Die letzte Ähre

Nahaufnahme einer Ähre
Die letzte Ähre
Autor: Julien Wilkens Fotos: Cathrin Müller 27.08.2020

Im Juli hat es zwar öfter geregnet. Dennoch leidet Deutschland unter einer Dürre wie seit über 200 Jahren nicht mehr. Was bedeutet das für die Land­wirtschaft? Zu Besuch bei einem Bauern in Niedersachsen.

Die ersten Tropfen landen auf dem staubigen Acker. Es riecht nach Sommer­regen. Dabei ist erst der 30. April. Der Tag, an dem der Regen kommt und die Ernte gerettet ist. Nach sieben Wochen Trocken­heit – und sieben Wochen Angst, ob die Ernte ausfällt.

„Ich pflanzte gerade Kartoffeln. Es war gegen 16.30 Uhr, als es endlich regnete. Dieses Jahr ist es noch mal gut gegangen“, erinnert sich Jakob Schnackenberg, Landwirt in Niedersachsen. Die Regen­fälle im späten Frühling und Anfang Sommer hätten die Erträge in letzter Minute gerettet. „Jetzt rechne ich mit einer immerhin durch­schnittlichen Ernte“, so der 30-Jährige. „Das hat mich beruhigt, zeigt aber: Die vergangenen Dürre­jahre haben die Erwartungen drastisch gesenkt. Jeder Regen­schauer kann über unsere Ernte entscheiden. Seit dem Trockenheits­rekord­jahr 2018 kommt keine Feuchtigkeit mehr aus dem Boden hoch, um fehlende Nieder­schläge aus­zu­gleichen.“

Das zeigt auch ein Faktenblatt von klimafakten.de, das die Organisation zusammen mit der Helmholtz-Klima-Initiative erstellt hat. Andreas Marx ist wissenschaftlicher Koordinator in der Klima-Initiative. Am Helmholtz-Zentrum für Umwelt­forschung (UFZ) hat er mit einem Forschungs­team den Dürre­monitor Deutschland auf die Beine gestellt, ein Online-Tool, das den Boden­zustand erfasst. Marx warnt vor einer gewaltigen Aufgabe für Deutschland: „Solche mehr­jährigen Sommer­dürre­zustände wie jetzt hatten wir in Mittel­europa seit mindestens 250 Jahren nicht mehr“, sagt der Experte.

Andreas Marx
Dr. Andreas Marx ist wissenschaftlicher Koordinator der Helmholtz-Klima-Initiative. © Sebastian Wiedling

Alte Bauernregeln gelten nicht mehr

Auf den 240 Hektar von Landwirt Schnackenberg wachsen Kartoffeln, Mais und Getreide. Den Hof im beschaulichen Wilstedt nördlich von Bremen betreibt die Familie seit 1650, im Jahr 2017 übernahm Jakob Schnackenberg die Geschäfte vom Vater. Und damit ein schwieriges Erbe. Denn jahr­hunderte­alte Wetter- und Bauern­weisheiten gelten nicht mehr: „Früher war es hier im Frühling nass, während das Getreide wächst, und im Sommer trocken, wenn geerntet wird.“ Diese Abfolge sei besonders wichtig in der Region mit einem bescheidenen Sandboden, der Wasser schlecht speichert. In den vergangenen zehn Jahren hingegen – abgesehen vom Hitze­sommer 2018 – sei es im Frühling zu trocken und dann im Sommer zu nass für die Ernte gewesen. Die Folgen zeigen sich auf dem Feld zwei Kilometer östlich vom Familien­hof. Goldgelb wiegt sich das Getreide im Wind. Für den Laien schnell zu über­sehen: Die Pflanzen auf dem Feld haben jeweils nur einen Halm mit einer Ähre ausgebildet. Der Grund: „Im Frühling hat die Pflanze wegen der Trockenheit Stress, wächst nach oben und nicht in die Breite.“ Nur eine Ähre pro Pflanze statt vier oder fünf. Das drücke den Ertrag, auch wenn die eine Ähre größer wachse. „Die Klima­krise merke ich am Ende des Jahres bei der Bilanz“, sagt Schnackenberg. Im Trocken- und Hitze­jahr 2018 lagen die Ernten in Deutschland im Schnitt 16 Prozent unter dem Durch­schnitts­ertrag von fünf Jahre zuvor. „Ich hatte Einbußen von 60 Prozent“, sagt Schnackenberg. Pro Hektar kam er auf drei statt sieben Tonnen Getreide – das waren allein bei ihm 200 Tonnen, die nicht weiter zu Mehl, Brot oder Teig­waren verarbeitet wurden. Der Weltmarkt kann das noch ausgleichen, doch laut Bundes­ministerium für wirtschaftliche Zusammen­arbeit und Entwicklung werden 2050 rund 60 Prozent mehr Nahrungs­mittel als heute nötig sein, um die wachsende Welt­bevölkerung zu versorgen. Jakob Schnackenberg sagt: „Wenn das Getreide nicht hier vom Feld kommt, dann von woanders – und dafür wird vielleicht wieder ein wenig Regen­wald abgeholzt.“ Um das zu verhindern, macht er aus Überzeugung weiter. An die klimatischen Bedingungen passt er sich an.

Jakob Schnackenberg auf seinem Familienhof in Niedersachsen
Seit 2017 bewirtschaftet Jakob Schnackenberg den Familienhof. © Cathrin Müller

Planung wird zum Glücks­spiel

„Auf diesen 22 Hektar wuchsen früher Zucker­rüben und Mais“, sagt der Landwirt und zeigt über seine Felder. Auf dem üblicher­weise nassen Boden im Winter ging nur das. Jetzt aber sei die Erde so trocken, dass er Getreide angebaut habe. Er pflanzt Triticale an, eine Kreuzung aus Weizen und Roggen, die besser auf Trockenheit reagiert als andere Getreide­sorten. Für ihn ist die Planung des Jahres zu einem Roulette-Spiel geworden. „Im Herbst muss ich entscheiden: Wird es trocken, dann pflanze ich Getreide“, sagt er. Oder wird es nass? „Dann saufen die Keimlinge im Herbst und Winter einfach ab – und ich hätte Mais anbauen müssen.“

Jakob Schnackenberg beackert auf dem Traktor sein Ährenfeld.
240 Hektar beackert Jakob Schnackenberg. © Cathrin Müller
Eine Ähre in der Nahaufnahme
„Normalerweise gibt ein Korn mehrere Halme und somit mehr Ähren pro Quadratmeter“, sagt Jakob Schnackenberg. © Cathrin Müller

Dass es in den vergangenen Wochen immer mal wieder geregnet hat, täuscht über den Zustand der Böden in Deutschland hinweg, warnt auch Andreas Marx. „Der Nieder­schlag kommt nicht in den tiefen Erdschichten an“, sagt er. Ein paar Wochen Regen könnten zwar die Ernte retten. Echte Entspannung sei derzeit für den Gesamt­boden aber nicht in Sicht. Das Wasser laufe schnell ab, außerdem verdunste bei warmem Wetter viel davon wieder. „Selbst wenn ein Stark­regen so aussieht, als könne er alles durch­tränken – in tieferen Erd­schichten kommt das Wasser nicht an. Dort herrscht weiter Dürre“, so der Klima­forscher.

Das heißeste Jahr­­zehnt

Wie viel mehr es denn insgesamt regnen müsste, könne man nur schwer in absoluten Zahlen ausdrücken. Zu unter­schiedlich seien die Beschaffenheiten der Böden und die klimatischen Bedingungen in Deutschland. Klar sei jedoch, dass der Wert zwischen einigen Wochen bis Monaten mit über­durch­schnittlichem Nieder­schlag läge. Landwirt Schnackenberg sagt: Mindestens sechs oder sieben Jahre Regen über Durch­schnitt, das bräuchten seine Felder jetzt. Doch er ist skeptisch: „In den vergangenen zehn Jahren hat sich das Wetter sehr stark verändert. Dass es wie früher wird, glaube ich nicht.“ In der Tat: Laut Copernicus, dem EU-Beobachtungs­dienst zum Klima­wandel, waren die fünf vergangenen Jahre die heißesten Jahre seit Beginn der Wetter­auf­zeichnungen, 2010 bis 2019 war das heißeste Jahrzehnt.

Jakob Schnackenberg steht in einem Ährenfeld.
Trotz Wolken am Himmel: Insgesamt ist es zu trocken. © Cathrin Müller

Dramatisch sei die Lage vor allem im Osten des Landes. „Es ist das dritte Jahr mit extremer Dürre in Folge“, sagt Marx, „und die Schäden sind enorm.“ Das Problem: Wenn es regnet, dann zu viel. Ein Phänomen, das zunimmt. „Neben den Dürre­perioden, in denen es sehr wenig regnet, kommt es immer häufiger zu Extrem­nieder­schlägen.“ Nicht nur kann der Starkregen nicht vom staub­trockenen Boden auf­genommen werden – er kommt schlicht zu spät.

Infografik zum Aufbau des Bodens in seinen Schichten
Infografik zu den Folgen von Dürre
Eine Infographik zu Anpassungen und Gegenmassnahmen.

© Helmholtz-Klima-Initiative, klimafakten.de

Infografik zu der Frage Was ist eine Dürre?

Nur jeder fünfte Baum gesund

„Wenn es wie in diesem Jahr im Juni zwei Wochen ordentlich geregnet hat, wirken Gräser und Pflanzen, die nur ein Jahr leben, in Ordnung.“ Das mache es schwierig, die Öffentlichkeit für das Problem der aus­getrockneten Böden zu sensibilisieren, sagt der Wissen­schaftler. An den Bäumen sehe man die Schäden aufgrund der Trockenheit dagegen am ehesten. Nur jeder fünfte Baum in Deutschland sei gesund, so Andreas Marx. Laut Wald­zustands­bericht des Bundes­land­wirtschafts­ministeriums zeigten 2019 rund 78 Prozent der Bäume eine mehr oder weniger starke Kronen­verlichtung. „Wenn Sie unter einem Baum stehen und durch das Blätter­dach den Himmel sehen, ist das ein Anzeichen für mangelnde Vitalität, ausgelöst durch zu wenig Wasser im Boden oder Schädlings­befall“, erklärt Marx. Gut 245.000 Hektar Wald sind demnach 2018 und 2019 abgestorben. Das Problem: Dürreschäden bei Wäldern sind nicht durch wenige Regen­fälle zu beheben. Sind die Wald­böden erst einmal ausgetrocknet, nehmen sie Regen­wasser noch schlechter auf, als wenn sie durch­feuchtet sind. Regen­wasser kommt nicht an die tiefen Wurzeln. Auch für Städte ist das entscheidend, denn wo weniger Bäume stehen, steigt die Temperatur. Nach 2018 sei man auch in Städten und Kommunen auf das Problem aufmerksam geworden. „Deshalb gehören Wasser­speicher­säcke und Bewohner*innen mit Gießkannen jetzt zum Stadt­bild.“

Die Aufgaben seien jetzt anzugehen, sagt der Experte Marx. „Das Nieder­schlags­auf­kommen ist relativ stabil, aber inner­jährlich ungleich verteilt.“ Im Schnitt regnet es im Jahr nicht weniger als sonst, aber die Extreme wechseln sich ab: Trocken­zeiten und Stark­regen­tage. Daher müsse die Infra­struktur geschaffen werden, um die hohen Wasser­mengen aus dem Winter für den Sommer zu speichern. „Da geht es zum Beispiel um Verbindungen von Wasser­läufen mit Tal­sperren. Das ist ein großes, lang­jähriges Projekt, das daher jetzt angegangen werden muss.“ Der Klima­forscher und der Landwirt sind sich einig: Die Wasser­versorgung wird ein grundlegendes Problem der kommenden Jahre. Für Schnackenberg ist es aber kein abstraktes, sondern ein sehr persönliches. „Ich tue alles dafür, nicht der zu sein, der unseren Hof nach all den Generationen aufgeben muss“, sagt er, während er gedanken­verloren ein Korn aus einer Ähre pult und probiert. Sein knapper Kommentar: „Fast ernte­reif, nur noch ein paar Tage.“ Falls das Wetter mitspielt.

klimafakten.de

Um die Debatte über die besten Wege zum Klima­schutz konstruktiv führen zu können, müssen die grund­legenden Fakten stimmen. Darauf zielt die von der Stiftung Mercator geförderte Organisation klimafakten.de ab, indem sie die komplexen Ergebnisse der Klima­forschung verständlich aufbereitet und dabei offene Fragen und kritische Einwände aufnimmt.
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