Worte ohne Wertung
Schreiben mal anders. Nicht in der Schule. Nicht für Noten. Sondern nur für sich selbst. Für die Kinder und Jugendlichen in der „Schreibwerkstatt“ der lit.kid.RUHR ist Deutsch eine Zweit- und damit Fremdsprache. Umso wichtiger der Tipp, den die Autorin Aygen-Sibel Çelik ihnen jetzt in einem Workshop gab: niemals aufhören, zu schreiben!
Kaum Menschen auf dem Gelände. Die Universität Duisburg-Essen hat den Studienbetrieb vor Ort eingestellt. Alles wirkt verlassen, die Türen sind verschlossen. Nur hier, im ersten der Hochhäuser, welches das Institut für Deutsch als Zweit- und Fremdsprache beherbergt, ist ein wenig Betrieb. Eine Ausnahmegenehmigung macht es möglich: Die Schreibwerkstatt darf stattfinden, zum ersten Mal seit dem Lockdown im März. Die Verantwortlichen schwirren im fünften Stock eifrig umher, letzte Vorbereitungen laufen. „Wir brauchen noch einen CD-Spieler“, ruft eine Stimme. Gleich 16 Uhr. Alle wirken beflügelt: Es geht los. Endlich.
Eine Etage tiefer. Dr. Gülşah Mavruk, die Leiterin des Förderunterrichts, zu dem auch die Schreibwerkstatt als freiwilliges Angebot zählt, öffnet die Tür zu Raum B08: ein Klassenzimmer mit dem typisch kargen Ambiente. Zwei Fenster sind geöffnet, elf Holzstühle in drei Reihen mit Abstand platziert, Tische im hinteren Teil zusammengeschoben, darauf warten Mandarinen und Kekse auf Tellern, Orangensaft und Wasser. Aygen-Sibel Çelik richtet sich vorne am Lehrerpult ein, packt ein paar Bücher aus. Sie, die Schriftstellerin, ist der heutige Stargast, eingeladen von den Veranstalter*innen des Literaturfestivals lit.kid.RUHR. Und doch wird es sich nur am Rande um sie drehen.
Freiwillig schreiben
Es kommen die eigentlichen Hauptdarsteller*innen: Elf Jugendliche zwischen 14 und 19 Jahren wollen sich im kreativen Schreiben üben. Freiwillig und sehr motiviert. Andächtig lauscht der Kurs. Sie tauchen ein in den noch unveröffentlichten nächsten Roman von Aygen-Sibel Çelik. „Die Straße“, noch ein Arbeitstitel, handelt von drei Freundinnen aus Syrien, innig miteinander verbunden wie Schwestern, die mit ihren Familien und voneinander getrennt aufbrechen in ein fremdes Land. „In Deutschland treffen wir uns wieder“, so der Wunsch. Die Realität ist ein Auffanglager und der Versuch, dort die Würde zu bewahren. Aus der Sicht eines Mädchens entsteht ein detailliertes Bild: die graue Decke, die sie zu ihrem einzigen Privatbereich erklärt, das zarte Erwachen von erster Verliebtheit in den Jungen, der das Essen austeilt, und die Sorge um eine der drei „Schwester-Freundinnen“, die sich seit Wochen nicht mehr im WhatsApp-Chat des Trios meldet. Für zehn Minuten beamt Aygen-Sibel Çelik ihre Zuhörer*innen mit gleichförmiger Stimme in die Innenperspektive eines Mädchens auf der Flucht.
„Wow! Ist die Geschichte echt?“, will eine Teilnehmerin wissen. „Nein“, antwortet die Autorin, „ich habe viele Menschen befragt, die was Ähnliches erlebt haben.“ Ob sie immer auf Deutsch schreibt? Ja, lacht die Autorin, 51, in Istanbul geboren und seit ihrem zweiten Lebensjahr in Deutschland. 19 Kinder- und Jugendbücher hat sie bereits publiziert. Alle befassen sich mit Themen zwischen den Welten: Migration, Entwicklung, Mehrsprachigkeit. Damit passt sie zum Projekt in diesem Raum an der Universität im Essener Norden. Die Geschichten der jungen Menschen im Raum B08 sind so bunt, mitunter grau und hart wie an keiner herkömmlichen Schule. Ihre Deutschkenntnisse schwanken. Manche suchen noch nach Vokabeln, die Grammatik ist rudimentär, andere artikulieren sich perfekt, ihr Wortschatz ist immens und die Ausdrucksbreite enorm.
Nichts wegwerfen!
Aygen-Sibel Çelik hat eine angenehm unaufgeregte Art. Sie begegnet den Schicksalen vor ihr auf Augenhöhe. „Es interessiert mich sehr: Schreibt ihr gerne?“, fragt sie reihum. Jede und jeder Einzelne wird wahr- und ernst genommen. Eine berichtet, sie habe schon mal auf einer App etwas veröffentlicht, ein Märchen, sechs bis sieben Seiten lang, aber dann auch schnell wieder gelöscht. „Nein, du darfst nichts wegwerfen!“ Nachgerade entsetzt schaut die Autorin und schiebt nach, es sei wie mit Fotos, worauf man sich gar nicht gut getroffen fühle, die man aber später gerne wieder anschaue. Auch mit Geschriebenem verhalte es sich wie auf einer Zeitreise, man begegne noch einmal seinem jüngeren Selbst. „Nichts löschen!“, beschwört Çelik eindringlich, „es wird dir irgendwann fehlen.“ Ihre Tipps lässt sie im Gespräch einfließen. Wie nebenbei, nicht von oben herab. Die Jugendliche saugen ihre Empfehlungen begierig auf.
Schwieriges Verhältnis zur neuen Sprache
Ein Mädchen, das bereits sehr gut Deutsch spricht und zum ersten Mal bei der Schreibwerkstatt dabei ist, gesteht ihre Abneigung: „Zum Schreiben muss man mich zwingen.“ Es habe eben immer mit Schule zu tun: Hausaufgaben, Textanalyse, Noten. Das Problem ist bekannt. Gülşah Mavruk, Leiterin des Förderunterrichts für neu Zugewanderte, erklärt später: „Schreiben ist anfangs sehr negativ belastet.“ Die deutsche Sprache ist fremd und schwer. Und dazu kommt der Notendruck. Dass man aber auch seine Gefühle ausdrücken kann, ganz ohne Bewertung, das sei das Geschenk der Schreibwerkstatt, die vor etwa sechs Jahren ins Leben gerufen wurde und seitdem den Förderunterricht einmal wöchentlich als freiwilliges Projekt begleitet. In normalen Jahren nehmen rund tausend Schüler*innen den Förderunterricht wahr, etwa 30 davon besuchen überdies die Schreibwerkstatt. Angeleitet werden sie von Lehrkräften, die selber am Institut noch studieren. So wie Nils Brüggmann, der sich besonders engagiert. Er ist Tutor in der Schreibwerkstatt und bedauert den coronabedingten Anmeldestopp zutiefst: „Die neu zugewanderten Kinder und Jugendlichen sind ausgehungert, sehnen sich nach Bildung.“
Gwan Suliman ist genau so einer. Er ist vor drei Jahren aus Syrien mit seiner Mutter und dem jüngeren Bruder nach Deutschland gekommen. Den herzkranken Vater durfte die Familie erst später nachholen. Gwan, heute 17, spricht perfekt Deutsch. Er liest Biografien, selbst von Einstein. Schreiben, so sagt er, ist für ihn nicht Verarbeitung der Flucht oder Traumabewältigung. „Es ist Ablenkung, eine Auszeit.“ Ein Gedicht hat er bereits veröffentlicht und bei einer Tagung vor mehr als 400 Leuten vorgetragen. Ein Starter-Stipendium hat er bekommen, in die SPD ist er eingetreten. Die Sehnsucht nach der Demokratie hat ihn getrieben. Er strahlt: „Ich sehe meine Zukunft hier.“ Außer Poesie und Politik interessiert Gwan die Wissenschaft. Schreiben ist seine Chance für den Neustart.
Die „Vier-Spalten-Schreibmethode“
Nach einer Dreiviertelstunde des gegenseitigen Kennenlernens wird es konkret. „Seid ihr auch manchmal blockiert und könnt gar nicht mehr schreiben?“, fragt die erfolgreiche Autorin in den Raum. „Alle erwarten mehr. Die Geschichte muss perfekt sein, der Einstieg stimmen.“ Das, erklärt sie, sei bloß die innere Stimme, die einen für nicht gut genug hält. „Ich nenne sie die Meckertante.“ Dagegen gebe es eine gute Methode, die sich das Institut für Angewandte Kreativitätspsychologie ausgedacht habe: Ein Blatt wird in vier Spalten unterteilt, die erste Spalte ist das „Logbuch“, das wie ein Tagebuch die eigentliche Geschichte in Spalte zwei begleitet. „Da gehört alles rein, was einen vom Schreiben abhält: blödes Thema, ich würde lieber rausgehen, ich kann nichts und so weiter.“ In die dritte Rubrik gehört alles, was noch einer Recherche bedarf. Und die vierte Spalte heißt „Flohmarkt“, hier landen alle weiteren Einfälle. „Das Wichtige ist“, so Aygen-Sibel Çelik, „dass ihr nicht aufhört, zu schreiben – egal, in welche Spalte hinein. Schreibt mit der Roboterhand, die ihr nie wieder absetzt.“
Augen zu und losgeschrieben
Zur Inspiration hat die Autorin eine Filmmusik mitgebracht, den Titel verrät sie erst am Schluss und nur auf Nachfrage. „Macht die Augen zu. Stellt euch vor, ihr seid im Kino, und es läuft ein Film ab. Ihr braucht auch keinen Anfang. Lasst eure Gedanken vom Kopf direkt in die Hand fließen.“ Minutenlang ist es still. Die Musik galoppiert davon, Orgeln setzen ein, nach dem Crescendo folgt das Pianissimo. Alle schreiben. Die meisten haben den Kopf in die andere Hand gestützt. Dann stoppt der CD-Player. „Wie ist es euch ergangen?“, will Çelik wissen. „Die Musik hat mir sehr geholfen. Ich dachte, es geht um Krieg, um Rache, und konnte direkt losschreiben“, erzählt Shahin, der direkt am offenen Fenster sitzt. Es ist kalt geworden, er hat es nicht gemerkt.
Weiter in der Runde: Abgehackt klingen seine Worte, jedes einzelne ringt er sich ab. Man spürt, wie es in ihm brodelt. Haman liest vor: „Ich bin der Unsterbliche. Ich sterbe nie im Leben. Ich habe mehr als 40-mal die Hölle überwunden. Ich bin die Person, die ohne Eltern im fremden Ort aufwächst. Ich bin der Unsterbliche.“ Gänsehaut. Ein fertiges Buch hat er im Kopf. Den Titel weiß er schon, und es soll darum gehen, was er alles aus seinem Leben machen wird. Allein „mir fehlt die Sprache“. „Du kannst beide Sprachen vermischen, das ist nicht schlimm“, sagt die Autorin. Wichtig sei nur, dass er schreibt. „In euch allen steckt ein Schatz.“ Am liebsten möchte man sie umarmen für diesen so wahren Satz.
Nach jedem Vorlese-Akt zeigt sich Aygen-Sibel Çelik berührt. Sie lobt, sie fragt nach. Und sie ist traurig, weil zwei Mädchen nicht vorlesen wollen. Nichts? Auch nicht aus dem Logbuch von der Meckertante? Dann überwindet sich eine der beiden und spricht von zitternden Beinen, einer Tür und wie es wäre, doch wieder umzukehren. Die Autorin ist beeindruckt. Sie schlägt allen vor: „Schreibt weiter an euren Geschichten. Schickt sie mir zu, wir lassen sie binden und machen ein Lesebuch daraus.“ Der Workshop schließt mit einem Appell: „Glaubt bitte an das, was ihr geschrieben habt.“ Und dann meldet sich noch spontan ein junger Mann. Er bedankt sich, es habe ihm so viel bedeutet: „Es hat mir richtig Spaß gemacht.“
Schreibwerkstatt lit.kid.RUHR
Die lit.kid.RUHR will nachhaltig die Freude am Lesen, die Lesekompetenz und die Begeisterung für Sprache fördern. Deshalb hat sie die lit.kid.RUHR-Schreibwerkstatt zur Förderung des kreativen Schreibens ins Leben gerufen, in der sich Kinder und Jugendliche aller Schulformen einmal pro Woche treffen.
www.lit.ruhr/schreibwerkstatt