Auf der Bühne sind alle gleich

Theater­pädagoge Markus Höller sitzt auf einem Rollwagen hinter der Bühne. Neben ihm stehen Requisiten.
Auf der Bühne sind alle gleich
Autorin: Saskia Weneit Fotos: Lukas Schulze, Varieté Inklusiv 04.08.2020

Theater ist für ihn wie Fallschirmspringen: Wer Angst vor dem Fall hat, fliegt nicht. Als Leiter des Projekts „Varieté Inklusiv“ bringt Theater­pädagoge Markus Höller Essener Schüler*innen mit und ohne Handicap genau das bei. Denn er weiß, wie viel Mut es freisetzt, sich vor Publikum zu öffnen und geglaubte Schwächen in Stärken zu verwandeln.

Theater verändert Menschen – jeden Menschen. Davon ist Markus Höller überzeugt. Der Theaterpädagoge stellt seit rund 20 Jahren inklusive Theaterprojekte mit Kindern und Jugendlichen auf die Beine. Er weiß: „Jeder Mensch kann sich künstlerisch ausdrücken und hat etwas zu sagen.“ Seit März 2018 leitet er am Franz Sales Haus in Essen das Projekt „Varieté Inklusiv – Kulturelle Bildung und Inklusion in Schule“. Zusammen mit Lehrer*innen und Künstler*innen entwickeln Schüler*innen mit und ohne Handicap hier gemeinsam Geschichten, die sie am Ende des Projektjahres auf die Bühne und vor ein Publikum bringen. Jede Form ist möglich, ob Schauspiel, Gesang, Tanz oder visuelle Darstellungen. Dabei erleben die 12- bis 16-jährigen Schüler*innen, dass jede und jeder ein eigenes Potenzial mitbringt. Der kreative Rahmen soll das Verständnis füreinander und die vielseitige Gesellschaft fördern.

Das Projekt „Varieté Inklusiv – Kulturelle Bildung und Inklusion in Schule“
Bringt alle auf die Bühne: das Projekt Varieté Inklusiv. © Varieté Inklusiv
12- bis 16-jährigen Schüler*innen trommeln im Rahmen des Projekts Varieté Inklusiv am Franz Sales Haus in Essen mit Schlagzeugstöcken auf rote Gymnastikbälle.
"Jeder Mensch kann sich künstlerisch ausdrücken", sagt Markus Höller. © Varieté Inklusiv

Die Kraft der Bühne

Die Theaterliebe packte Markus Höller, als er Mitte der 1990er-Jahre das Stück „Victor oder Die Kinder an der Macht“ in Köln anschaute. „Das war wie Rock ‘n‘ Roll, nur ohne Musik“, erzählt er und schwärmt von dieser unfassbaren Kraft, die sich auf der Bühne entfesselte und ihn berührte. Die abgeschlossene Ausbildung zum Werbe­kaufmann in Düsseldorf ist seither nur noch ein Umweg in seinem Lebens­lauf. 1994 zog Markus Höller nach Berlin und schrieb sich für Publizistik und Kommunikations­wissenschaften sowie Theater-, Film- und Fern­seh­wissenschaften ein. Parallel zum Studium war er Regie­assistent an der Berliner Kammer­oper. „Ich war so beeindruckt von der Musik, dass ich weinen musste vor Glück“, erinnert sich Höller zurück. Dieses Engagement ließ dann auch einen Entschluss in ihm reifen: „Mein Weg ist ein Leben in der Kunst!“ Es folgte ein Stipendium des Deutsch-Französischen Kultur­rats beim Opern­festival Chorégies d‘Orange und an der L’Opéra National de Paris. Im Jahr 2000, nach erfolg­reichem Studien­abschluss, ging er als Abend­spiel­leiter an die Komische Oper Berlin.

Der Theaterpädagoge Markus Höller sitzt in einem Theatersaal auf einem Sitz im Publikumsraum.
Stellt seit rund 20 Jahren inklusive Theaterprojekte auf die Beine: Markus Höller. © Lukas Schulze
Ein Büro mit einem Bild an der Wand, auf dem Kinder ein Theaterstück vorführen.
Statt Proben vor Ort koordiniert Höller derzeit Mitmachvideos für die Kinder und Jugendlichen. © Lukas Schulze

Neugierig auf Menschen

Die Arbeit mit Kindern stand gar nicht in seinem Skript, dass er sich für sein Leben in der Kunst gedacht hatte. Als Assistent an der Komischen Oper war es jedoch eine seiner Aufgaben, mit dem Kinderchor szenisch zu arbeiten. „Da habe ich gemerkt, dass ich in der kreativen Arbeit mit jungen Menschen richtig was bewirken kann.“ Es ist diese Neugier auf Menschen und darauf, was Theater mit Menschen macht, die ihn bis heute antreibt. Markus Höller beschloss damals, sich als Theaterpädagoge weiterzubilden. Ein Jahr lang lernte er am Theaterpädagogischen Zentrum in Köln, mit Kindern und Jugendlichen Geschichten auf die Bühne zu bringen. Wie Theater Ängste abbauen und das Selbstvertrauen stärken kann. Jeden Tag in der Ausbildung merkte er, wie sehr ihm das lag. Heute sagt er über sich und seinen Beruf: „Ich bin geworden, was ich bin.“

Ein Schüler hält auf der Bühne des Franz Sales Haus in Essen eine Rose in die Luft.
Einfach Schauspieler sein. © Varieté Inklusiv

Die Vielschichtigkeit des Einzelnen

Sein Weg führte ihn schließlich an die Wuppertaler Bühnen. Dort gründete und leitete er ein inklusives Ensemble, insgesamt 17 Jahre lang. Die erste Produktion war Shakespeares „Romeo und Julia“, auch eigene Stückentwicklungen brachte die Gruppe auf die Bühne. Bei der Frage nach Unterschieden in der Zusammenarbeit mit Schauspieler*innen mit und ohne Handicap lacht Markus Höller. „Das Tempo. Ich muss mich immer wieder bremsen, darf nicht zu viel zu schnell wollen – auch heute noch“, sagt er. Wichtig sei es auch, intensiv zuzuschauen und zuzuhören und für jede*n Spieler*in eine individuelle Ansprache und individuelle Probenaufgaben zu finden. „Man muss Vertrauen und Vertrautheit schaffen.“ Ansonsten wollen die Ensemblemitglieder einfach Schauspieler*innen sein und auf die Bühne. „Die Behinderung ist nur ein Teil des Menschen, sie definiert ihn nicht. Dahinter gibt es noch viel zu entdecken, und das Theater gibt dem eine Plattform“, erläutert Höller. Und diese Vielschichtigkeit gebe es doch bei jedem Menschen. Genauso wie das Lampenfieber. Da müssen alle Schauspieler*innen durch, und das Überwinden der Angst gebe einen riesigen Schub. Theater ist für Markus Höller wie Fallschirmspringen: Die Lust, zu springen, ist etwas größer als die Angst davor.

Zutrauen und Selbstwirksamkeit

Dieses Zutrauen will er heute vor allem vermitteln, wenn er mit den Essener Jugendlichen und Kindern Bühnenpräsentationen entwickelt. Hier begleitet Markus Höller die Schüler*innen der Franz Sales Förderschule und der Erich Kästner-Gesamtschule dabei, aus dem Thema „Meins und Deins“ eine Aufführung zu gestalten. Durch die künstlerische Aufgabe lernen sie, zusammen etwas auf die Beine zu stellen, über alle Unterschiede hinweg. „Ich muss dabei vor allem offen und unvoreingenommen sein“, so der Theaterpädagoge. Er beobachtet, wie die einzelnen Jugendlichen ticken: Wer ist laut, wer ist schüchtern, wer braucht welche Ansprache? Er leitet sie, hilft ihnen, dranzubleiben und ihre kreativen Ideen zusammenzubringen.

Doch wie geht das alles in Zeiten von Corona, mit geschlossenen Schulen und Theatern? Und ohne die Möglichkeit, vor Ort zu proben, sich zu treffen? Markus Höller und sein Team haben sich etwas überlegt: Die beteiligten Künstler*innen erstellen Mitmachvideos für die Schüler*innen. Darin werden Ideen, Choreos, Szenen, Sounds sowie Bilder aus den bisherigen Proben aufgegriffen und weiterentwickelt. Es ist für alle ein neuer Schritt, doch die Motivation ist hoch: „Es ist uns wichtig, mit den Kindern in Kontakt zu bleiben. Mit den Videos versuchen wir die Beziehung, die wir mit den Schüler*innen im Probenprozess aufgebaut haben, aufrechtzuerhalten. Wir wollen den Kindern und Jugendlichen unbedingt eine Möglichkeit geben, sich weiter künstlerisch zu betätigen“, erklärt Höller.

Voneinander lernen

Gäbe es derzeit keine globale Pandemie, dann ginge jetzt die Arbeit so richtig los. Proben, Kostüme entwerfen, das Bühnenbild entwickeln. Während dieses Prozesses werden die Kinder ein Ensemble, ein Team, das voneinander lernt, sich Mut macht und die Stärken des Einzelnen wahrnimmt. „Ich erlebe es immer wieder, wie die Kids Vorurteile und Getue über Bord werfen, sich für die anderen wirklich öffnen und an einem Strang ziehen“, staunt Markus Höller. Auch Konflikte und Ablehnung muss er aushalten können. „Ich bin oft der Kratzbaum, an dem die sich abarbeiten“, sagt Höller. Oft hätten die Schüler*innen eine Karriere des Scheiterns hinter sich. Bei Markus Höller hören sie „So wie du das gemacht hast, ist das okay“. Damit setzt er eine positive Entwicklung in Gang. Die Kinder lernen, dass sie selbstwirksam sein können, dass sie gehört und gesehen werden. Für ihn ist diese Form der kulturellen Bildung essenziell – „fürs Menschsein“.

Varieté Inklusiv – Kulturelle Bildung und Inklusion in Schule

Die Stiftung Mercator fördert das Projekt „Varieté Inklusiv – Kulturelle Bildung und Inklusion in Schule“ am Franz Sales Haus in Essen. Es bringt Kinder, Jugendliche, Lehrer*innen und Künstler*innen in inklusiven Gruppen zusammen, um gemeinsam Kunst zu schaffen und vor Publikum zu zeigen.

https://www.variete-inklusiv.de