Flexibel, empathisch, kreativ
Die Anforderungen des Arbeitsmarkts verändern sich rasant. Typische Jobs der Mittelschicht verlieren an Bedeutung, sagt Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, im Interview. Was in Zukunft gefragt ist.
Herr Prof. Fratzscher, die Megatrends Digitalisierung, Automatisierung und Globalisierung prägen unser Leben und Arbeiten nachhaltig. Der Arbeitsmarkt wandelt sich, Fachleute sprechen von der vierten industriellen Revolution. Was passiert mit unseren Volkswirtschaften, wenn immer mehr Routinearbeiten automatisiert erledigt werden?
Marcel Fratzscher: Die Digitalisierung bringt nicht nur mit sich, dass körperliche Arbeit immer mehr an Bedeutung verliert. Auch Tätigkeiten, die auf digitalisierbarem Abfragewissen basieren, verlieren an Wert. Intellektuelle Tätigkeiten und die damit verbundenen Fähigkeiten spielen zunehmend wichtigere Rollen. Das heißt, dass Qualifizierung und Bildung noch wichtiger werden, da sie zu mehr Einkommen und Möglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt führen. Wer diesbezüglich den Anschluss verliert, wird künftig große Schwierigkeiten haben, eine Beschäftigung zu finden. In Deutschland sind wir diesbezüglich aktuell noch ganz gut aufgestellt. Wir sehen aber auch hier, dass die Kluft zwischen Gut- und Geringverdienenden immer größer wird. Die nordischen Länder sind uns hier voraus. Die USA sind ein extremes Beispiel dafür, was passiert, wenn immer weniger Menschen am wirtschaftlichen Geschehen teilhaben. Ich möchte ganz bewusst ein größeres Bild wählen: Denken wir an die Idee der sozialen Marktwirtschaft und den damit verbundenen Gesellschaftsvertrag. Diese funktionieren künftig nur, wenn wir Menschen mehr Eigenverantwortung ermöglichen. Das friedliche Zusammenleben in einer demokratischen, offenen, freien und pluralistischen Gesellschaft muss unter möglichst großer Beteiligung immer wieder neu ausgehandelt werden. Die zu lösenden Probleme werden dabei immer komplexer. Im 21. Jahrhundert gibt es globale und dringliche Herausforderungen: Umweltkatastrophen und -verschmutzung, Nahrungs- und Trinkwasserknappheit, Kriege und Menschenrechtsverletzungen, Pandemien und Migrationsbewegungen.
Prof. Marcel Fratzscher
Prof. Marcel Fratzscher, Ph.D., ist Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) und Professor für Makroökonomie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er publiziert regelmäßig zu wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Themen. Unter anderem ist Fratzscher Mitglied des High-Level Advisory Board der Vereinten Nationen zu den Nachhaltigen Entwicklungszielen (SDGs).
Wenn eigenverantwortliches Handeln als Schlüsselkompetenz gilt, wie können wir dafür sorgen, dass insbesondere junge Menschen dies erlernen?
Fratzscher: Tatsächlich sind von diesen Entwicklungen nicht nur junge Menschen betroffen. In der Vergangenheit konnten die meisten Menschen nach ihrem Ausbildungs- oder Studienabschluss mehr oder weniger 50 Jahre lang bis zur Pensionierung das Gleiche tun. Als Bürokauffrau oder -kaufmann haben sie vielleicht mit der Schreibmaschine angefangen, dann mit dem Computer gearbeitet. Aber die Tätigkeit hat sich abgesehen davon kaum verändert. Was wir sehen, ist eine Veränderung der Arbeitswelt, durch die sich die Erfordernisse für eine bestimmte Arbeit ständig ändern. Es wird künftig kaum mehr Berufsbilder geben, bei denen Sie kein lebenslanges Lernen, also eine ständige Fortbildung und Anpassung, brauchen. Flexibilität ist wahnsinnig wichtig für alle Berufsbilder. Wer sich nicht anpassen kann, läuft Gefahr, seine Arbeit zu verlieren. Schon heute sehen wir in Deutschland, dass diejenigen die größten Schwierigkeiten haben, die eine sehr spezifische Ausbildung erhalten haben, aber in einem Beruf groß geworden sind, der heute nicht mehr nachgefragt wird oder für den ganz andere Qualifikationen gebraucht werden.
Welche Bildungsbereiche sollten Ihrer Ansicht nach deutlich gestärkt werden, um den Anforderungen der Zukunft gerecht zu werden?
Fratzscher: Meiner Ansicht nach sind dies vor allem die sogenannten MINT-Fächer, also Mathematik, Naturwissenschaften und technische Fächer, die junge Menschen in die Lage versetzen, die Digitalisierung aktiv für sich zu nutzen. Wir haben in Deutschland in diesen Bereichen schon heute einen erheblichen Fachkräftemangel, dabei wird dieser Bereich von der Digitalisierung profitieren. Und selbst für diejenigen, die beruflich andere Wege einschlagen, ist eine gewisse Technikaffinität und die Bereitschaft, sich auf neue Technologien einzulassen und damit umzugehen, ganz wesentlich. Deutschland muss da deutlich mehr tun. Wir halten leider immer noch am alten Status quo fest. Lassen Sie mich ein aktuelles Beispiel nennen: Wenn man sich damit beschäftigt, wie deutsche Schulen teilweise mit der Corona-Krise umgehen, wird man unruhig. Wenn viele Lehrer*innen keine Plattform haben, über die sie Hausaufgaben digital zur Verfügung stellen, geschweige denn online unterrichten können, wird sehr deutlich, dass der digitalen Ausrüstung der Schulen noch immer viel zu wenig Gewicht beigemessen wird. Länder wie Südkorea beispielsweise haben für eine flächendeckende Digitalkompetenz der Schülerschaft gesorgt. Der Digitalpakt der Bundesregierung sieht Millionen dafür vor, die Entwicklung in Deutschland anzustoßen. Wenn das digitale Arbeiten nicht zum Standard gemacht wird, bleibt es ein Privileg für einige wenige. Dann wiederum entsteht Ungleichheit.
Sie haben den technisch-naturwissenschaftlichen Bereich betont. Welchen Anteil kann kulturelle Bildung Ihrer Ansicht nach daran haben, junge Menschen fit für die Zukunft zu machen und ihnen die nötigen Skills für das 21. Jahrhundert zu vermitteln?
Fratzscher: Wir sehen, dass die Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt auch sozioökonomische Strukturen der Gesellschaft beeinflussen. Typische Jobs der Mittelschicht verlieren an Bedeutung, Industriearbeiter*innen etwa gibt es immer weniger. Fähigkeiten, die wir zuvor gar nicht als solche identifiziert haben, gewinnen massiv an Bedeutung. Dazu gehört vor allem auch Empathie. Denken Sie an Pflegepersonal oder Erzieher*innen, die bisher zumeist relativ schlecht bezahlt wurden und wenig Wertschätzung bekommen haben. Diese Berufe werden in der Zukunft erheblich aufgewertet werden. Ich denke, dass kulturelle Bildung einen erheblichen Anteil daran haben kann, diese Eigenschaft zu vermitteln.
Darüber hinaus gibt es einen weiteren wesentlichen Aspekt: Untersuchungen haben gezeigt, dass der Fachkräftemangel zum Beispiel hier in Deutschland nicht nur mangels adäquater Ausbildung entstanden ist. Unternehmen klagen auch darüber, dass sie schlichtweg nicht die Arbeitnehmer*innen finden, die unabhängig von ihrer tatsächlichen beruflichen Qualifikation die Fähigkeiten mitbringen, um effektiv zu arbeiten und die Erwartungen der Arbeitgeber*innen zu erfüllen. Im Mittelpunkt dieser neuen Anforderungsprofile stehen Kompetenzen wie kreatives Problemlösen, Innovationsfähigkeit, Kommunikations- und Kooperationsfähigkeit – auch für Berufsbilder, die bislang wenig damit zu tun hatten. Dieser neue Bedarf an Kompetenzen zieht sich durch alle Unternehmensbereiche in allen Branchen. Kulturelle Bildung ist sicherlich ein probater Ansatz, um das erforderliche Mindset bei jungen Menschen zu schaffen.
Wie lässt sich Kreativität aus Ihrer Perspektive als Wirtschaftswissenschaftler denn eigentlich messen?
Fratzscher: Da lohnt sich ein Blick darauf, wie viele Mittel eine Volkswirtschaft für Forschung und Entwicklung bereitstellt. Ein Indikator können beispielsweise Patente sein. Wir schneiden damit in Deutschland im internationalen Vergleich ganz gut ab. Allerdings zeigt sich deutlich, dass unsere Innovationsfähigkeit auf bestimmte Sektoren wie das Ingenieurwesen und den Automobilbau fokussiert ist. Was andere Sektoren wie Kommunikations- und Informationstechnologien betrifft, gehört Deutschland zur Schlussgruppe. Um nochmals auf den kulturellen Aspekt zu sprechen zu kommen: Hier tut Deutschland eine ganze Menge, wir erreichen allerdings nicht alle. Wir haben Studien durchgeführt, die zeigen, dass 20 Prozent aller Bildungsausgaben hierzulande von den Eltern getätigt werden. Diese Zahl umfasst alle Einkommens- und Bildungsschichten. Im Klartext heißt das: Ein großer Teil der kulturellen Bildung erreicht fast ausschließlich Kinder aus Familien mit einem relativ hohen Einkommen. In anderen Ländern findet deutlich mehr kulturelle Bildung durch staatliche Bildungsträger statt. Wir sollten auch hierzulande die Verantwortung der Eltern für kulturelle Bildung senken und so für mehr Chancengleichheit sorgen. Um eine führende Wirtschaftsnation zu sein, muss man Innovation und Kreativität flächendeckend fördern. Sonst werden andere uns überholen.