht es nach der Wissenschaftlerin Nebahat Tanrıverdi Yaşar, dann mit mehr Zusammenarbeit und dem Fokus darauf, was die Menschen brauchen.

Nebahat Tanrıverdi Yaşar ist überzeugt: Zwischen menschlichen Bedürfnissen und nationalen Interessen muss eine Brücke gebaut werden. Sie ist mit dieser Ansicht nicht allein: Eine neue Generation von Akademiker*innen denkt ähnlich. „Wir Wissenschaftler*innen agieren manchmal, als würden in den Regionen, mit denen wir uns befassen, keine Menschen leben“, sagt sie. „Ich versuche, nie die Realität vor Ort zu vergessen. Und diese Realität hat viel mit den Menschen zu tun.“ In den Ländern der MENA-Region (kurz für „Middle East & North Africa“), ihrem Forschungsschwerpunkt, kämpfen Menschen tagtäglich für Demokratie, Integration, für ein Leben in Sicherheit und Würde sowie für eine Perspektive. „Ich sehe es als meine Verantwortung an, das bei meiner Arbeit nie aus den Augen zu verlieren.“

Nebahat Tanrıverdi Yaşar ist Sozialwissenschaftlerin und seit Mai 2020 IPC-Stiftung Mercator Fellow am Centrum für angewandte Türkeistudien (CATS) der Stiftung Wissenschaft und Politik. Es will Impulse für die Türkeipolitik der EU liefern und analysiert dafür die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen in der Türkei und die europäisch-türkischen Beziehungen.

Tanrıverdi befasst sich als Fellow mit der politischen Lage und der Außenpolitik der MENA-Region. Im Mittelpunkt ihrer Untersuchungen stehen autoritäre Regime, Demokratisierung und Sicherheitsfragen. Die Themen also, die einem spontan einfallen, wenn der Nahe Osten erwähnt wird. „Es sind aber auch die Themen der Türkei. Ich wollte sie jedoch durch die Perspektive anderer Regionen untersuchen“, erklärt sie ihre Motivation und Spezialisierung. „Aber natürlich interessiert mich auch die Türkei selbst, die ihre Interessen immer stärker vertritt und ihren politischen Aktivismus in der Region verstärkt.“ Neben ihrem CATS-Fellowship promoviert Tanrıverdi an der Middle East Technical University (METU) in Ankara, ihr Schwerpunkt ist die Außenpolitik Nordafrikas.

Der Fokus ihrer Arbeit ist kein Zufall. „Als ich aufwuchs, war das Thema Naher Osten immer im Hintergrund präsent“, erläutert sie. Tanrıverdi ist 36. Der erste Golfkrieg, die Anschläge vom 11. September, der Irakkrieg und Afghanistan bestimmten während der 1990er- und 2000er-Jahre die Nachrichten und Debatten in ihrer Heimat, der Türkei. Sie sei immer schon an Politik interessiert gewesen, sagt die Forscherin. Warum sie sich schließlich auf eine Region spezialisierte, hat auch etwas mit einer kleinen Laune des Schicksals zu tun.

Mit dem Buch "Die Midaq-Gasse" begann Nebahat Tanrıverdi Yaşars Leidenschaft für die MENA-Region. © Boris Streubel

Ein Buch mit lebenslanger Wirkung

Tanrıverdi wurde in Erzincan geboren, einer kleinen, abgelegenen, aber lebhaften Provinz Ostanatoliens, wo sie lebte, bis sie acht Jahre alt war. „Viel Lesestoff gab es da nicht.“ Doch die Familie besaß einige Bücher von Nobelpreisträger*innen, die damals über eine Zeitung verbreitet wurden. Darunter: „Die Midaq-Gasse“ des Ägypters Nagib Machfus. Der Roman von 1947 spielt in einer Gasse Kairos und erzählt vom Leben ihrer Bewohner*innen – und im größeren Zusammenhang vom Umbruch des Landes. „Das habe ich nie aus der Hand gelegt. Das Buch hat mich seit damals mein ganzes Leben lang begleitet. Die Region hat mich schon immer interessiert, aber ich glaube, dieses Buch hat den Nahen Osten für mich ein für alle Mal zum interessantesten Ort überhaupt gemacht – ich wollte mehr darüber erfahren“, beschreibt sie ihre erste Begegnung mit dem Gebiet.

1992 zog sie mit ihrer Familie in die Stadt Bursa in der gleichnamigen westanatolischen Provinz. Bursa ist eine kosmopolitische Großstadt, in der viele türkische und ausländische Migrant*innen leben. Dort wuchs sie inmitten von Kindern mit völlig verschiedenen Lebensgeschichten auf. Heute sieht sie darin die Wurzel für ihr starkes Interesse, das Leben durch die Linse anderer Kulturen zu betrachten. Deshalb schrieb sie sich später an der Universität auch für Internationale Beziehungen ein. Ein Fach, in dem ein solcher Perspektivenwechsel sehr hilfreich ist.

Neben ihrem Fellowship am Centrum für angewandte Türkeistudien (CATS) doktoriert Nebahat Tanrıverdi Yaşar an der Middle East Technical University in Ankara. © Boris Streubel

Noch tiefer in den Nahen Osten

2010 begann Tanrıverdi am Center for Middle Eastern Strategic Studies (ORSAM) zu arbeiten, einem Forschungsinstitut in Ankara. Zeitgleich fing sie ein Masterstudium im Fachbereich Nahoststudien der METU an. Zu der Zeit befasste sie sich mit den Wahlen in Tunesien und Ägypten und arbeitete an einer vergleichenden Analyse der sozialen Bewegungen in beiden Ländern. Dann brach Ende 2010 der Arabische Frühling los. „Ich steckte damals schon lange tief in dem Thema drin“, blickt sie zurück. „Alle damaligen Veröffentlichungen über Nordafrika bestätigten, dass die Region am Rande einer gesellschaftlichen Explosion stand. Auch die Wahlen, mit denen ich mich beschäftigte, signalisierten das: durch gewalttätige Vorfälle, Wahlbehinderungen in einigen Gegenden und so weiter.“ Plötzlich ragte sie mit ihrer Arbeit heraus, denn an ihrem Institut war sie die Einzige, die hierzu forschte. Es scheint, als hätte das Schicksal Tanrıverdi durch den Arabischen Frühling noch tiefer in die verwickelten Geschehnisse der MENA-Region hineingezogen. „Das hat es in der Tat“, bestätigt sie lächelnd.

EU oder nicht EU?

Eine andere dominante Debatte während Tanrıverdis Jugend war die über ein Jahrzehnt andauernde Frage, ob und wie die Türkei der EU beitritt. „Die Diskussionen darüber nahmen während meiner Schulzeit einen wichtigen Platz in meinem Denken ein.“ Schon damals fand sie es bereichernd, in diese Debatte auch die Perspektive der MENA-Region einzubeziehen. Denn so strikt voneinander abgegrenzt sind die EU, die Türkei und die MENA-Länder nicht: Zwischen ihnen liegt nur das Mittelmeer, das sie gleichzeitig eint.

MENA-Region
Die MENA-Region umfasst Staaten Nordafrikas und des Nahen Ostens. © iStock

Einigkeit, geeintes Vorgehen – genau darin liegt für Tanrıverdi auch der Schlüssel für bessere, andere Beziehungen in der Region: „Für die MENA-Länder ist es wichtig, gemeinsame Lehren zu ziehen. Wir haben gemeinsame Probleme zu lösen. Aber die Länder betreiben Außenpolitik seit Langem nur innerhalb ihres begrenzten nationalen Systems.“ Betrachte man zum Beispiel die nordafrikanischen Staaten, sähe man keine Integration, keine Einheit, keine richtige politische Zusammenarbeit. Das Gleiche gelte für die Türkei und ihre Nachbarn. „Heute weiß man, dass der größte Erfolg der EU diese Art von Integration ist“, betont Tanrıverdi. Man dürfe nicht unterschätzen, wie wichtig eine solche Einheit sei, wenn es um Entwicklung, Sicherheit und Demokratisierung gehe. Im Wettbewerb der nationalen oder geopolitischen Interessen in der heutigen Welt der internationalen Beziehungen, so die Expertin, gehe zudem die entscheidende Frage völlig verloren: Was brauchen die Menschen, die dort leben?

Im Wettbewerb von nationalen und geopolitischen Interessen gehen laut der Sozialwissenschaftlerin die Menschen vor Ort oft vergessen. © Boris Streubel

Konflikt als Lebensnorm

Auf diese Frage warfen sie unter anderem ihre Forschungsaufenthalte im Irak zurück. „In einer Umgebung zu arbeiten, in der es einen Konflikt gegeben hat, verändert die Wahrnehmung“, erklärt sie. Zwischen 2010 und 2014 war sie in Mossul, Kirkuk, Erbil und Sulaymaniyya, um dort zu beobachten, wie man nach einem Konflikt so etwas wie einen Normalzustand herbeiführt. „Was mich sehr schockiert hat, war, wie die Menschen Konflikte als etwas Normales in ihrem Leben akzeptieren“, erzählt sie. Erst hier verstand Tanrıverdi, dass ein Konflikt von außen als etwas Unnormales betrachtet wird – aber für diejenigen, die ihn durchleben, ist er irgendwann Teil ihres täglichen Lebens. Umso wichtiger sei es, die Menschen in den Fokus zu rücken.

Ihre bislang gewonnenen Erkenntnisse fasst Tanrıverdi jetzt zusammen mit dem Ziel, ein besseres Verständnis für die einzelnen Länder der Region und deren Dynamiken zu erlangen. Beheben könne man die langjährigen Probleme des Gebiets ihrer Meinung nach nur in Zusammenarbeit. Vor allem die Herausforderungen, die mit der Menschenwürde zusammenhängen, wie Sicherheit, Entwicklung und Demokratie. Nebahat Tanrıverdi Yaşars selbst auferlegte Mission ist also nicht weniger als die Suche nach einer regionalen Lösung. Ihre Vision: politische Beziehungen, die anerkennen, dass man gemeinsam sehr viel mehr erreichen kann. Vielleicht eine Art MENA-EU?

Centrum für angewandte Türkeistudien (CATS)

Das von der Stiftung Mercator und vom Auswärtigen Amt geförderte Centrum für angewandte Türkeistudien (CATS) analysiert die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen in der Türkei und den europäisch-türkischen Beziehungen. Es ist Teil der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP).
www.swp-berlin.org/catstuerkei/