Warum Streit so wichtig ist
Heute ist der Internationale Tag der Demokratie. Die steigende Wahlbeteiligung in vielen Ländern habe eine Kehrseite, sagt Michael Meyer-Resende, Geschäftsführer von Democracy Reporting International, im Interview. Demokrat*innen dürften nun nicht in eine Wagenburg-Mentalität verfallen – sie müssten den Streit suchen.
Jahrzehntelang schien die Demokratie in den westlichen Staaten sicher. Inzwischen ist häufig von einer Krisensituation die Rede. Wie ist es dazu gekommen, Herr Meyer-Resende?
Michael Meyer-Resende: Lange wurde über eine Krise der Demokratie gesprochen, weil immer weniger Leute wählen gingen. Ein Teil der Wahlbevölkerung schien sich abgekoppelt zu haben. Jetzt steigt die Wahlbeteiligung in den meisten Ländern. Es gibt mehr Leidenschaft für die Demokratie. Das ist gut. Die Kehrseite – diese Leidenschaft kommt oft von einer extremen Polarisierung. Und sie kommt von Kräften, die die Demokratie in Frage stellen. Deshalb mag ich das Reden von der „Demokratiekrise“ nicht. Das Wort „Krise“ klingt, als gäbe es keine eindeutigen Akteure oder keine Verantwortlichkeiten. Wenn jemand auf der Straße zusammengeschlagen wird, sagen wir nicht: „Er hat eine Gesundheitskrise.“ Die Demokratie wird von Kräften angegriffen, die einen autoritären Staat errichten wollen.
Michael Meyer-Resende
Michael Meyer-Resende ist Jurist und Geschäftsführer von Democracy Reporting International, einer überparteilichen und unabhängigen NGO in Berlin.
Wie schätzen Sie das ein, wie stark ist die Demokratie tatsächlich unter Druck?
Meyer-Resende: Sie ist noch nicht so unter Druck wie in den 1930ern, wo selbst wohlmeinende Zeitgenossen, die demokratischen Institutionen – wie Parlamente, Gerichte, freie Medien – für Anachronismen aus dem 19. Jahrhundert hielten. Aber sie ist unter Druck. Wir sehen es in allen Indexen. Zum Beispiel zeigen die Charts der Economist Intelligence Unit, dass es seit 2006 bergab geht. Nur 5 Prozent der Weltbevölkerung leben in einer funktionsfähigen Demokratie, weniger als 50 Prozent leben in „beschädigten Demokratien“, die Mehrheit in autokratisch regierten Ländern. Man kann über die Details streiten, aber der Trend ist klar. Andererseits gibt es immer mehr Proteste. Bürger*innen lassen sich weniger gefallen: Schauen Sie nach Belarus, nach Hongkong oder in den Libanon.
Im politischen Streit ist das Wort 'Populismus' ein leerer Begriff geworden, in den jeder reinmischt, was ihm nicht gefällt.
In vielen Ländern sind in den vergangenen Jahren populistische Bewegungen erstarkt – was bedeutet das in diesem Zusammenhang?
Meyer-Resende: Ich kann mit dem Wort „Populismus“ nichts anfangen. Im politischen Streit ist das ein leerer Begriff geworden, in den jeder reinmischt, was ihm nicht gefällt. Die Definitionen der Wissenschaftler*innen überzeugen mich nicht. Sie sagen, Populist*innen glaubten zwei Dinge: Einerseits, dass es einen einheitlichen Volkswillen gäbe und sie ihn kennen, egal, was Wahlergebnisse aussagen. Anderseits, dass es eine Elite gäbe, die ihre Privilegien verteidigt.
Die erste Haltung ist vermessen und undemokratisch. Wer meint, er wüsste den Willen von 80 Millionen Deutschen besser als sie selbst, sollte beim Psychologen vorsprechen. Die zweite Haltung, „Anti-Elitismus“, ist in einer Demokratie unproblematisch. Die 68er wollten durch ihren langen Marsch durch die Institutionen die Eliten ändern und das ist ihnen zum Teil auch gelungen. Wenn nun Ostdeutsche oder Deutsche mit Migrationshintergrund sich nicht ausreichend repräsentiert fühlen – wofür sie Gründe haben –, haben sie jedes Recht auf legalem und demokratischem Weg daraufhin zu arbeiten, in der Elite besser repräsentiert zu werden. Was kritisieren wir, wenn wir von „Populismus“ sprechen?
Das Problem ist nicht „Populismus“, sondern anti-demokratische Akteure, die in vielen Schattierungen auftreten. Um nur zwei zu nennen: Rassisten, die Mitbürger*innen mit irgendwie ausländischen Wurzeln die Gleichheit absprechen, siehe AfD, oder autoritäre Parteien, die Medien und Gerichte kontrollieren wollen und unfaire Wahlen abhalten – Stichwort Ungarn.
Eine Zeitlang galten das Internet und später soziale Medien als Hoffnungsträger für Demokratisierung. Inzwischen werden sie oft sogar als ein Grund für die Krise, für das Aufkommen von Hass und Hetze genannt. Was ist in diesem Bereich schiefgegangen?
Meyer-Resende: Die gängige Erklärung für die Probleme ist, dass extremistische Meinungen sich gegenseitig in sogenannten Filterblasen verstärken. Dafür hat die Wissenschaft aber bisher wenige Anhaltspunkte gefunden. Schiefgegangen ist, dass die großen Firmen, wie Facebook und Google, keinen Sinn dafür haben, dass Kommunikation politisch sensibel ist. Die Gesetzgeber in den USA und in Europa haben den Firmen das Leben leicht gemacht, als sie ihnen vor 20 Jahren bestätigt haben, dass sie nicht für die Inhalte verantwortlich sind.
Natürlich schreibt Facebook keine Posts und YouTube macht keine Videos, aber sie wählen aus, welche Inhalte wir zuerst sehen oder welche wir empfohlen bekommen. Wie jede*r Redakteur*in weiß, ist das Auswählen von Nachrichten ein entscheidender Teil des Journalismus. Die Firmen kreieren für jeden von uns eine eigene Welt. Ihr Interesse dabei ist simpel: Sie wollen Werbeanzeigen verkaufen. Je mehr Zeit wir auf ihren Diensten verbringen, desto mehr können sie mit Anzeigen verdienen. Also wird unsere Aufmerksamkeit durch sensationelle oder besonders kontroverse Nachrichten und Videos gefesselt. Für die politische Debatte ist das kontraproduktiv und das System lässt sich leicht für politische Zwecke missbrauchen.
Das Problem ist mit der Frage von Künstlicher Intelligenz (KI) verquickt. Die Firmen wählen Inhalte mit KI aus. Auch die Lösungen arbeiten mit KI, denn die Firmen identifizieren Verstöße gegen ihre Regeln mit KI. Jeden Monat werden auf Facebook viele Milliarden Inhalte gestellt. Die Mitarbeitenden sehen davon nur einen ganz kleinen Teil. Das ganze System läuft automatisiert ab. KI trifft die meisten Entscheidungen. Eine Debatte über Lösungen ist daher immer auch eine Debatte über KI.
In der Coronakrise wurden zuletzt zahlreiche Bürgerrechte eingeschränkt. Kann das eine Gefahr für die Demokratie als solche sein?
Meyer-Resende: Natürlich. Die Beschränkungen in den ersten Monaten entsprachen einem Ausnahmezustand, ob man das so nennt oder nicht. Wir haben die 27 EU-Mitgliedstaaten verglichen. Die Hälfte hat einen Ausnahmezustand erklärt, die andere nicht. Im Ergebnis waren sich die Restriktionen aber ähnlich – de facto hatten alle einen Ausnahmezustand.
Juristisch wurde in den ersten Wochen viel mit der heißen Nadel gestrickt, dann aber nachgebessert. In Polen und Ungarn wurde die Pandemie anfangs missbraucht, um andere Ziele zu erreichen. In Ungarn durfte die Regierung einige Zeit ohne jede Kontrolle schalten und walten, wie sie wollte und hat Entscheidungen getroffen, die mit der Pandemie nichts zu tun hatten. Auch bei uns gab es Auswüchse – ein Bußgeld, weil jemand alleine auf einer Parkbank sitzt. Viele Demonstrationen wurden verboten. Die Gerichte haben korrigiert, was zeigt, wie sehr die Demokratie unabhängige Gerichte braucht.
Was ist aus Ihrer Sicht gefragt, um die Demokratie zukunftssicher zu machen?
Meyer-Resende: Wir müssen immer am demokratischen Grundkonsens arbeiten und eine klare Linie ziehen: Wann wird eine politische Haltung undemokratisch und warum? Diese Linie müssen wir verteidigen. Der unklare Populismus-Begriff vernebelt, wo diese Linie verläuft. Oft wird die Linie zu eng gezogen. Und: Demokraten dürfen nicht in eine Wagenburg-Mentaliät verfallen, in der man möglichst wenig miteinander streitet. Das hilft nur den extremen Polarisierer*innen, die behaupten es gäbe nur zwei Camps: Sie und alle anderen. Streit und Diskussion bringen Aufmerksamkeit. Diese Aufmerksamkeit brauchen die demokratischen Akteure. Konkret gesagt: gerne mehr Streit über den besten Weg in der Corona-Krise, weniger Aufmerksamkeit für Leute, die meinen, Bill Gates hätte die Krankheit erfunden. Über Sachthemen sollte möglichst viel gestritten werden, über demokratische Spielregeln wenig. Im Moment ist es oft umgekehrt.
re:constitution – Exchange and Analysis on Democracy and the Rule of Law in Europe
Democracy Reporting International und das Forum Transregionale Studien leiten das von der Stiftung Mercator geförderte Programm re:constitution. Es trägt dazu bei, ein Netzwerk aufzubauen, das sich mit europäischen Verfassungsfragen, dem Spannungsfeld zwischen pluralistischen Auslegungen von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sowie der Zusammenarbeit innerhalb der EU befasst.
www.reconstitution.eu