Curitiba, der Stern Brasiliens

Luftaufnahme von Curitiba
Curitiba, der Stern Brasiliens
Autorin: Martina Farmbauer Fotos: Martina Farmbauer, Reinaldo Coddou 31.03.2020

Bereits in den 1970er-Jahren machte sich Curitiba als innovative und nach­haltige Stadt welt­weit einen Namen. Die wohl grünste Metropole Brasiliens setzt statt U-Bahnen auf Metro­busse. Sie bringen die Einwohner*innen auf stern­förmig angeordneten Straßen fast über­all hin. Unterwegs in einer Stadt, die auch heute noch als Parade­beispiel für klima­freundliche Mobilität gilt.

Pünktlich rollt der orange­farbene Metrobus an die röhren­förmige Halte­stelle. Auf der Praça Rui Barbosa im Zentrum Curitibas steigt Patricia zu. Ihre Fahrkarte kostet 4,50 Reais, umgerechnet einen Euro – egal, wie lang die Strecke ist und wie oft sie umsteigt. „Ich mache so gut wie alles mit dem Bus; fast überall gibt es eine Halte­stelle nebenan“, erzählt die junge Frau mit den langen dunklen Haaren. Patricia gehört zu den 1,2 Millionen Menschen, die die Schnell­busse in der Haupt­stadt des süd­brasilianischen Bundes­staates Paraná täglich nutzen.

Sie wohnt in dem Viertel Mercúrio am Stadtrand und ist sich bewusst, dass sie in einer außer­gewöhnlich grünen Stadt lebt. „Es ist angenehm hier“, sagt sie, als der Metrobus auf einer eigenen Fahrspur das „Shopping Estação“ passiert, ein Shopping­center in einem ehemaligen Bahnhof. Curitiba ist für ein effizientes öffentliches Transport­system und eine nachhaltige Stadt­entwicklung seit den 1970er-Jahren inter­national bekannt.

Kompakt und trotzdem Raum für Grün

Curitiba ist eine besondere Stadt – nicht nur in Brasilien. 1996 wurde sie auf dem Kongress der Stadt­planer in Istanbul zur innovativsten Stadt der Welt gekürt, 2010 bekam sie für ihre nach­haltige, ganz­heitliche Stadt­entwicklung in Schweden den „Globe Sustainable City Award“. Auch heute noch dient sie als Forschungs­gegen­stand: „Wir haben Curitiba für unsere Arbeit als Beispiel genommen, um zu zeigen, wie man eine Stadt gestalten kann, wenn es um die Heraus­forderungen des Klima­wandels geht“, sagt der Wissen­schaftler Felix Creutzig. Er leitet die Arbeits­gruppe Land­nutzung, Infra­struktur und Transport am Berliner Klima­forschungs­institut MCC (Mercator Research Institute on Global Commons and Climate Change).

Orangene Curitiba Busflotte in Brasilien.
Curitibas Bussflotte ist überall © Martina Farmbauer
Patricia aus Curitiba fährt mit dem Bus durch die Stadt.
Patricia fährt gerne Bus © Martina Farmbauer
Felix Creutzing
Prof. Dr. Felix Creutzig vom MCC. © Reinaldo Coddou

Der Klimawandel führe in Städten zu einem Ziel­konflikt: Zum einen sollten sie kompakt gebaut sein, damit Verkehr und Gebäude möglichst wenig Kohlen­dioxid aus­stoßen. Zum anderen sei genug Raum für Grün­flächen nötig, um besser mit Hitze­wellen und anderen Klima­folgen zurecht­zu­kommen. „Curitiba schafft beides – durch die bebauten Achsen und das effiziente Transport­system die Entfernungen zu minimieren und weniger CO2 zu emittieren und durch das Frei­halten von Grün­flächen vorhandene Hitze­effekte ab­zu­schwächen“, erklärt Creutzig.

Das MCC hat in seiner aktuellen Studie ein mathematisch fundiertes Modell eines drei­dimensionalen Ballungs­raums entwickelt, das diesen Konflikt verringert. Es zeigt, dass die Siedlungs­fläche für eine klima­freundliche Mobilität die Form eines Sterns haben sollte: entlang auseinander­laufender Verkehrs­achsen dichte Bebauung und in den Zwischen­räumen möglichst viele Grün­flächen mit kühlender Funktion, etwa Parks. Wie viele Zacken dieser Stern idealer­weise hat und wie lang diese sind, hängt von den jeweiligen Kosten des inner­städtischen Verkehrs ab und davon, welcher Aspekt des Klima­wandels vor Ort im Fokus steht. Die Stadt­planung spielt also eine wichtige Rolle für den Klima­schutz.

ÖPNV-Netz Curitibas
Die sternförmige Anordnung spiegelt sich auch in Curitibas ÖPNV-Liniennetz wider. © M. Dörrbecker

„Ich mag die Vielfalt“

Das Modell gleicht dem Muster, nach dem der Architekt und ehemalige Bürger­meister Jaime Lerner Curitiba gestaltet hat. Sein Büro liegt in der gut situierten Rua Bom Jesus im Viertel Juvevê, wo er einst 50 Jahre mit seiner Familie wohnte und als Inhaber der Jaime Lerner Arquitetos Associados auch heute noch arbeitet. „Viele Sachen, die ich für Curitiba gedacht habe, sind in diesem Haus passiert“, sagt der 82-Jährige.

Er setzt auf das „integrierte Leben“, wie er es nennt: Familie und Arbeit, Mobilität und Freizeit sollen möglichst nah beieinander sein. „Je integrierter, desto besser“, betont er. Lerner schätzt Städte, in denen sich reiche und arme Leute begegnen können. „Ich mag die Vielfalt“, erklärt er und schreibt „diversidade“ auf ein Blatt Papier. Daneben skizziert er eine Schild­kröte. In den meisten Städten Latein­amerikas leben die Menschen getrennt nach Einkommen, Herkunft und Haut­farbe. In Curitiba gehöre wie beim Schild­kröten­panzer, der aus einzelnen Platten besteht, alles zusammen. Hier braucht niemand ein eigenes Auto, um sich gut bewegen zu können und die Dinge des täglichen Lebens zu erledigen. Die Busse bringen einen fast überall hin – wie in vielen Metropolen Europas.

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Wie fühlt sich das Leben in Curitiba an? Ein Bewohner erzählt.

Kultur und Bildung sind hohe Werte

Das weiß auch Patricia zu schätzen. „Das Krankenhaus ist dort, die Haltestelle hier“, sagt sie und blickt auf das Hospital Universitário Cajuru. Sie kommt von einem Termin beim Kieferorthopäden. Sonst habe sie in ihrem Wohnviertel Mercúrio alles Wichtige in der Nähe. Patricia arbeitet als Reinigungskraft. Nebenbei hat sie angefangen, wieder zur Schule zu gehen. Danach würde sie gerne studieren. „Wissen ist der einzige Reichtum, den man mitnimmt“, sagt Patricia. „Wer sein Leben verbessern will, muss dranbleiben.“

Die Bushaltestelle am Krankenhaus in Curitiba
Patricias Haltestelle am Krankenhaus © Martina Farmbauer

Sie lebt in einer Stadt, die stark von Einwanderinnen und Einwanderern beeinflusst wurde. 1693 von Portugies*innen gegründet, zog Curitiba im 19. Jahrhundert vor allem Deutsche, Pol*innen und Ukrainer*innen an. Sie brachten nicht nur ihre Kultur, sondern auch ihr Verständnis für Bildung mit – und haben das Bild der Stadt geprägt: Es gibt einen Weihnachtsmarkt mit Piroggen und Plätzchen; die Universität ist die älteste in ganz Brasilien, die Secondhandbuchläden sind die besten des Landes und erinnern an Gemeindebüchereien in Deutschland.

Vorbild für andere Städte

Auch Lerner, der 1971 Bürgermeister wurde, ist Sohn jüdisch-polnischer Einwanderer. Sein Vorgänger hatte noch die Bürgersteige verkleinert, damit mehr Autos auf die Straße passten. Lerners erste Idee war es, die Einwohner*innen zu überzeugen, auf das Auto zu verzichten. Dabei war Curitiba, wo damals 700.000 Menschen lebten, eine typisch brasilianische Stadt, in der es Stunden vom Zentrum in die Außenbezirke dauerte und umgekehrt. In jener Zeit hieß es, dass jede Stadt mit einer Million Einwohner*innen eine U-Bahn haben sollte. Aber in Curitiba fehlte das Geld dafür. Stattdessen entstand ein umfassendes Metrobussystem, das die Autos nach und nach zurückdrängte. Ein Modell, das Städten wie Bogotá und Seoul als Vorbild diente.

Ein weiterer Fokus lag auf dem Ausbau und der Pflege von Parks – mit Erfolg: Auf eine Person kommen inzwischen 60 Quadratmeter Grünfläche. Im Zentrum reiht sich ein grüner Platz an den anderen. Während die Einwohner*innen in Rio de Janeiro sonntags an den Strand gehen und in São Paulo in die Shoppingmalls, treffen sie sich in Curitiba in Parks. Besonders beliebt ist der erst kürzlich revitalisierte „Passeio Público“, einer der ältesten Parks der Stadt – eine Mischung aus Park, Zoo und Volksfest.

Der Treffpunkt Passeio Público in der Stadt Curitiba. Ein belebter Platz mit Restaurants und Tischen, an denen ältere Heeren Gesellschaftsspiele spielen.
Beliebter Treffpunkt: Passeio Público © Martina Farmbauer
Der Botanische Garten in Curitiba
Der Botanische Garten © Martina Farmbauer

Patricia ist auf dem Weg zum „Jardim Botânico“. Der botanische Garten mit dem Art-nouveau-Gewächshaus ist eine der Hauptattraktionen und das Symbol Curitibas. Auf ihn sind die „curitibanos“ besonders stolz. Vor seiner Einweihung 1991 verschandelte hier eine Müllkippe die Gegend. So wie Jaime Lerner einem U-Bahn-Bau kritisch gegenüberstand, ließ er sich auch keine Müllverbrennungsanlagen aufschwatzen. Stattdessen schuf er ein Bewusstsein für Mülltrennung und Recycling. „In Curitiba trennen wir den Müll zu Hause“, erklärt Patricia.
Für die Flüsse, die regelmäßig anschwellen und über die Ufer treten, gab Lerner Staudämme in Auftrag. Auf diese Weise entstanden Seen, die heute das Zentrum von Parkanlagen wie dem „Parque Barigui“ bilden. Sie sind nach den Familien benannt, denen die Flächen einst gehörten. Besaß eine Familie beispielsweise eine Fläche von 100.000 Quadratmetern, gingen unter Lerner 80.000 in den Besitz der Stadt über. Die Eigentümer*innen behielten 20.000 für immer steuerfrei. Eine gewinnbringende Lösung.

Erst schnelle Erfolge, dann größere Vorhaben

Lerner setzt bis heute auf punktuelle Maßnahmen, weswegen er von „acupuntura urbana“ spricht. Hätte er Curitiba damals in einem einzigen großen Stadtplanungsprojekt verwandeln wollen, hätte das wahrscheinlich nicht geklappt. Deswegen realisierte er mit seinen Mitarbeiter*innen oft in kurzer Zeit einzelne kleinere Projekte – die zentrale Fußgängerzone schuf er zum Beispiel innerhalb von 48 Stunden. Zunächst waren die Händler*innen dagegen, weil die Kund*innen die bequeme Angewohnheit hatten, ihr Auto vor einem Geschäft zu parken, einzukaufen und wieder zu fahren. Die Händler*innen hatten Angst, dass ihnen das Geschäft wegbleiben könnte. Doch diese Sorge erwies sich als unbegründet. Schnelle Erfolge wie die Fußgängerzone haben einen Vorzeigeeffekt, der die Bürger*innen überzeugt und es so ermöglicht, mit größeren Vorhaben wie dem Transportsystem weiterzumachen.

„Durch das Bussystem in Curitiba ist der Transport 50 Prozent kostengünstiger, als er mit einer Metrolinie gewesen wäre“, erklärt Lerner. „Die Kreativität beginnt, wenn man eine Null beim Budget streicht; die Nachhaltigkeit, wenn man zwei Nullen streicht“, lautet einer seiner Lieblingssätze. Die grüne Stadt Curitiba war für ihn fast immer ein Beispiel für kontinuierliche Erneuerung. Auch im 21. Jahrhundert steht sie vor Herausforderungen: Die Zahl der Einwohner*innen ist auf 1,8 Millionen gestiegen, mehr Menschen können und wollen sich ein Auto als Statussymbol leisten. Curitiba ist gewissermaßen auch ein Opfer des eigenen Erfolgs geworden: Wegen der gut funktionierenden Stadt haben sich viele internationale Unternehmen angesiedelt, darunter auch deutsche wie Bosch oder Siemens. Inzwischen machen Onlinefahrdienste dem öffentlichen Transportsystem Konkurrenz.

Neue Busse und ringförmige Verbindungen

Um dem entgegenzuwirken, hat Rafael Greca angefangen, die Busflotte zu erneuern und zu erweitern. Als aktueller Bürgermeister möchte er Lerners Idee von Mobilität weiterdenken. Die von Mercedes produzierten Fahrzeuge gehen nach und nach in die Flotte des öffentlichen Nahverkehrs über. Für dieses Jahr sind 450 neue Busse geplant. Derzeit sind mehr als 1.000 Fahrzeuge im Einsatz. Das kommt auch Patricia zugute, die sich jeden Tag und auch von Stadt zu Stadt mit öffentlichen Verkehrsmitteln fortbewegt. „Wenn ich am Sonntag einen Bus verpasse, muss ich lange auf den nächsten warten“, sagt sie. „Es gibt einige Busse, in die es hineinregnet.“

Curitibas amtierender Bürgermeister Rafael Greca mit Autorin Martina Farmbauer im Bürgermeisterbüro.
Curitibas amtierender Bürgermeister Rafael Greca mit Martina Farmbauer © Martina Farmbauer
Der ehemalige Bürgermeister Jaime Lerner und Autorin Martina Farmbauer sitzen an einem Tisch.
Der ehemalige Bürgermeister Jaime Lerner mit Autorin Martina Farmbauer © Martina Farmbauer

Kann Curitiba auch ein Vorbild für neue oder rasant wachsende Städte in Afrika und Asien sein? „Die Idee der linearen Transport­achsen würde ich verteidigen“, sagt der Wissenschaftler Felix Creutzig. Auch im digitalen Zeit­alter gehöre das Einrichten von Verkehrs­achsen zu den zentralen Instrumenten der Kommunal­politik in großen Städten. Ab einer bestimmten Größe sollte jedoch ein ring­förmiges Verkehrs­system hinzu­kommen. Genau das ist in Curitiba geplant. Die Stadt kann sich auf den bisherigen Erfolgen nicht aus­ruhen – das betont auch Jaime Lerner: „Curitiba muss sich weiter erneuern und immer wieder neu erfinden.“

Mercator Research Institute on Global Commons and Climate Change (MCC)

Die Partnergesellschaft der Stiftung Mercator befasst sich mit den großen Heraus­forderungen des Klima­wandels und der Nutzung globaler Gemein­schafts­güter. Ihre Forschung ist vor allem in den Wirtschafts- und Sozial­wissenschaften beheimatet. Das MCC bietet wissenschaftliche Beratung und möchte relevante Problem­lösungen für die Politik identifizieren.
www.mcc-berlin.net