Europa und Türkei: ein Tischgespräch zwischen den Stühlen
Zu Tisch in Istanbul: Lassen sich die deutsch-türkischen Beziehungen über ein paar Mezze verbessern? Mani Pournaghi Azar und Fulya Kocukoğlu versuchen es und diskutieren, was es für einen stärkeren kulturellen Austausch zwischen Europa und der Türkei braucht.
Es ist ein kühler, grauer Mittag im Januar. Die Sonne versteckt sich hinter dicken Wolken. Mani Pournaghi Azar und Fulya Kocukoğlu sitzen auf einer der unzähligen Dachterrassen Istanbuls. Sie gehört zu einer Meyhane, einer traditionellen Taverne im Stadtteil Beyoğlu auf der europäischen Seite der Metropole. Mani Pournaghi Azar und Fulya Kocukoğlu haben sich vor etwa zwei Jahren als Stipendiat*innen des Zukunftsforums Türkei Europa kennengelernt. Er ist Deutscher, sie Türkin. Beide leben in Istanbul. Gelegentlich treffen sich Alumni wie sie in Istanbul zum Essen. Mani Pournaghi Azar leitet das Goethe-Institut in Istanbul. Fulya Kocukoğlu ist Programmdirektorin beim gemeinnützigen Global Relations Forum (GRF) und koordiniert dort unter anderem internationale Diplomatie-Seminare. Beide wollen mit ihrer Arbeit das Verhältnis zwischen der Europäischen Union (EU) und der Türkei verbessern.
Es ist ein typisches Tischgespräch in einer Meyhane. Vor allem in den 1980er- und 1990er- Jahren waren diese Tavernen beliebte Treffpunkte für Intellektuelle. Bei Mezze, Fisch, zahlreichen Gläsern Raki und vielen Zigaretten konnten sie stundenlang über den Zustand und die Zukunft ihres Landes philosophieren. Am Ende soll es dann oft und mit Augenzwinkern geheißen haben: „Jetzt haben wir mal wieder die Türkei gerettet!“ Der Satz ist noch immer landesweit als Redewendung für gute Gespräche bekannt.
Heute ist die diplomatische Lage jedoch deutlich angespannter. Die EU-Beitrittsverhandlungen beispielsweise sind seit 2021 eingefroren. Vertreter*innen vieler Mitgliedstaaten fordern sogar, dass der Prozess komplett abgebrochen wird. Ihre Argumente decken sich größtenteils mit den vielen Kritikpunkten an der Türkei, die jährlich in den EU-Landesberichten festgehalten werden: massiver Zerfall des Rechtsstaats, schlechter Stand der Menschenrechte und wachsender Autoritarismus im Land. Unter diesen Umständen wollen auch viele Türk*innen offenbar nicht mehr leben: Die Zahl der Asyl- und Visumsanträge in Europa, vor allem in Deutschland, haben in den vergangenen Monaten ein historisches Hoch erreicht. „Das Interesse an Sprachkursen ist bei uns am Goethe-Institut zuletzt stark angestiegen“, merkt Mani an. Er glaubt, dass die Menschen sich so auf eine Ausreise vorbereiten wollen. „Es geht ihnen auch um mehr Meinungsfreiheit und wirtschaftliche Stabilität.“
Fulya nickt. Natürlich habe die Türkei ihre Hausaufgaben in Sachen Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte zu erledigen. „Aber Europa muss auch etwas tun und Entgegenkommen signalisieren“, fordert sie. „Dass es bisher nicht geklappt hat, ist nicht nur unsere Schuld.“ Sie weist darauf hin, dass die Türkei bereits seit 60 Jahren EU-Mitglied werden will. So lange habe bisher kein Land warten müssen. Dann übt Fulya Kritik an der aktuellen Türkeipolitik Europas: „Die EU gibt uns zum Beispiel Geld, damit wir die Migrant*innen behalten und sie nicht nach Europa weiterziehen können.“ Das sei unfair und einseitig, sagt sie. „Es wirkt manchmal so, als wolle Europa der Türkei nur Geld geben, damit die Menschen hierbleiben.“ Zeitgleich gebe es selbst für gut ausgebildete Türk*innen gerade Probleme, ein Schengen-Visum zu bekommen. „Es gibt Studierende, die deswegen an Erasmus-Programmen nicht teilnehmen können“, weiß Fulya. Auch Unternehmer*innen, Akademiker*innen oder Künstler*innen beschweren sich seit Monaten, dass ihre Visumsanträge für Konferenzen oder geschäftliche Termine abgelehnt werden. Wie geht es also weiter?
Europäisch-türkische Beziehungen – früher besser als heute?
„Weißt du“, sagt Fulya, „das Verhältnis der Türkei zum Westen ist so alt, dass es nicht mehr kaputtgehen kann.“ Mani überlegt. Er will antworten, doch da kommt der Kellner und serviert den beiden viele kleine Teller mit türkischen Vorspeisen. Mani hält Fulya nun einen Teller mit „yoğurtlu pazı“ hin: Joghurt auf mit Kräutern gekochtem Mangold. Sie nickt und führt ihren Gedanken von eben zu Ende: „Die Beziehungen zu Europa begannen ja nicht erst mit den Beitrittsverhandlungen. Sie stammen aus der osmanischen Zeit, vielleicht sogar noch früher. Im 19. Jahrhundert begann im Osmanischen Reich die Verwestlichung, nicht nur im Militär, sondern auch in der Verwaltung, im Bildungswesen und in der Kunst. Bildungsreformen führten zur Gründung von fast zehn Schulen, darunter französische, italienische und deutsche Einrichtungen.“ Eins dieser französischen Gymnasien hat Fulya selbst besucht.
„Ich glaube, dass die Beziehungen damals besser waren als heute“, führt Fulya weiter aus. Die Führung im Osmanischen Reich habe sich genauso wie später der Republikgründer Atatürk stärker gen Westen orientiert als die heutige Regierung des Landes. „Es ging früher auch um Architektur, Geschichte und Kunst“, sagt sie.
Zukunftsforum Türkei Europa
Das Zukunftsforum Türkei Europa bringt seit 2015 jährlich engagierte türkische und europäische Nachwuchsführungskräfte zu einem intensiven Dialog zusammen. Die Programmphase findet im Wechsel in der Türkei und Deutschland sowie anderen europäischen Ländern statt. Die Bewerbung für das 10. Turkey Europe Future Forum in Athen vom 8. bis 14. September ist bis zum 7. Februar möglich: Hier bewerben
Ist Kultur die bessere Politik?
Mani stimmt das optimistisch: „Was du gerade gesagt hast, zeigt doch: Auch wenn das Verhältnis ab und an mal holprig wird, darf es nicht das Ende sein! Ich glaube, gerade deshalb ist es jetzt wichtiger als je zuvor, dass wir die Beziehungen verbessern.“ Zielführend könnten kulturelle Plattformen sein, durch die sich einzelne Türk*innen und Europäer*innen besser kennenlernen können. „Aus meiner Arbeit weiß ich genau, dass der Austausch elementar ist“, sagt er. Das Interesse an Sprachkursen oder Kunststipendien des Goethe-Institutes sei zuletzt stark angestiegen. Fulya nickt heftig. „Einer Studie der Economic Development Foundation mit jungen Menschen in der Türkei zufolge sieht mehr als die Hälfte der Befragten die EU positiv und ist für eine Mitgliedschaft.“ Sie freut sich, dass gerade die Jugend noch an Europa glaube. Und dass auch unabhängig davon, was die Politik mache, der Wunsch nach Austausch und kultureller Vernetzung in der Bevölkerung sehr groß sei: „Die Beziehungen sind viel besser als ihr Ruf“, ist sie überzeugt und nimmt sich noch einen Nachschlag Mezze. „Der Grund, warum die Verhandlungen überhaupt weitergehen, ist die Stärke der türkischen Zivilgesellschaft“, erklärt sie weiter.
„Versteh mich nicht falsch“, sagt Mani. „Kulturelle Beziehungen allein werden die Welt nicht retten.“ „So sollte es aber sein!“, unterbricht Fulya ihn. Er grinst. „Mehr kulturelles Verständnis und Austausch können einen wichtigen Beitrag leisten und Kommunikationskanäle offenhalten“, schließt Mani. Dann listet er eine ganze Reihe von europäischen Programmen mit der Zivilgesellschaft auf, bei denen es um Themen wie Meinungsfreiheit oder Rechtsstaatlichkeit geht. Über den Austausch würden aber auch mögliche Vorurteile abgebaut und damit ein solider Boden für noch mehr Kooperation geschaffen. „Was da passiert, ist höchst sozial und auf eine gewisse Art auch politisch“, findet er.
Fulya nickt und gibt ein persönliches Beispiel: „Als ich 2022 Stipendiatin des Zukunftsforums Türkei Europa war, habe ich viele neue Perspektiven kennengelernt.“ Eine Gruppe junger Türk*innen und Europäer*innen kam damals in Berlin zusammen. Der Krieg gegen die Ukraine war zu dem Zeitpunkt ein paar Monate alt. Fulya erinnert sich besonders an eine Diskussion über Russland und Energiesicherheit. „Es gab ein paar Meinungsverschiedenheiten, und plötzlich wurde das Thema weniger theoretisch, sondern sehr emotional besprochen.“ Noch heute ist sie beeindruckt, wie die Teilnehmer*innen mit der Auseinandersetzung umgegangen seien. Es sei nicht darum gegangen, die andere Seite zu überzeugen, sondern sie zu verstehen. „Es war eine so respektvolle und ehrliche Diskussion“, schwärmt Fulya.
Mani grinst: „Ich glaube, so ein Erlebnis ist typisch für das Zukunftsforum!“ Er war im Sommer 2021 als Stipendiat mit anderen jungen Menschen in Istanbul und Izmir unterwegs. „Die Stärke des Programms ist, dass die Teilnehmenden aus den unterschiedlichsten Branchen kommen.“ Politik, Diplomatie, Wirtschaft, Wissenschaft, Justiz oder Kunst: Mani findet diese Durchmischung wichtig. Eine Lehre, die er aus dem Stipendium gezogen hat und die ihn noch heute begleitet: „Es ist egal, woher du kommst, solange du offen bist für Austausch und neue Ideen.“
Ein Land zwischen den Stühlen
Fulya und Mani sind so in ihr Gespräch vertieft, dass sie erst jetzt den Kellner bemerken: „Darf ich abräumen und noch einen Çay bringen?“ Die beiden nicken. Ein heißer Tee wird jetzt guttun. Bis der Kellner mit den tulpenförmigen Çaygläsern zurück ist, verfallen Fulya und Mani in ein nachdenkliches Schweigen. „Der März könnte interessant werden“, murmelt Mani dann. Auf EU-Ebene sollen neue Vorschläge der Kommission für mehr Kooperation mit der Türkei in Bereichen wie Handel, Migration und Energie besprochen werden. Menschenrechte oder Rechtsstaatlichkeit werden in dem Kommissionspapier nicht genannt. Fulya findet das spannend: „Das sind ja die Bereiche, in denen wir feststecken.“ Vielleicht sei es deswegen sinnvoll, sich politisch erst mal auf andere Themen der Beziehungen zu konzentrieren. Fulya glaubt, dass es auch einen Versuch wert wäre, die Beitrittsverhandlungen zu reanimieren und ein weiteres Kapitel der Beitrittskriterien zu öffnen. „Wenn wir erst mal an anderer Stelle vorankommen, tut sich sicherlich später auch etwas bei wichtigen Themen wie den Menschenrechten oder der Rechtsstaatlichkeit.“ Mani stimmt ihr zu. Außerdem müssten beide Seiten mehr an den Problemen arbeiten, ergänzt sie: „Wir sind ein Land zwischen Europa und Asien und sitzen manchmal zwischen den Stühlen.“ Wenn sich die Türkei zum Beispiel von Europa abwende, würden sich die Beziehungen Richtung Osten verstärken. „Das verärgert natürlich den Westen und schürt Spannungen.“ Auch wenn es sicher nicht einfach ist, hofft Fulya, dass Europa diese geopolitische Realität der Türkei mehr wahrnehmen kann.
Mittlerweile haben die beiden ihren Tee ausgetrunken und stehen auf. Die Taverne hat ihnen gefallen. „Lass uns das bald vertiefen, am besten mit den anderen Alumni in der Stadt“, schlägt Mani vor. Fulya freut sich. Auch wenn ihre Meyhane-Besuche sicherlich nicht die „Türkei retten“, wie der türkische Volksmund behauptet: Sie sind ein Anfang und ein guter Schritt in eine gemeinsame Zukunft der Türkei und Europas.
Zukunftsforum Türkei Europa
Das Zukunftsforum Türkei Europa ist ein Projekt der Stiftung Mercator. Seit 2015 bringt es jährlich engagierte türkische und europäische Nachwuchsführungskräfte für einen intensiven Dialog zusammen.
www.turkey-europe-future-forum.com