Ein Landkreis wird weltoffen

Wie gut gelingt Integration? Halten die Menschen zusammen? Das können Kommunen mit einem Selbstcheck testen. Der Landkreis Teltow-Fläming hat mitgemacht und herausgefunden: In drei Bereichen gibt es viel zu tun.
Babak stellt sein Fahrrad an die graue Fassade der Flüchtlingsunterkunft am südlichen Rand der Kleinstadt Jüterbog. „Ohne Fahrrad kommt man hier schwer weg“, sagt der 57-jährige Iraner und wuchtet die Einkäufe einer Nachbarin vom Lenker. Seine Bleibe teilt er mit 60 Bewohner*innen unterschiedlicher Nationalitäten, sie alle warten auf die Bewilligung ihres Asylantrags. Jeden Tag fährt Babak mit dem Rad ins Zentrum der 14.000-Einwohner-Stadt, den Feldweg entlang, vorbei an mittelalterlichen Wehrtürmen und Stadtmauern. Die Fassaden der denkmalgeschützten Häuser um den Marktplatz sind prächtig. Sie leuchten in Gelb oder Grün und umrahmen das älteste Rathaus Brandenburgs, einen spätgotischen Backsteinbau mit kleinen Türmchen. Doch am liebsten radelt er in den Wald. Da hat er Ruhe, kann für sich sein, atmen – wird nicht argwöhnisch beäugt.
Weltoffenheit versus Ausgrenzung
Seit zwei Jahren lebt er im brandenburgischen Jüterbog im Landkreis Teltow-Fläming. Der Iraner erzählt offen und mit leiser Stimme von abweisenden Gesichtern auf der Straße, wenn er Besorgungen macht. Von seinem Wunsch und der Schwierigkeit, mit Einheimischen in Kontakt zu kommen und viel mehr Deutsch zu sprechen. Vom Gefühl, wegen seiner Herkunft ausgegrenzt zu werden. Dabei lebt er in einem Landkreis, der sich starkmacht für ein Zusammenleben in Vielfalt und gegen Ausgrenzung. Im Rahmen des Projekts „Weltoffene Kommune“ hat Teltow-Fläming einen Handlungsplan aufgesetzt, um die Zugehörigkeit aller Einwohner*innen zum Gemeinwesen zu fördern.


Selbstcheck zur Integrationspolitik
Die Aktion „Weltoffene Kommune“ hat das Ziel, Städte und Gemeinden in ihrem Engagement für Weltoffenheit, Toleranz und gutes Zusammenleben zu stärken. Inspiriert ist sie vom US-Projekt „Welcoming America“, einer Initiative, die seit 2009 amerikanische Städte und Gemeinden zu „Welcoming Cities“ zertifiziert. Neben Workshops, Webinaren und Beratungen umfasst die Aktion den „Selbstcheck Weltoffene Kommune“, entwickelt mit Expert*innen aus der kommunalen Praxis und Wissenschaft. Dieser Fragebogen beleuchtet, welche Defizite es in der lokalen Integrationspolitik gibt und wo auf politischer und gesellschaftlicher Ebene Handlungsbedarf besteht. Das soll den Blick auf Dinge richten, die im täglichen Miteinander nicht im Fokus stehen.


Es geht um gesellschaftlichen Zusammenhalt
Neben Iserlohn und Bochum gehört der Landkreis Teltow-Fläming in Brandenburg zu den Pilotgemeinden. „Weltoffene Kommunen sind ein Schlüssel für den gesellschaftlichen Zusammenhalt in unserem Land und ein wichtiges Vorbild für Offenheit und Toleranz. Das wird in diesen Zeiten mehr denn je gebraucht“, sagt Farhad Dilmaghani, Vorstandsbevollmächtigter von PHINEO. Das Analyse- und Beratungshaus arbeitet daran, die Zivilgesellschaft zu stärken. Die Veränderung des gesellschaftlichen Klimas durch erstarkende rechtspopulistische Kräfte zeigt sich auch im Landkreis Teltow-Fläming. Bei den Kommunalwahlen im Mai 2019 wurde die AfD mit 15,7 Prozent drittstärkste Kraft hinter SPD (18,4 Prozent) und CDU (16,7 Prozent). Der Ton, so beobachten es viele Engagierte in der Geflüchtetenhilfe, ist rauer geworden. Man spüre Gegenwind.

Zuzug als Chance
Christiane Witt fühlte sich von der Idee der „Weltoffenen Kommune“ sofort angesprochen. „Es ist ein Signal gegen Ausgrenzung und Rassismus und für ein Zusammenleben in Vielfalt“, sagt die Gleichstellungs- und Integrationsbeauftragte des Landkreises. Teltow-Fläming hat rund 168.000 Einwohner*innen, einen Anteil an Ausländer*innen von 5,6 Prozent und ist eine der wirtschaftlich erfolgreichsten Regionen in Ostdeutschland. Doch der Landkreis ist zweigeteilt. Auf der einen Seite gibt es den strukturstarken Norden mit florierenden Industriezweigen wie der Automobilzuliefererbranche, Biotechnologie und Flugzeugbau. Dieser an Berlin grenzende Teil ist mit Einwanderung vertraut und integrationspolitisch erfahren. Demgegenüber steht der ländlich geprägte und eher strukturschwache Süden, mit zum Teil wenig integrationspolitischer Erfahrung. Aber wer Fachkräfte anlocken will in einer Region mit schrumpfender Bevölkerung, mehr als 1.500 offenen Arbeitsstellen, aber bundesweiten Schlagzeilen zu Rassismus, muss auf allen Ebenen ein Zeichen setzen gegen Populismus und Einfalt.
Vom Check zum Plan
Menschen aus 120 Nationen leben im Landkreis. Seit 2016 kamen 2.800 Geflüchtete und 2.500 Zugewanderte nach Teltow-Fläming. „Wir sind zwar schon länger im Prozess, doch diese grundlegende Analyse der Gegebenheiten fand ich klasse. Durch den Selbstcheck, der hart war, haben wir jetzt einen strukturierten Aktionsplan“, sagt Witt. Dieser ist das Resultat des Selbstchecks, bei dem 13 Frauen und Männer aus Stadtverwaltung, ehrenamtlichen Initiativen und Vereinen mitgemacht haben. Sieben Handlungsfelder klopfte die Gruppe auf Erfolge und Defizite ab. Darunter zum Beispiel „Engagement und Partizipation“, „Fairer Zugang und Teilhabe“ oder „Interkulturelle Öffnung“.
Heraus kam ein differenziertes Bild – in drei Bereichen gibt es noch viel zu verbessern. Für den fairen Zugang zu Angeboten des Gemeinwesens arbeitete die Gruppe heraus, dass Maßnahmen zur Bildung wie das „Netzwerk gesunde Kinder“ zu wenig bei der Zielgruppe bekannt sind. Problematisch sei auch, dass Sprachlernklassen meist zu groß und heterogen sind. Darum will der Landkreis in Zukunft mehr auf ehrenamtliche Sprachpat*innen setzen. Im Bereich Wohnen gebe es zu wenig sozial verträglichen Wohnraum. Hier müsse der Landkreis mit Angeboten und Kooperationen mit Wohnungsgesellschaften reagieren. In Sachen Sport empfiehlt die Arbeitsgruppe, mehr Angebote für Mädchen zu etablieren und den Migrantenbeirat ins Boot zu holen. „Ob Bildung, Integration oder Demokratie, die Aufgaben betreffen uns alle. Die können wir nur bewältigen, wenn Politik, Zivilgesellschaft und Verwaltung zusammenarbeiten“, sagt Christiane Witt. Zwar gebe es schon Strukturen, um die herausgearbeiteten Handlungsfelder Schritt für Schritt zu bearbeiten. Doch die Ergebnisse des Workshops seien noch zu frisch, um konkrete Maßnahmen bereits umzusetzen. „Wir sehen nun auch, wo wir zielführender auf Weltoffenheit hinarbeiten müssen.“



Auch in puncto „Interkulturelle Öffnung“ und „Kommunikation und Konfliktmanagement“ läuft noch nicht alles rund. Um hier besser abzuschneiden, braucht es vor allem strukturelle Veränderungen: mehr Personal, das Festlegen von Verantwortlichkeiten und Finanzierungen. Und auf der „soften“ Ebene: die Verankerung interkulturellen Denkens und Handelns in den Kommunen und Fachämtern sowie die Erkenntnis und Kommunikation, dass Weltoffenheit ein Standortvorteil ist und ein Gewinn für das Zusammenleben. Überrascht war Christiane Witt von den Ergebnissen nicht. Ihr Fazit ist klar: „Erst müssen wir die Bürgerschaft der Kommunen mitnehmen, dann und schließlich die Kreisebene“, sagt sie resolut.
„Das ist mein Zuhause“
Ein Partner in Sachen Weltoffenheit ist die Flüchtlingshilfe Jüterbog. Der Verein finanziert sich über Spenden und Förderungen des Bundes. Auch die Partnerschaft für Demokratie, die an das Büro für Chancengleichheit und Integration des Landkreises angedockt ist, unterstützt die Flüchtlingshilfe. Etwa mit der Plakataktion „Gesicht zeigen!“, wo alle Jüterboger*innen aufgerufen waren, sich für eine heimatverbundene und weltoffene Stadt zu fotografieren.
Für Babak war der Verein ein Glücksfall. Wenn er keine Radtouren macht, engagiert er sich im Diakonischen Werk, wo er von dem Angebot erfuhr. An einem grauen Novembertag sitzt Babak an einem seiner Lieblingsorte, in der Großen Straße, mit Blick auf die Rückseite des Rathauses und die mittelalterlichen Hausfassaden.
Jeden Samstag von 16 bis 18 Uhr lädt die Flüchtlingshilfe hierher zum offenen Treff, zum Klönen bei Kaffee, Tee und Keksen, zum Spielen für Kids – meist bleiben die Ehrenamtlichen, Geflüchteten und Zugewanderten unter sich. Babak findet das schade. Er ist neugierig auf die neue Heimat, die Sprache, die Menschen. „Jüterbog ist mein Zuhause geworden“, sagt der Iraner, der hofft, in der Kleinstadt im Landkreis Teltow-Fläming sesshaft zu werden und als Übersetzer zu arbeiten. Er will hier nicht weg, er will ankommen.
Weltoffene Kommune – vom Dialog zum Zusammenhalt
Ziel des Projektes war, Kommunen ein Instrument für eine Standortbestimmung hinsichtlich Integration, Teilhabe und Willkommenskultur an die Hand zu geben – den Selbstcheck „Weltoffene Kommune“. Das Pilotprojekt war eine Kooperation von Bertelsmann Stiftung und PHINEO mit finanzieller Unterstützung der Stiftung Mercator. Im Anschluss daran startete das Modellprojekt „Weltoffene Kommune“ mit finanzieller Unterstützung der Bundesbeauftragten für Migration, Flüchtlinge und Integration. In diesem Rahmen werden weitere 40 Kommunen begleitet.