„Bewusstsein hat sich verändert“

„Bewusstsein hat sich verändert“
Autor: Matthias Klein 19.02.2021

Vor einem Jahr schockierte der rechtsextreme Anschlag in Hanau. Dieser habe in migrantischen und postmigrantischen Communities Spuren hinterlassen, sagt Ferda Ataman, Sprecherin der neuen deutschen organisationen. „Und Rechtsextreme wittern Morgenluft.“

Das rassistische Attentat von Hanau liegt nun ein Jahr zurück. Hat sich dadurch die Wahrnehmung von Rassismus in Deutschland nachhaltig verändert, Frau Ataman?

Ferda Ataman: Neben dem Blutbad von Hanau gab es ja mehrere große Ereignisse, wie den Mord an CDU-Politiker Walter Lübcke und der Anschlag von Halle. Man kann es nicht anders sagen: Rechtsextreme wittern Morgenluft in Deutschland. Wie damals, in den 90er Jahren. Was sich spätestens nach Hanau verändert hat, ist das Bewusstsein für das Problem Rechtsextremismus. Das Innenministerium, die Spitze unserer Sicherheitsapparate, nimmt das Thema ernster. Trotzdem können wir ein Jahr danach sagen: Die Hoffnung, dass Hanau zum Wendepunkt im Umgang mit Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus wird, wurde leider enttäuscht. Die Ergebnisse des Rassismuskabinetts von Ende 2020 bringen keine nennenswerten Veränderungen.

Mit Blick auf den Anschlag  wurde auch viel über die Medienberichterstattung diskutiert. Wie bewerten Sie diese im Rückblick?

Ataman: Viele Medien erzählten den Fall so: Ein 42-jähriger Deutscher hat neun Migranten erschossen. Das stimmt nicht. In Hanau hat ein rassistischer Terrorist neun Einheimische erschossen. Die meisten Mordopfer waren Deutsche und in Deutschland geboren. Trotzdem wurden sie zu Migrant*innen und Ausländer*innen erklärt. Das ist keine Spitzfindigkeit, sondern wichtig: Wer nicht als Teil der Gesellschaft wahrgenommen wird, bekommt nicht die gleiche Aufmerksamkeit und Fürsorge. Für „Fremde“ gibt es zum Beispiel weniger Empathie, wenn der Staat Opferentschädigungen zahlen soll.

Ferda Ataman
© Sarah Eick

Ferda Ataman

Ferda Ataman ist Sprecherin des Vereins neue deutsche organisationen.

In einer Zeitung hatte ich zusammen mit Journalistinnen und Künstlerinnen etwas zum Anschlag gesagt und die Überschrift lautete: „Migranten äußern Betroffenheit“. Auch da galt: Wir sind alle Deutsche. Positiv war, dass die Zeitung sich nach Kritik schnell korrigiert und entschuldigt hat. Und gut war, dass dieses Mal die Bundeskanzlerin und die meisten Medien von einem rassistischen Anschlag sprachen und nicht mehr von „Fremdenfeindlichkeit“ oder „Ausländerfeindlichkeit“.

Im vergangenen Sommer kam das Thema durch die Aktionen rund um #blacklivesmatter erneut prominent auf die Tagesordnung. Was bedeutet das?  

Ataman: Diese Debatte war wirklich bemerkenswert. Tagesschau, heute journal, Spiegel, Focus, Zeit, Springer-Medien, egal ob links oder rechts: überall war Rassismus das Topthema, fast vier Wochen lang. Zum ersten Mal gab es Talkshows, in denen es um strukturellen Rassismus ging. Natürlich wurde auch schon vorher über Rassismus berichtet. Aber nach Terroranschlägen liegt der Fokus zurecht auf Gewalt und Rechtsextremismus, hier ging es maßgeblich um den Rassismus der Mitte. Den alle verinnerlicht haben. Darum, dass es uns nicht auffällt, wenn im „Traumhotel“ in der ARD ausschließlich weiße Menschen Protagonisten sind, während Schwarze Menschen oder People of Color als Dienstpersonal erscheinen und den Gästen unterwürfig Blumenkränze um den Hals legen. So eine Debatte gab es noch nie. Aber leider wurde der Fokus sehr stark auf persönliche Betroffenheit gelenkt: Was haben Sie als Schwarze Person erlebt? Wie fühlt sich das an? Dabei wäre es viel spannender nach vorne zu blicken: Was muss sich strukturell ändern, damit es nicht nur einzelne „Migranten“ nach oben schaffen? Was muss sich ändern, damit wir maximale Chancengerechtigkeit in Deutschland erreichen?

Viele haben verstanden, dass Rassismus für Millionen von Menschen in Deutschland tatsächlich ein alltägliches Problem ist.

Wie hat sich die gesellschaftliche Debatte seitdem entwickelt?

Ataman: Ich würde sagen, wir sind einen Schritt weiter, wenn auch einen kleinen: Viele haben verstanden, dass Rassismus für Millionen von Menschen in Deutschland tatsächlich ein alltägliches Problem ist, auch wenn sie keinen Nazis begegnen. Und wir entwickeln uns langsam sprachlich weiter. Damit Leute wie ich auch „Deutsche“ sein können, müssen wir unterscheiden lernen in „weiße“ Deutsche und nichtweiße Deutsche. Das ist nicht unbedingt eine Frage der Hautfarbe. Ein türkischer oder arabischer Name reicht in manchen Fällen aus, um aus dem Bewerbungsstapel aussortiert zu werden. „Weiß“ sind diejenigen, die als „richtig“ deutsch, christlich, westlich wahrgenommen werden. Nichtweiß sind alle, die als migrantisch, ausländisch oder „anders“ interpretiert werden.

© Getty Images

Menschen mit migrantischer Geschichte hatten nach Hanau berichtet, dass sie in Deutschland im Alltag Angst haben. Wie ist das heute?

Ataman: Die akute Angst, die Menschen unmittelbar nach Terroranschlägen verspüren, ist vermutlich abgeklungen. Aber Hanau hat in den migrantischen und postmigrantischen Communities Spuren hinterlassen und Verunsicherung und Sorge haben viele mobilisiert. In mehreren Städten und Regionen haben sich wütende junge Menschen in „Migrantifa“-Gruppen zusammengeschlossen, die sich trotz Corona weiter organisieren und gegen Rassismus engagieren, beispielsweise Migrantifa NRW, Berlin, Frankfurt. In Hanau selbst haben sich die Angehörigen der Opfer und die Überlebenden des Anschlags zusammengetan und die „Initiative 19. Februar“ gestartet. Sie versucht, mit Spenden ein Büro und Hilfsstrukturen in der Innenstadt zu schaffen und vernetzt sich mit anderen Gruppen wie der „Initiative 6. April“, die an die Opfer und Verbrechen des NSU erinnert. Die Mutter von Ferhat Unvar hat eine Bildungsinitiative gestartet, damit „unsere Kinder nicht umsonst gestorben sind“. Es hat sich also viel getan.

Die Namen der jungen Menschen, die in Hanau Opfer des rassistischen Anschlags wurden, lauten:

Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov.

Was sollte die Gesellschaft aus Ihrer Sicht konkret gegen Rassismus tun?

Ataman: Das Problem Rassismus ist kompliziert und hartnäckig und eine kurze Antwort unmöglich. Aber viele sind bereit, etwas zu tun, daher ein paar Ideen: Helfen Sie erstens dabei, dass Hanau nicht vergessen wird. Unter dem Hashtag #Saytheirnames erinnern viele an die Namen der Opfer von Hanau – nicht nur im Internet, Künstler*innen und Einzelpersonen haben auch Bilder der Opfer an Häuserwänden platziert. Der Fokus sollte auf sie gelenkt werden und auf ihre Familien, in die der rassistische Täter eine nie wieder zu füllende Lücke hineingeschlagen hat.

Wir dürfen Rassismus zweitens nicht länger als Problem der Vergangenheit oder im Ausland, in den USA, verstehen. So wie die Klimakrise real ist, aber nicht täglich für alle gleich stark zu spüren, ist auch die Rassismuskrise real. Alle Parteien, Stiftungen, Medien, Unternehmen, Behörden und so weiter müssten sich damit auseinandersetzen und Angebote machen. Parteien müssen Rassismus und Teilhabe endlich in ihren Parteiprogrammen angehen. Medien und Unternehmen können Förderprogramme aufstellen und alle Angestellten in Antirassismus-Trainings bitten. Stiftungen können den Fokus auf gesellschaftliche Entwicklungen stellen und betroffene Minderheiten stärken. Bei vielen hat das schon angefangen.

Und drittens können auch Einzelpersonen mit kleinen Schritten viel bewirken. Sie können im Alltag protestieren, wenn Äußerungen gemacht werden, die Gruppen diffamieren. Sie würden staunen, wie oft Schimpfwörter gegen Schwarze Menschen oder Sinti und Roma im Alltag und in den Medien noch fallen, wenn man erst mal darauf achtet. Sie können junge Menschen aus Einwandererfamilien fördern und zum Beispiel einen Praktikumsplatz anbieten oder Hilfe bei der Jobsuche anbieten. Oft gibt es viele persönliche Anknüpfungspunkte, über Schulen, Fußballvereine und so weiter.  

neue deutsche organisationen

neue deutsche organisationen e.V. sind ein bundesweites Netzwerk von rund 100 Vereinen, Organisationen und Projekten. Der Verein sieht sich als postmigrantische Bewegung gegen Rassismus und für ein inklusives Deutschland.

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