Europa und Türkei: ein Tisch­gespräch zwischen den Stühlen

Fulya Kocukoglu und Mani Pournaghi Azarin einer Meyhane, einer typischen Taverne in Istanbul
Europa und Türkei: ein Tisch­gespräch zwischen den Stühlen
Autorin: Marion Sendker Fotos: Elif Savari Kızıl 30.01.2024

Zu Tisch in Istanbul: Lassen sich die deutsch-türkischen Beziehungen über ein paar Mezze verbessern? Mani Pournaghi Azar und Fulya Kocukoğlu versuchen es und diskutieren, was es für einen stärkeren kulturellen Austausch zwischen Europa und der Türkei braucht.

Es ist ein kühler, grauer Mittag im Januar. Die Sonne versteckt sich hinter dicken Wolken. Mani Pournaghi Azar und Fulya Kocukoğlu sitzen auf einer der unzähligen Dach­terrassen Istanbuls. Sie gehört zu einer Meyhane, einer traditionellen Taverne im Stadtteil Beyoğlu auf der europäischen Seite der Metropole. Mani Pournaghi Azar und Fulya Kocukoğlu haben sich vor etwa zwei Jahren als Stipendiat*innen des Zukunfts­forums Türkei Europa kennen­gelernt. Er ist Deutscher, sie Türkin. Beide leben in Istanbul. Gelegentlich treffen sich Alumni wie sie in Istanbul zum Essen. Mani Pournaghi Azar leitet das Goethe-Institut in Istanbul. Fulya Kocukoğlu ist Programm­direktorin beim gemein­nützigen Global Relations Forum (GRF) und koordiniert dort unter anderem inter­nationale Diplomatie-Seminare. Beide wollen mit ihrer Arbeit das Verhältnis zwischen der Europäischen Union (EU) und der Türkei verbessern.

Es ist ein typisches Tischgespräch in einer Meyhane. Vor allem in den 1980er- und 1990er- Jahren waren diese Tavernen beliebte Treffpunkte für Intellektuelle. Bei Mezze, Fisch, zahl­reichen Gläsern Raki und vielen Zigaretten konnten sie stunden­lang über den Zustand und die Zukunft ihres Landes philosophieren. Am Ende soll es dann oft und mit Augen­zwinkern geheißen haben: „Jetzt haben wir mal wieder die Türkei gerettet!“ Der Satz ist noch immer landesweit als Rede­wendung für gute Gespräche bekannt.

Zu Tisch in einer typischen Taverne in Istanbul.
Zu Tisch in einer typischen Taverne in Istanbul. © Elif Savari Kızıl
Die beiden Kulturschaffenden mit der Autorin bei der Bestellung des Essens. Die Autorin Marion Sendker war 2019 Teil des Zukunftsforums Türkei Europa.
Die beiden Kulturschaffenden mit der Autorin bei der Bestellung des Essens. Die Autorin Marion Sendker war 2019 Teil des Zukunftsforums Türkei Europa. © Elif Savari Kızıl
Besonders in den 1980er Jahren waren Tavernen beliebte Treffpunkte für Intellektuelle. Bei Mezze, Fisch und Raki wurde über die Politik des Landes philosophiert.
Besonders in den 1980er Jahren waren Tavernen beliebte Treffpunkte für Intellektuelle. Bei Mezze, Fisch und Raki wurde über die Politik des Landes philosophiert. © Elif Savari Kızıl

Heute ist die diplomatische Lage jedoch deutlich angespannter. Die EU-Beitritts­verhandlungen beispiels­weise sind seit 2021 eingefroren. Vertreter*innen vieler Mitglied­staaten fordern sogar, dass der Prozess komplett abgebrochen wird. Ihre Argumente decken sich größten­teils mit den vielen Kritik­punkten an der Türkei, die jährlich in den EU-Landes­berichten fest­gehalten werden: massiver Zerfall des Rechts­staats, schlechter Stand der Menschen­rechte und wachsender Autoritarismus im Land. Unter diesen Umständen wollen auch viele Türk*innen offenbar nicht mehr leben: Die Zahl der Asyl- und Visums­anträge in Europa, vor allem in Deutschland, haben in den vergangenen Monaten ein historisches Hoch erreicht. „Das Interesse an Sprach­kursen ist bei uns am Goethe-Institut zuletzt stark angestiegen“, merkt Mani an. Er glaubt, dass die Menschen sich so auf eine Ausreise vor­bereiten wollen. „Es geht ihnen auch um mehr Meinungs­freiheit und wirtschaftliche Stabilität.“

Fulya nickt. Natürlich habe die Türkei ihre Hausaufgaben in Sachen Rechts­staatlichkeit und Menschen­rechte zu erledigen. „Aber Europa muss auch etwas tun und Entgegen­kommen signalisieren“, fordert sie. „Dass es bisher nicht geklappt hat, ist nicht nur unsere Schuld.“ Sie weist darauf hin, dass die Türkei bereits seit 60 Jahren EU-Mitglied werden will. So lange habe bisher kein Land warten müssen. Dann übt Fulya Kritik an der aktuellen Türkei­politik Europas: „Die EU gibt uns zum Beispiel Geld, damit wir die Migrant*innen behalten und sie nicht nach Europa weiter­ziehen können.“ Das sei unfair und einseitig, sagt sie. „Es wirkt manchmal so, als wolle Europa der Türkei nur Geld geben, damit die Menschen hierbleiben.“ Zeitgleich gebe es selbst für gut ausgebildete Türk*innen gerade Probleme, ein Schengen-Visum zu bekommen. „Es gibt Studierende, die deswegen an Erasmus-Programmen nicht teilnehmen können“, weiß Fulya. Auch Unternehmer*innen, Akademiker*innen oder Künstler*innen beschweren sich seit Monaten, dass ihre Visums­anträge für Konferenzen oder geschäftliche Termine abgelehnt werden. Wie geht es also weiter?

Fulya Kocukoğlu ist Programmdirektorin beim Global Relations Forum in Istanbul. Außerdem ist sie Mitbegründerin der Jugendplattform Bruxircle, deren Schwerpunkt auf den Beziehungen zwischen der EU und der Türkei liegt. 2022 war sie Teil des Zukunftsforums Türkei Europa.
Fulya Kocukoğlu ist Programmdirektorin beim Global Relations Forum in Istanbul. Außerdem ist sie Mitbegründerin der Jugendplattform Bruxircle, deren Schwerpunkt auf den Beziehungen zwischen der EU und der Türkei liegt. 2022 war sie Teil des Zukunftsforums Türkei Europa. © Elif Savari Kızıl
Mani Pournaghi Azar ist ein international tätiger europäischer Kulturmanager. Seit Oktober 2021 ist er Leiter des Goethe-Instituts Istanbul/Türkei. Er war 2021 beim Zukunftsforum Türkei Europa dabei.
Mani Pournaghi Azar ist ein international tätiger europäischer Kulturmanager. Seit Oktober 2021 ist er Leiter des Goethe-Instituts Istanbul/Türkei. Er war 2021 beim Zukunftsforum Türkei Europa dabei. © Elif Savari Kızıl

Europäisch-türkische Beziehungen – früher besser als heute?

„Weißt du“, sagt Fulya, „das Verhältnis der Türkei zum Westen ist so alt, dass es nicht mehr kaputt­gehen kann.“ Mani überlegt. Er will antworten, doch da kommt der Kellner und serviert den beiden viele kleine Teller mit türkischen Vorspeisen. Mani hält Fulya nun einen Teller mit „yoğurtlu pazı“ hin: Joghurt auf mit Kräutern gekochtem Mangold. Sie nickt und führt ihren Gedanken von eben zu Ende: „Die Beziehungen zu Europa begannen ja nicht erst mit den Beitrittsverhandlungen. Sie stammen aus der osmanischen Zeit, vielleicht sogar noch früher. Im 19. Jahr­hundert begann im Osmanischen Reich die Verwestlichung, nicht nur im Militär, sondern auch in der Verwaltung, im Bildungs­wesen und in der Kunst. Bildungs­reformen führten zur Gründung von fast zehn Schulen, darunter französische, italienische und deutsche Einrichtungen.“ Eins dieser französischen Gymnasien hat Fulya selbst besucht.

„Ich glaube, dass die Beziehungen damals besser waren als heute“, führt Fulya weiter aus. Die Führung im Osmanischen Reich habe sich genauso wie später der Republikgründer Atatürk stärker gen Westen orientiert als die heutige Regierung des Landes. „Es ging früher auch um Architektur, Geschichte und Kunst“, sagt sie.

Zukunftsforum Türkei Europa

Das Zukunftsforum Türkei Europa bringt seit 2015 jährlich engagierte türkische und europäische Nachwuchs­führungs­kräfte zu einem intensiven Dialog zusammen. Die Programm­phase findet im Wechsel in der Türkei und Deutschland sowie anderen europäischen Ländern statt. Die Bewerbung für das 10. Turkey Europe Future Forum in Athen vom 8. bis 14. September ist bis zum 7. Februar möglich: Hier bewerben

Ist Kultur die bessere Politik?

Mani stimmt das optimistisch: „Was du gerade gesagt hast, zeigt doch: Auch wenn das Verhältnis ab und an mal holprig wird, darf es nicht das Ende sein! Ich glaube, gerade deshalb ist es jetzt wichtiger als je zuvor, dass wir die Beziehungen verbessern.“ Ziel­führend könnten kulturelle Plattformen sein, durch die sich einzelne Türk*innen und Europäer*innen besser kennen­lernen können. „Aus meiner Arbeit weiß ich genau, dass der Austausch elementar ist“, sagt er. Das Interesse an Sprach­kursen oder Kunst­stipendien des Goethe-Institutes sei zuletzt stark angestiegen. Fulya nickt heftig. „Einer Studie der Economic Development Foundation mit jungen Menschen in der Türkei zufolge sieht mehr als die Hälfte der Befragten die EU positiv und ist für eine Mitgliedschaft.“ Sie freut sich, dass gerade die Jugend noch an Europa glaube. Und dass auch unabhängig davon, was die Politik mache, der Wunsch nach Austausch und kultureller Vernetzung in der Bevölkerung sehr groß sei: „Die Beziehungen sind viel besser als ihr Ruf“, ist sie über­zeugt und nimmt sich noch einen Nachschlag Mezze. „Der Grund, warum die Verhandlungen überhaupt weitergehen, ist die Stärke der türkischen Zivil­gesellschaft“, erklärt sie weiter.

Essen neben Erinnerungen. Neben Bildern von Mustafa Kemal Atatürk, der als Gründer der modernen Türkei an­ge­sehen wird, ...
Essen neben Erinnerungen. Neben Bildern von Mustafa Kemal Atatürk, der als Gründer der modernen Türkei an­ge­sehen wird, ... © Elif Savari Kızıl
Essen neben Erinnerungen. Neben Bildern von Mustafa Kemal Atatürk, der als Gründer der modernen Türkei angesehen wird, hängen alte Poster an der Wand der Taverne– etwa eine Werbung der New York Times aus der 1980er Jahren „These Times demand the Times“.
Zu Tisch in einer typischen Taverne in Istanbul.w York Times aus der 1980er Jahren „These Times demand the Times“. © Elif Savari Kızıl

„Versteh mich nicht falsch“, sagt Mani. „Kulturelle Beziehungen allein werden die Welt nicht retten.“ „So sollte es aber sein!“, unterbricht Fulya ihn. Er grinst. „Mehr kulturelles Verständnis und Austausch können einen wichtigen Beitrag leisten und Kommunikations­kanäle offenhalten“, schließt Mani. Dann listet er eine ganze Reihe von europäischen Programmen mit der Zivil­gesellschaft auf, bei denen es um Themen wie Meinungs­freiheit oder Rechts­staatlichkeit geht. Über den Austausch würden aber auch mögliche Vorurteile abgebaut und damit ein solider Boden für noch mehr Kooperation geschaffen. „Was da passiert, ist höchst sozial und auf eine gewisse Art auch politisch“, findet er.

Fulya nickt und gibt ein persönliches Beispiel: „Als ich 2022 Stipendiatin des Zukunfts­forums Türkei Europa war, habe ich viele neue Perspektiven kennen­gelernt.“ Eine Gruppe junger Türk*innen und Europäer*innen kam damals in Berlin zusammen. Der Krieg gegen die Ukraine war zu dem Zeitpunkt ein paar Monate alt. Fulya erinnert sich besonders an eine Diskussion über Russland und Energie­sicherheit. „Es gab ein paar Meinungs­verschiedenheiten, und plötzlich wurde das Thema weniger theoretisch, sondern sehr emotional besprochen.“ Noch heute ist sie beeindruckt, wie die Teilnehmer*innen mit der Auseinander­setzung umgegangen seien. Es sei nicht darum gegangen, die andere Seite zu überzeugen, sondern sie zu verstehen. „Es war eine so respekt­volle und ehrliche Diskussion“, schwärmt Fulya.

Mani grinst: „Ich glaube, so ein Erlebnis ist typisch für das Zukunfts­forum!“ Er war im Sommer 2021 als Stipendiat mit anderen jungen Menschen in Istanbul und Izmir unterwegs. „Die Stärke des Programms ist, dass die Teilnehmenden aus den unterschiedlichsten Branchen kommen.“ Politik, Diplomatie, Wirtschaft, Wissenschaft, Justiz oder Kunst: Mani findet diese Durch­mischung wichtig. Eine Lehre, die er aus dem Stipendium gezogen hat und die ihn noch heute begleitet: „Es ist egal, woher du kommst, solange du offen bist für Austausch und neue Ideen.“

Ein Land zwischen den Stühlen

Fulya und Mani sind so in ihr Gespräch vertieft, dass sie erst jetzt den Kellner bemerken: „Darf ich abräumen und noch einen Çay bringen?“ Die beiden nicken. Ein heißer Tee wird jetzt guttun. Bis der Kellner mit den tulpen­förmigen Çaygläsern zurück ist, verfallen Fulya und Mani in ein nach­denkliches Schweigen. „Der März könnte interessant werden“, murmelt Mani dann. Auf EU-Ebene sollen neue Vorschläge der Kommission für mehr Kooperation mit der Türkei in Bereichen wie Handel, Migration und Energie besprochen werden. Menschen­rechte oder Rechts­staatlichkeit werden in dem Kommissions­papier nicht genannt. Fulya findet das spannend: „Das sind ja die Bereiche, in denen wir fest­stecken.“ Vielleicht sei es deswegen sinnvoll, sich politisch erst mal auf andere Themen der Beziehungen zu konzentrieren. Fulya glaubt, dass es auch einen Versuch wert wäre, die Beitritts­verhandlungen zu reanimieren und ein weiteres Kapitel der Beitritts­kriterien zu öffnen. „Wenn wir erst mal an anderer Stelle voran­kommen, tut sich sicherlich später auch etwas bei wichtigen Themen wie den Menschen­rechten oder der Rechts­staatlichkeit.“ Mani stimmt ihr zu. Außerdem müssten beide Seiten mehr an den Problemen arbeiten, ergänzt sie: „Wir sind ein Land zwischen Europa und Asien und sitzen manchmal zwischen den Stühlen.“ Wenn sich die Türkei zum Beispiel von Europa abwende, würden sich die Beziehungen Richtung Osten verstärken. „Das verärgert natürlich den Westen und schürt Spannungen.“ Auch wenn es sicher nicht einfach ist, hofft Fulya, dass Europa diese geopolitische Realität der Türkei mehr wahr­nehmen kann.

Mittlerweile haben die beiden ihren Tee aus­getrunken und stehen auf. Die Taverne hat ihnen gefallen. „Lass uns das bald vertiefen, am besten mit den anderen Alumni in der Stadt“, schlägt Mani vor. Fulya freut sich. Auch wenn ihre Meyhane-Besuche sicherlich nicht die „Türkei retten“, wie der türkische Volksmund behauptet: Sie sind ein Anfang und ein guter Schritt in eine gemeinsame Zukunft der Türkei und Europas.


Zukunftsforum Türkei Europa

Das Zukunftsforum Türkei Europa ist ein Projekt der Stiftung Mercator. Seit 2015 bringt es jährlich engagierte türkische und europäische Nach­wuchs­führungs­kräfte für einen intensiven Dialog zusammen.
www.turkey-europe-future-forum.com