Curitiba, der Stern Brasiliens
Bereits in den 1970er-Jahren machte sich Curitiba als innovative und nachhaltige Stadt weltweit einen Namen. Die wohl grünste Metropole Brasiliens setzt statt U-Bahnen auf Metrobusse. Sie bringen die Einwohner*innen auf sternförmig angeordneten Straßen fast überall hin. Unterwegs in einer Stadt, die auch heute noch als Paradebeispiel für klimafreundliche Mobilität gilt.
Pünktlich rollt der orangefarbene Metrobus an die röhrenförmige Haltestelle. Auf der Praça Rui Barbosa im Zentrum Curitibas steigt Patricia zu. Ihre Fahrkarte kostet 4,50 Reais, umgerechnet einen Euro – egal, wie lang die Strecke ist und wie oft sie umsteigt. „Ich mache so gut wie alles mit dem Bus; fast überall gibt es eine Haltestelle nebenan“, erzählt die junge Frau mit den langen dunklen Haaren. Patricia gehört zu den 1,2 Millionen Menschen, die die Schnellbusse in der Hauptstadt des südbrasilianischen Bundesstaates Paraná täglich nutzen.
Sie wohnt in dem Viertel Mercúrio am Stadtrand und ist sich bewusst, dass sie in einer außergewöhnlich grünen Stadt lebt. „Es ist angenehm hier“, sagt sie, als der Metrobus auf einer eigenen Fahrspur das „Shopping Estação“ passiert, ein Shoppingcenter in einem ehemaligen Bahnhof. Curitiba ist für ein effizientes öffentliches Transportsystem und eine nachhaltige Stadtentwicklung seit den 1970er-Jahren international bekannt.
Kompakt und trotzdem Raum für Grün
Curitiba ist eine besondere Stadt – nicht nur in Brasilien. 1996 wurde sie auf dem Kongress der Stadtplaner in Istanbul zur innovativsten Stadt der Welt gekürt, 2010 bekam sie für ihre nachhaltige, ganzheitliche Stadtentwicklung in Schweden den „Globe Sustainable City Award“. Auch heute noch dient sie als Forschungsgegenstand: „Wir haben Curitiba für unsere Arbeit als Beispiel genommen, um zu zeigen, wie man eine Stadt gestalten kann, wenn es um die Herausforderungen des Klimawandels geht“, sagt der Wissenschaftler Felix Creutzig. Er leitet die Arbeitsgruppe Landnutzung, Infrastruktur und Transport am Berliner Klimaforschungsinstitut MCC (Mercator Research Institute on Global Commons and Climate Change).
Der Klimawandel führe in Städten zu einem Zielkonflikt: Zum einen sollten sie kompakt gebaut sein, damit Verkehr und Gebäude möglichst wenig Kohlendioxid ausstoßen. Zum anderen sei genug Raum für Grünflächen nötig, um besser mit Hitzewellen und anderen Klimafolgen zurechtzukommen. „Curitiba schafft beides – durch die bebauten Achsen und das effiziente Transportsystem die Entfernungen zu minimieren und weniger CO2 zu emittieren und durch das Freihalten von Grünflächen vorhandene Hitzeeffekte abzuschwächen“, erklärt Creutzig.
Das MCC hat in seiner aktuellen Studie ein mathematisch fundiertes Modell eines dreidimensionalen Ballungsraums entwickelt, das diesen Konflikt verringert. Es zeigt, dass die Siedlungsfläche für eine klimafreundliche Mobilität die Form eines Sterns haben sollte: entlang auseinanderlaufender Verkehrsachsen dichte Bebauung und in den Zwischenräumen möglichst viele Grünflächen mit kühlender Funktion, etwa Parks. Wie viele Zacken dieser Stern idealerweise hat und wie lang diese sind, hängt von den jeweiligen Kosten des innerstädtischen Verkehrs ab und davon, welcher Aspekt des Klimawandels vor Ort im Fokus steht. Die Stadtplanung spielt also eine wichtige Rolle für den Klimaschutz.
„Ich mag die Vielfalt“
Das Modell gleicht dem Muster, nach dem der Architekt und ehemalige Bürgermeister Jaime Lerner Curitiba gestaltet hat. Sein Büro liegt in der gut situierten Rua Bom Jesus im Viertel Juvevê, wo er einst 50 Jahre mit seiner Familie wohnte und als Inhaber der Jaime Lerner Arquitetos Associados auch heute noch arbeitet. „Viele Sachen, die ich für Curitiba gedacht habe, sind in diesem Haus passiert“, sagt der 82-Jährige.
Er setzt auf das „integrierte Leben“, wie er es nennt: Familie und Arbeit, Mobilität und Freizeit sollen möglichst nah beieinander sein. „Je integrierter, desto besser“, betont er. Lerner schätzt Städte, in denen sich reiche und arme Leute begegnen können. „Ich mag die Vielfalt“, erklärt er und schreibt „diversidade“ auf ein Blatt Papier. Daneben skizziert er eine Schildkröte. In den meisten Städten Lateinamerikas leben die Menschen getrennt nach Einkommen, Herkunft und Hautfarbe. In Curitiba gehöre wie beim Schildkrötenpanzer, der aus einzelnen Platten besteht, alles zusammen. Hier braucht niemand ein eigenes Auto, um sich gut bewegen zu können und die Dinge des täglichen Lebens zu erledigen. Die Busse bringen einen fast überall hin – wie in vielen Metropolen Europas.
Wie fühlt sich das Leben in Curitiba an? Ein Bewohner erzählt.
Kultur und Bildung sind hohe Werte
Das weiß auch Patricia zu schätzen. „Das Krankenhaus ist dort, die Haltestelle hier“, sagt sie und blickt auf das Hospital Universitário Cajuru. Sie kommt von einem Termin beim Kieferorthopäden. Sonst habe sie in ihrem Wohnviertel Mercúrio alles Wichtige in der Nähe. Patricia arbeitet als Reinigungskraft. Nebenbei hat sie angefangen, wieder zur Schule zu gehen. Danach würde sie gerne studieren. „Wissen ist der einzige Reichtum, den man mitnimmt“, sagt Patricia. „Wer sein Leben verbessern will, muss dranbleiben.“
Sie lebt in einer Stadt, die stark von Einwanderinnen und Einwanderern beeinflusst wurde. 1693 von Portugies*innen gegründet, zog Curitiba im 19. Jahrhundert vor allem Deutsche, Pol*innen und Ukrainer*innen an. Sie brachten nicht nur ihre Kultur, sondern auch ihr Verständnis für Bildung mit – und haben das Bild der Stadt geprägt: Es gibt einen Weihnachtsmarkt mit Piroggen und Plätzchen; die Universität ist die älteste in ganz Brasilien, die Secondhandbuchläden sind die besten des Landes und erinnern an Gemeindebüchereien in Deutschland.
Vorbild für andere Städte
Auch Lerner, der 1971 Bürgermeister wurde, ist Sohn jüdisch-polnischer Einwanderer. Sein Vorgänger hatte noch die Bürgersteige verkleinert, damit mehr Autos auf die Straße passten. Lerners erste Idee war es, die Einwohner*innen zu überzeugen, auf das Auto zu verzichten. Dabei war Curitiba, wo damals 700.000 Menschen lebten, eine typisch brasilianische Stadt, in der es Stunden vom Zentrum in die Außenbezirke dauerte und umgekehrt. In jener Zeit hieß es, dass jede Stadt mit einer Million Einwohner*innen eine U-Bahn haben sollte. Aber in Curitiba fehlte das Geld dafür. Stattdessen entstand ein umfassendes Metrobussystem, das die Autos nach und nach zurückdrängte. Ein Modell, das Städten wie Bogotá und Seoul als Vorbild diente.
Ein weiterer Fokus lag auf dem Ausbau und der Pflege von Parks – mit Erfolg: Auf eine Person kommen inzwischen 60 Quadratmeter Grünfläche. Im Zentrum reiht sich ein grüner Platz an den anderen. Während die Einwohner*innen in Rio de Janeiro sonntags an den Strand gehen und in São Paulo in die Shoppingmalls, treffen sie sich in Curitiba in Parks. Besonders beliebt ist der erst kürzlich revitalisierte „Passeio Público“, einer der ältesten Parks der Stadt – eine Mischung aus Park, Zoo und Volksfest.
Patricia ist auf dem Weg zum „Jardim Botânico“. Der botanische Garten mit dem Art-nouveau-Gewächshaus ist eine der Hauptattraktionen und das Symbol Curitibas. Auf ihn sind die „curitibanos“ besonders stolz. Vor seiner Einweihung 1991 verschandelte hier eine Müllkippe die Gegend. So wie Jaime Lerner einem U-Bahn-Bau kritisch gegenüberstand, ließ er sich auch keine Müllverbrennungsanlagen aufschwatzen. Stattdessen schuf er ein Bewusstsein für Mülltrennung und Recycling. „In Curitiba trennen wir den Müll zu Hause“, erklärt Patricia.
Für die Flüsse, die regelmäßig anschwellen und über die Ufer treten, gab Lerner Staudämme in Auftrag. Auf diese Weise entstanden Seen, die heute das Zentrum von Parkanlagen wie dem „Parque Barigui“ bilden. Sie sind nach den Familien benannt, denen die Flächen einst gehörten. Besaß eine Familie beispielsweise eine Fläche von 100.000 Quadratmetern, gingen unter Lerner 80.000 in den Besitz der Stadt über. Die Eigentümer*innen behielten 20.000 für immer steuerfrei. Eine gewinnbringende Lösung.
Erst schnelle Erfolge, dann größere Vorhaben
Lerner setzt bis heute auf punktuelle Maßnahmen, weswegen er von „acupuntura urbana“ spricht. Hätte er Curitiba damals in einem einzigen großen Stadtplanungsprojekt verwandeln wollen, hätte das wahrscheinlich nicht geklappt. Deswegen realisierte er mit seinen Mitarbeiter*innen oft in kurzer Zeit einzelne kleinere Projekte – die zentrale Fußgängerzone schuf er zum Beispiel innerhalb von 48 Stunden. Zunächst waren die Händler*innen dagegen, weil die Kund*innen die bequeme Angewohnheit hatten, ihr Auto vor einem Geschäft zu parken, einzukaufen und wieder zu fahren. Die Händler*innen hatten Angst, dass ihnen das Geschäft wegbleiben könnte. Doch diese Sorge erwies sich als unbegründet. Schnelle Erfolge wie die Fußgängerzone haben einen Vorzeigeeffekt, der die Bürger*innen überzeugt und es so ermöglicht, mit größeren Vorhaben wie dem Transportsystem weiterzumachen.
„Durch das Bussystem in Curitiba ist der Transport 50 Prozent kostengünstiger, als er mit einer Metrolinie gewesen wäre“, erklärt Lerner. „Die Kreativität beginnt, wenn man eine Null beim Budget streicht; die Nachhaltigkeit, wenn man zwei Nullen streicht“, lautet einer seiner Lieblingssätze. Die grüne Stadt Curitiba war für ihn fast immer ein Beispiel für kontinuierliche Erneuerung. Auch im 21. Jahrhundert steht sie vor Herausforderungen: Die Zahl der Einwohner*innen ist auf 1,8 Millionen gestiegen, mehr Menschen können und wollen sich ein Auto als Statussymbol leisten. Curitiba ist gewissermaßen auch ein Opfer des eigenen Erfolgs geworden: Wegen der gut funktionierenden Stadt haben sich viele internationale Unternehmen angesiedelt, darunter auch deutsche wie Bosch oder Siemens. Inzwischen machen Onlinefahrdienste dem öffentlichen Transportsystem Konkurrenz.
Neue Busse und ringförmige Verbindungen
Um dem entgegenzuwirken, hat Rafael Greca angefangen, die Busflotte zu erneuern und zu erweitern. Als aktueller Bürgermeister möchte er Lerners Idee von Mobilität weiterdenken. Die von Mercedes produzierten Fahrzeuge gehen nach und nach in die Flotte des öffentlichen Nahverkehrs über. Für dieses Jahr sind 450 neue Busse geplant. Derzeit sind mehr als 1.000 Fahrzeuge im Einsatz. Das kommt auch Patricia zugute, die sich jeden Tag und auch von Stadt zu Stadt mit öffentlichen Verkehrsmitteln fortbewegt. „Wenn ich am Sonntag einen Bus verpasse, muss ich lange auf den nächsten warten“, sagt sie. „Es gibt einige Busse, in die es hineinregnet.“
Kann Curitiba auch ein Vorbild für neue oder rasant wachsende Städte in Afrika und Asien sein? „Die Idee der linearen Transportachsen würde ich verteidigen“, sagt der Wissenschaftler Felix Creutzig. Auch im digitalen Zeitalter gehöre das Einrichten von Verkehrsachsen zu den zentralen Instrumenten der Kommunalpolitik in großen Städten. Ab einer bestimmten Größe sollte jedoch ein ringförmiges Verkehrssystem hinzukommen. Genau das ist in Curitiba geplant. Die Stadt kann sich auf den bisherigen Erfolgen nicht ausruhen – das betont auch Jaime Lerner: „Curitiba muss sich weiter erneuern und immer wieder neu erfinden.“
Mercator Research Institute on Global Commons and Climate Change (MCC)
Die Partnergesellschaft der Stiftung Mercator befasst sich mit den großen Herausforderungen des Klimawandels und der Nutzung globaler Gemeinschaftsgüter. Ihre Forschung ist vor allem in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften beheimatet. Das MCC bietet wissenschaftliche Beratung und möchte relevante Problemlösungen für die Politik identifizieren.
www.mcc-berlin.net