Der Ganztag, Frau Zimmermann und zu Hause sein
Bis zum Jahr 2025 soll bundesweit ein Rechtsanspruch für Ganztagsbetreuung von Kindern im Grundschulalter geschaffen sein. Viele Eltern wünschen sich das. Doch was wollen eigentlich die Kinder?
Dienstag um 11:30 Uhr in der Schmachtenbergschule in Essen-Kettwig, einem hübschen Stadtteil an der Ruhr im Südwesten der Metropole. In der Schule haben die Erst- und Zweitklässler*innen aus der jahrgangsgemischten Gruppe 1/2 b einen Stuhlkreis gebildet und werden leise, als ihre Erzieherin einen Gong schlägt. Anke Zimmermann geht mit ihnen vor dem Mittagessen den Tag durch. Er war ungewöhnlich: „Heute Morgen habt ihr die ersten beiden Stunden einen Waldlauf gemacht. Wer von euch hat denn mehr als eine Runde gedreht? So viele Finger zeigen auf – das ist ja toll! Dafür bekommt ihr in der nächsten Stunde eine Urkunde. Aber jetzt steht erst einmal das Mittagessen auf dem Plan.“
Die Kinder der 1/2 b gehören zu einer festen Ganztagsgruppe und treffen sich jeden Tag von etwa 8 bis 16 Uhr in der Schule. Immer mehr Eltern melden ihre Kinder für den Ganztag an, sagt Schulleiterin Birgit Weniger. „Von unseren rund 260 Schüler*innen wird der Großteil bis in den Nachmittag hinein betreut. Wir haben unsere Räumlichkeiten entsprechend erweitert und beschäftigen eine größere Anzahl von Erzieher*innen. Auch in der Zukunft rechne ich mit einem steigenden Bedarf“, so die Direktorin.
Ab 2025: Recht auf Ganztag
Arbeitende Mütter und Väter möchten ihren Nachwuchs gut beaufsichtigt wissen. Ein Bedürfnis, das sie ab 2025 in Deutschland auch rechtlich einfordern können. Denn dann tritt bundesweit der Anspruch auf Ganztagsbetreuung an Grundschulen in Kraft. An fünf Tagen in der Woche und für je acht Stunden müssen Bildungseinrichtungen allen Eltern eine Betreuung gewähren. Einer Studie des Deutschen Jugendinstituts zufolge wünschen sich bereits heute mehr als 70 Prozent der Eltern für ihr Kind den Ganztag.
Doch wie finden Kinder die Vorstellung, acht Stunden lang in einer Bildungseinrichtung zu verbringen? Bislang werden ihre Stimmen selten gehört. Der Pädagoge Bastian Walther und die Professorin für Bildung im Kindesalter Iris Nentwig-Gesemann haben sich in der Studie „Kinderperspektiven auf Ganztag im Grundschulalter“ deshalb dieser Frage angenommen. „Man kann im Ganztag das primäre Ziel haben, dass Eltern mehr arbeiten können“, führt Bastian Walther aus. „Genauso das Ziel, dass sich Kinder in der Zeit mehr arbeitsmarktfähige Kompetenzen aneignen. Das wären beides in erster Linie ökonomische Perspektiven. Man kann aber auch sagen, dass das vorrangige Ziel ist, dass Kinder glücklich aufwachsen. Was braucht es dafür? Genau das haben wir untersucht.“
Zusammen spielen, toben und Geheimnisse teilen
Kunstunterricht für die Klasse 1/2 b der Schmachtenbergschule. Die Kinder sitzen im Hufeisen an ihren Tischen und malen mit Wasserfarbe Regenbögen auf DIN-A3-Blöcke. Leopold, sieben Jahre alt, lässt seinen Regenbogen aus einer Ecke des Papiers wachsen. Was mag er denn am liebsten im Ganztag? „Die Malecke“, antwortet er. Er meint einen Tisch mit Stiften, der sich im bunt geschmückten Aufenthaltsraum befindet, in dem sich die Kinder mit ihrer Erzieherin nach dem Unterricht treffen. In dem Raum können Leopold und seine Freunde malen, lesen, mit Lego spielen oder sich zurückziehen. Zum Beispiel in die Kuschelecke, einen deckenhohen Turm, der im Inneren mit Kissen und Decken gepolstert ist. Leopold baut dort manchmal Höhlen, Maya und ihre Freundin Jette ruhen sich in der Holzkonstruktion gelegentlich aus. „Vor allem heute möchte ich das machen, weil der Waldlauf anstrengend war“, sagt Erstklässlerin Maya.
Kinder schätzen Rückzugsorte im Ganztag, bestätigt Bastian Walther. Für die Studie hat der Wissenschaftler vom Berliner Institut für Demokratische Entwicklung und Soziale Integration (DESI) in acht Einrichtungen in ganz Deutschland mit über 160 Kindern zwischen sechs und zehn Jahren gesprochen. Zum einen sind die Ruhezonen zum Auftanken wichtig, denn ein Schultag kann laut und anstrengend sein. Zum anderen möchten Kinder unbeobachtet von Erwachsenen Freundschaften knüpfen und pflegen. So gestalten sie eine „positive Peer-Kultur“, wie es in der Studie heißt. „Denn – und das ist ja ganz klar – nur wenn das Gruppengefüge funktioniert, fühlen sich Kinder im Ganztag gut aufgehoben“, fasst Bastian Walther zusammen.
Der Zusammenhalt wächst mit kleinen Geheimnissen. Leopold schleicht sich mit seinem Freund Jasper nach dem Unterricht manchmal in einen großen Busch auf dem grünen Schulgelände, zu dem sie eigentlich nicht gehen sollen. „Da spielen wir Verstecken und Fangen,“ erklärt Leopold und lächelt verschmitzt, denn er weiß, dass das Spielen im Busch verboten ist. Ava ergänzt für sich und ihre Freundinnen: „Wir sind gerne an dem Baum mit den großen Wurzeln, weil uns dort niemand sieht.“
Kindern kleine Freiräume zu gewähren fördert ihr Wohlbefinden in der Schule, sagt Bastian Walther. „Sie erleben es laut unserer Studie als problematisch, wenn sich pädagogisches Fachpersonal immer einmischt und dauerhaft auf Gehorsam, Disziplin und Ruhe besteht. Denn dann stellt sich im Ganztag die Freizeit als Verlängerung des Unterrichts dar, und das belastet die Kinder.“
Frau Zimmermann und viel Zeit in der Natur
Um 13 Uhr ist mit der Kunststunde der offizielle Unterricht für die Kinder der 1/2 b zu Ende. Die Schüler*innen stürmen mit den Ranzen über den Pausenhof in ein anderes Gebäude. In dem Aufenthaltsraum mit den selbst gemachten Drachen, Gespenstern und Blättervögeln erwartet sie bereits Anke Zimmermann. „Ab jetzt können die Kinder selbst entscheiden, was sie machen“, sagt die Erzieherin, die den Ganztag vor 14 Jahren an der Schule mit aufgebaut hat. „Wir haben verschiedene Bastelangebote, und später finden AGs statt, die in Zeiten von Corona aber etwas eingeschränkt sind. Die meisten Kinder wollen aber erst einmal drauflosspielen. Aus meiner Sicht ist das nach einem langen Schultag genau das Richtige. Aber wenn jemand etwas braucht, bin ich da.“
Draußen auf dem weitläufigen Schulgelände mit den großen Rasenflächen spielen die Jungs Fußball, die Mädchen Fangen, und alle zusammen hangeln am Klettergerüst. Das Gerüst mit den Strickleitern und den dicken Holzstämmen mögen alle besonders gerne, genauso den geheimnisvollen Baum mit den ausladenden Wurzeln und den Busch, in dem es sich so gut verstecken lässt. „In allen von uns besuchten Einrichtungen haben sich Kinder für Naturerfahrungen starkgemacht“, berichtet Bastian Walther. „Selbst an Schulen, die nur aus Beton zu bestehen schienen, haben die Kinder irgendwo ein Plätzchen entdeckt, an dem ein paar Blumen gesprossen sind. Das war dann ihr Lieblingsort, an dem sie die unglaublichsten Fantasiespiele entwickelt haben. Das heißt: Die Wichtigkeit von Naturerfahrung und grünen Räumen, in die man sich zurückziehen und untereinander spielen kann, ist für das Wohlbefinden der Kinder im Ganztag immens wichtig.“ In der Studie, welche 14 Aspekte unterscheidet, die aus Kindersicht für einen gelungenen Ganztag wichtig sind, spricht der Wissenschaftler in diesem Zusammenhang von einer „Erweiterung des Bildungsraums in den Natur- und Sozialraum“. Damit ist gemeint, dass Kinder es sich wünschen, über die Grenzen der Schule hinauszugehen, etwa für externe AGs oder Übernachtungsfahrten. Ein Areal mit vielen Verstecken und Schlupfwinkeln kommt dem Entdeckergeist der Kinder im Alltag entgegen.
Vom Schulgelände in die große weite Welt und zurück
Im Aufenthaltsraum mischen sich unter die Erst- und Zweitklässler*innen nun auch Kinder aus der dritten und vierten Stufe. Für sie ist es laut der Studie noch wichtiger als für die jüngeren, dass sie auf dem Schulgelände Orte finden, an denen sie ungestört sind. „In diesem Alter ist es für sie besonders zentral, wenn sie sich in der Peergroup mit Lebensthemen auseinandersetzen können, die im schulischen Lehrplan nicht vorkommen, und wenn sie Grenzen austesten können.“ Jonathan, Constantin, Ivo-Lan, Justus und Anmol sind eine Clique, die in der unterrichtsfreien Zeit manchmal die Etage im oberen Stock auskundschaftet. Erlaubt ist das offiziell nicht, aber ein besonderer Kick. Genauso lieben es die Jungs, auf dem Pausenhof Fußball zu spielen. Als das während Corona verboten war, haben sie im Ganztag einen Brief aufgesetzt und 30 Unterschriften von Mitschüler*innen gesammelt. „Damit sind wir dann zur Schulleiterin gegangen. Und dann durften wir irgendwann wieder Fußball spielen“, erzählt Constantin und freut sich rückblickend über den Moment der Selbstwirksamkeit. Das Erlebnis hat sie noch enger zusammengeschweißt.
Am Nachmittag neigt sich der Ganztag dem Ende zu. Nach und nach kommen Eltern und holen ihre Kinder ab. Luisa ist sechs Jahre alt und besucht die 1/2 b. „Das Schönste an der Schule ist der Ganztag“, sagt sie zum Abschied und meint damit die Zeit nach dem Unterricht. „Der Ganztag, Frau Zimmermann und dann wieder nach Hause zu kommen.“
Rechtsanspruch Ganztag
Im Projekt „Rechtsanspruch Ganztag“ sollen Wissen und Diskursräume für die an der Umsetzung des Rechtsanspruchs Beteiligten zur Verfügung gestellt werden. Das Ziel ist es, durch fundierte Erkenntnisse zur Umsetzung des Rechtsanspruchs für Kinder im Grundschulalter die pädagogische Qualität an Ganztagsschulen zu sichern. Der Anspruch soll ab 2025 gelten.