Weniger Mathe, mehr Musik
Musik ist ein starker Stimulus für das Gehirn. Wie sie wirkt und was beim Musikhören und Musizieren hinter der Schädeldecke genau vorgeht, verrät Eckart Altenmüller. Er ist einer der führenden Forscher auf dem Gebiet der Neurophysiologie und Neuropsychologie von Musiker*innen und sagt: Durch Musik erwerben Kinder Selbstvertrauen, Selbstwirksamkeit, Handlungssteuerung, Struktursinn und emotionale Kompetenz.
Herr Professor Altenmüller, seit Jahrzehnten beschäftigen Sie sich intensiv mit der Wirkung von Musik auf das Gehirn. Welche Zusammenhänge konnten Sie seitdem wissenschaftlich belegen?
Eckart Altenmüller: Ganz wesentlich ist, dass das Musizieren und auch das Musikhören die Neuroplastizität des Gehirns anregen – das heißt, das Musizieren verändert die Gehirnfunktion und -struktur. Dadurch wird die Handlungssteuerung des Menschen, sogenannte exekutive Funktionen wie etwa die Reaktionszeit, verbessert. Gleichzeitig führt das Hören von Musik zu einer Verbesserung der akustischen Mustererkennung. Senior*innen, die Musikunterricht erhalten, verstehen Sprache unter schlechten akustischen Bedingungen, beispielsweise bei Störgeräuschen, besser. Wenn Kinder Klavierunterricht erhalten, dann haben sie nach circa einem Jahr vor allem für die linke Hand größere Bewegungszentren in der motorischen Großhirnrinde sowie größere Hörzentren und eine stärkere Nervenfaserverbindung zwischen beiden Hirnhälften. Auch innerhalb einer Hirnhälfte sind die Verbindungen zwischen Hörzentren und den Bewegungszentren verbessert. Diese Kinder sind auch feinmotorisch geschickter und hören präziser als ihre nicht musizierenden Altersgenoss*innen.
Eckart Altenmüller
Prof. Dr. Eckart Altenmüller ist Direktor des Instituts für Musikphysiologie und Musiker-Medizin (IMMM) der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover – eine in Deutschland einzigartige Einrichtung.
Welche Prozesse laufen im Gehirn ab, wenn wir uns mit Musik beschäftigen?
Altenmüller: Musikhören führt immer zu zwei wichtigen Prozessen im Gehirn: Einerseits werden wichtige emotionale Gedächtnisse aufgerufen, andererseits werden in Echtzeit durch jeden Klang akustische Erwartungen an den nächsten Klang geweckt. Wir hören ja immer auch „voraus“ und freuen uns über neue, unerwartete akustische Wendungen. Diese Antizipation von Klängen ist übrigens mit einer starken Aktivierung des Stirnhirns verbunden.
Welchen Einfluss haben dabei vielleicht nicht messbare Wechselwirkungen auf uns im Ganzen, also auf das Menschsein?
Altenmüller: Musikalische Gedächtnisse sind eng mit biografischen Episoden und den damals vorherrschenden Emotionen verbunden. Die Musik, bei der ich meine erste Partnerin getroffen habe (Glücksgefühle), die Musik, zu der mein Vater begraben wurde (Trauer), werden tief im emotional-biografischen Gedächtnis verankert. Welche Musik ich schön finde, gehört auch zu meiner Identität, und insbesondere Jugendliche identifizieren sich mit bestimmten Musikstilen sehr stark. Musikmachen ist ein kreativer Prozess, der uns völlig absorbieren kann. Gemeinsam zu singen und zu musizieren stärkt zudem das Gruppengefühl und baut uns emotional enorm auf. Wir können sinnlich erfahren, dass wir nicht allein auf der Welt sind.
Studien mit Kindern, unter anderem vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, konnten einen Einfluss der Musik auf Kreativität und Sprachkompetenz feststellen. Welche Synapsen und Fähigkeiten werden im frühkindlichen Alter ausgebildet, wenn ein Zugang zu Musik besteht?
Altenmüller: Das betrifft vor allem die Verschaltungen im Stirnhirnlappen für Handlungssteuerung und Sprachfunktionen sowie im Bereich der Hörrinde für die differenziertere Hörfähigkeit. Aber noch wichtiger ist vermutlich die Wirkung der Musik auf die Motivation und auf das strukturierte Handeln. Das sind sehr universelle menschliche Züge und Kompetenzen, die im Gehirn weit vernetzt sind und sich nicht auf ein bestimmtes Areal beziehen. Kinder erwerben durch Musik Selbstvertrauen, Selbstwirksamkeit, Handlungssteuerung, Struktursinn und emotionale Kompetenz. Sie werden feiner in ihrer Wahrnehmung und entwickeln ein besseres Körpergefühl. Sie können sich meist länger konzentrieren – und sie haben mehr soziale Kompetenzen.
Auch Kunst, Theater, Literatur und Tanz sollen laut Studien der empirischen Bildungsforschung junge Menschen messbar in ihrer persönlichen Entwicklung unterstützen. Ist die Wirkung der verschiedenen Disziplinen der kulturellen Bildung miteinander vergleichbar?
Altenmüller: Grundsätzlich sind alle Bereiche der ästhetischen Erziehung wichtig, aber jede Sparte fördert eben besondere Bereiche der Persönlichkeit und der Fertigkeiten. Gemeinsam ist allen die Kreativität. Künstlerische Aktivitäten helfen unter anderem, Weltverständnis zu erwerben und auszudrücken. Theater ermöglicht unter anderem, den Ausdruck von Emotionen zu erkunden. Literatur ist das wichtige Spiel mit Sprache und Bedeutung, und Tanz erleichtert emotionale Bewegungskreativität, aber auch Koordination, Aktivierung multipler Sinneskanäle und vieles mehr. Der Sport hat ebenfalls viele positive und kreative Elemente und sollte in einem ganzheitlichen Bildungsprogramm für Kinder und Jugendliche unter keinen Umständen fehlen.
All diese Erkenntnisse lassen nur den Schluss zu, dass kulturelle Bildung essenziell wichtig ist – und das schon im Kindesalter. Wird dieser enormen Bedeutung im heutigen Bildungsangebot entsprochen?
Altenmüller: Leider nein, da ist noch viel zu tun. Es braucht hier eine neue Bildungspolitik! Im Moment haben wir ja in vielen Schulformen keine Lehrpläne für diese Fächer und auch keine ausgebildeten Lehrer*innen. Einige Schulformen unterstützen ästhetische Erziehung, es gibt Spezialgymnasien, etwa für Musik und für bildende Kunst. Auch die freien Waldorfschulen legen auf ästhetische Erziehung besonders viel Wert. In den meisten Regelschulen sind jedoch MINT-Fächer und Sprachen weit dominierend und gelten als die wichtigen Fächer. Dabei gibt es aus der Schweiz große Schulversuche, die zeigen, dass eine Verlagerung der Stundenzahl vom Mathematikunterricht auf den Musikunterricht zu besseren Leistungen in beiden Fächern führte. Positiv ist, dass es inzwischen sehr viele Programme gibt, die auf Chancengleichheit im Zugang zur Musik setzen, so etwa das Education-Programm des Klavier-Festivals Ruhr.
Kann man auch im Erwachsenenalter noch die Eigenschaften oder Fähigkeiten entwickeln, die kulturelle Bildung in jungen Jahren erzeugt?
Altenmüller: Das ist eine nicht abschließend geklärte Frage. Vermutlich gibt es im Nervensystem für die ästhetischen Inhalte, also beispielsweise für den Sinn für Farben, Formen, Klänge oder Bewegungen eine sensible Periode in der Kindheit und Jugend, so wie wir das vom dreidimensionalen Sehen oder vom Spracherwerb kennen. Das heißt nicht nur, dass in jungen Jahren die Erlebnistiefe am stärksten ist und die Eindrücke am längsten im Gedächtnis verweilen, sondern auch, dass die Auswirkungen auf die Persönlichkeitsbildung, auf die Kognition und auf das emotionale Gleichgewicht in der Kindheit und Jugend am stärksten sein werden. Aber bis in das höchste Erwachsenenalter trägt kulturelle Bildung zur Lebensqualität, Freude und Erlebnisfähigkeit bei und hat positive Auswirkungen auf das Denken und Fühlen! Es ist nie zu spät, damit zu beginnen.
Forschungsfonds Kulturelle Bildung
Der Forschungsfonds Kulturelle Bildung fördert wissenschaftliche Forschungsvorhaben zu den Wirkungen von kultureller Bildung und unterstützt darüber hinaus die Ausweitung und Weiterentwicklung des wissenschaftlichen Netzwerks zu diesem Thema.
www.rat-kulturelle-bildung.de/forschung/der-forschungsfonds-kulturelle-bildung-2018-2021