„Das ist eure Schule!“
Pinke Bilderrahmen, eine goldene Tischtennisplatte, gemütliche Chill-out-Zonen – in Mainz gestalteten Kinder und Jugendliche ihre Schule um. Und lernten dabei zwischen Pinsel, Farbtopf und Hölzern, dass sie ihr Umfeld mitgestalten und -denken können.
Auf dem Weg in den Unterricht noch schnell ein „Ich war hier“ oder eine Zeichnung an die Wand kritzeln? In der Mainzer Kanonikus-Kir-Realschule (KKR) ist die Schülerpoesie sogar eingerahmt – in leuchtendes Pink. Die Idee kam Schülerinnen der sechsten Klassen, als sie auf der Suche nach einem Kunstprojekt durch ihre Schule streiften. Mit wachen Augen entdeckten sie das Gebäude neu, sahen die vollgeschriebenen Wände – und das Potenzial.
„Wir wollten einen Platz schaffen, damit Schüler*innen auf die Wand schreiben können. Ohne die Sorge, etwas zu beschädigen und Ärger zu bekommen“, erinnert sich Iman El Marini. Angeleitet und ermutigt wurden sie und ihre Mitschüler*innen von Studierenden im Fachbereich Kunstdidaktik der Kunsthochschule Mainz. Inzwischen ist Iman in der achten Klasse, doch wenn sie heute an den Rahmen vorbeikommt, ist sie noch immer stolz. „Ich hab das gemacht, wir hatten die Idee, und jetzt hängt das da und wird genutzt – das ist toll!“, sagt die 14-jährige Iman. Es war das erste Mal, dass sie so aktiv Kunst gemacht hat.
Als eine von sechs Referenzschulen in Rheinland-Pfalz nimmt die KKR-Kulturschule an dem Programm „Generation K“ teil. Hauptsächlich richtet es sich an die Schüler*innen der fünften bis zehnten Klassen. Künstler*innen und Studierende der Kunsthochschule kommen mehrmals pro Woche in die beteiligten Schulen, um mit den Kindern und Jugendlichen an kreativen Projekten zu arbeiten und das Gebäude in eine künstlerische Fläche zu verwandeln.
Kreative Problemlösungskompetenz
„Jedes Kind kann Kunst“, ist Margret Bamberger überzeugt. Die Pädagogin ist seit dem Projektstart vor drei Jahren an der Schule und treibt als zweite Konrektorin die Idee der Kulturschule voran. Dafür holt sie außerschulische Partner wie die Kunsthochschule Mainz, Künstler*innen des Projekts „Generation K“ und die Kunsthalle Mainz in den Unterricht. Ihr geht es dabei um die Potenziale, die die kreative Auseinandersetzung mit dem Umfeld, mit Herausforderungen und Ideen freisetzt. „Diese kreative Problemlösungskompetenz ist es, die mich von dem Konzept der Kulturschule so überzeugt“, sagt Margret Bamberger. Die Konrektorin glaubt dabei an den „Schneeball-Effekt“: Erlaubt man Kindern und Jugendlichen, sich künstlerisch im und am Gebäude auszudrücken, und fördert man ihre Ideen, strahlt das auf die gesamte Schülerschaft aus.
Noch immer lieben die Schüler*innen die goldbesprühte Tischtennisplatte, die oben und unten mit gelbem Teppich beklebt ist. Auch für Iman ist das einer der besten Einfälle, um das Gebäude mehr an die Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen anzupassen und zu chillen. Konrektorin Bamberger ist noch heute beeindruckt, mit wie viel Tatendrang und Ideen die Schüler*innen das Gebäude verändert haben. Ob drinnen oder draußen – sie bauten gemütliche Ecken, die sie „Chill-out-Zonen“ nennen, bepflanzten sie teilweise und polsterten sie. Kleine Rückzugsräume vom hektischen Schulalltag.
Bei der Umsetzung solcher Projekte lernen die Schüler*innen, Schwierigkeiten selbstbewusst anzugehen, andere zu überzeugen und sich nicht ausbremsen zu lassen. Und sie fühlen sich ernst genommen, denn es sind ihre Wahrnehmung und ihre Ideen, die umgesetzt werden. „Wenn wir die Schüler*innen daran Anteil nehmen lassen, wie das Gebäude aussieht, fühlen sie sich nicht nur wohler, sondern sie identifizieren sich auch stärker mit der Schule“, sagt Bamberger. Diese Erfahrung der Selbstwirksamkeit sei es, die sich auf die gesamte Entwicklung der jungen Menschen auswirke.
Sich künstlerisch die Welt erschließen
„Die Schüler*innen verbringen so viel Lebenszeit in schulischen Räumen. Zu merken, dass man etwas verändern und den Raum Schule aktiv mitgestalten kann, inspiriert sie“, sagt Bock. Die Jugendlichen werten dabei nicht nur die Fassade der Schule auf, sondern auch sich selbst. Dieser künstlerische Zugang ist lebendig und einprägsam und hat auch einen positiven Effekt auf die schulischen Leistungen in anderen Fächern: Die Jugendlichen lernen, wie aus einer Idee ein Konzept und schließlich etwas Greifbares entsteht.
Schule als Ausstellungsort
Ideen machen, Konzepte entwickeln, Umsetzungen steuern – Kompetenzen, die die Schüler*innen für ihre berufliche Zukunft brauchen können. Lernen sie, einen Einfall in ein konkretes Projekt zu verwandeln, sich von Rückschlägen oder Skepsis aus dem Umfeld nicht einschüchtern zu lassen und es zu Ende zu bringen, stärkt das ihr Selbstbewusstsein enorm. Als der bildende Künstler Erik Schmelz an der KKR startete, wollte er den Schüler*innen genau diese Erfahrung vermitteln. So kam ihm die Idee, eine Schülerfirma zu gründen, die kreative Projekte umsetzt, genannt „IKU“ (Idee.Konzept.Umsetzung).
Zu Anfang waren die Schüler*innen noch zurückhaltend und unsicher, inwieweit sie in die Gestaltung des Schulgebäudes eingreifen dürfen. Erik Schmelz erinnert sich, wie er sie wachrüttelte: „Ihr seid in der Überzahl – das ist eure Schule!“ Es war der Schlüsselmoment, in dem sie verstanden, dass sie die Schule mitgestalten und mitdenken können. „Die Schüler*innen bringen alles mit – diese Ressourcen und Interessen muss man nur nutzen, sie bestärken und sich entfalten lassen“, ist der Künstler überzeugt. In der Kunst gehe es auch darum, sich auszuprobieren und scheitern zu können. Und dann weiterzumachen. Eine Kompetenz, die für das gesamte Leben stärkt.
Schließlich waren die zehn Schülerinnen Feuer und Flamme und gingen, zunehmend selbstbewusst, ans Werk. Der erste Auftrag war die Konzeption, Organisation und Realisation einer Ausstellung in der Schule mit Werken externer Künstler*innen. Die Mädchen gründeten ein Kuratorinnenteam, suchten die Kunstobjekte aus, legten die Gestaltung fest, kommunizierten mit den Künstler*innen, kümmerten sich um Plakate, Flyer und Sponsoren – und lernten, gemeinsam eine Vision umzusetzen. Erik Schmelz zog sich immer mehr aus dem Projekt zurück und überließ den Schüler*innen die Organisation. „Mit so einer Aufgabe gewinnen die Kinder und Jugendlichen immer mehr Zutrauen in sich selbst, sie lernen, dass sie Probleme selbst lösen können“, so der bildende Künstler.
Veränderung braucht Zeit
Der Zugang zum Lehrpersonal war nicht immer leicht. „Ich bin ja nicht so der/die Kreative“, hörte Erik Schmelz oft im Dialog mit den Pädagog*innen. Ein Irrtum, davon ist der 44-jährige Künstler überzeugt. „Wir wollten die Lust an Kreativität wiedererwecken. Es geht ja bei ,Generation K‘ nicht um das künstlerische Werk, sondern darum, kreative Lösungen für etwas zu finden“, sagt er.
Ist der Knoten erst mal geplatzt, profitiert die ganze Schule von dem positiven Effekt. Margret Bamberger weiß zu schätzen, dass immer mehr Kolleg*innen sich der kreativen Stoffvermittlung öffnen und sich interessiert mit den Künstler*innen austauschen. „Das Schiff ist im Wasser, die Strömung ist da und nicht mehr aufzuhalten“, sagt sie. Auch Stephan Bock ist von dem positiven Effekt überzeugt: „Lehrkräfte und Schüler*innen merken das ganz von selbst. Ein künstlerischer Zugang zu Lerninhalten spricht mehr Sinne gleichzeitig an, ist lebendig und einprägsam. Kinder verstehen mehr, haben mehr Spaß im Unterricht, und die Noten werden besser.“
Diese Erfahrung teilt auch Schülerin Iman, die am liebsten im Chemie-, Bio- und Physikunterricht sitzt und als Kinderärztin arbeiten möchte. Eigentlich könne sie gar nichts mit Kunst anfangen, hatte sie gedacht. Doch seit sie mit ihren Mitschüler*innen die pinken Rahmen im Gebäude verteilte, hat sie einen anderen Zugang zu Kunst und Kreativität bekommen. „Ich bin mutiger und offener geworden. Ich habe keine Angst mehr, etwas falsch zu machen, wenn ich eine Idee habe, sondern probiere es einfach aus“, sagt sie. So ist sie auch bei sich zu Hause kreativer geworden – und davon profitiert sogar ihre kleine Schwester. Als Iman beobachtete, wie gern ihre Schwester an den Wänden malte, schuf sie im Wohnzimmer eine abwischbare Fläche, die ihr Geschwisterchen seither fröhlich immer wieder neu verschönert. „Ich hab gelernt, dass Kunst Spaß macht.“
Kreativpotentiale
Das Rahmenprogramm der Stiftung Mercator hat das Ziel, kulturelle Bildung nachhaltig in den Schulstrukturen zu verankern. Die Stiftung unterstützt die Bundesländer dabei, landeseigene Programme zu entwickeln, die im Schulsystem implementiert werden.