Mut und 200 Euro BAföG im Monat
Was braucht es für einen Aufstieg? Natalya Nepomnyashcha hat geschafft, wovon viele junge Menschen träumen: eine steile Karriere hinzulegen – als junge Frau aus einem sozialen Brennpunkt. Wie hat sie ihren Weg nach oben gefunden?
Natalya Nepomnyashcha ist Gründerin des sozialen und gemeinnützigen Unternehmens „Netzwerk Chancen“. Mit ihrem Unternehmen möchte sie ihre Erfahrungen weitergeben und junge Erwachsene aus strukturschwachen Lebenssituationen beim Start ins Berufsleben unterstützen. Selbst ist sie in einem Brennpunktviertel in Augsburg aufgewachsen. Ihr Unternehmen sei ein Herzensprojekt, wie sie sagt, und das ehrenamtlich. Hauptberuflich arbeitet sie für die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft EY Deutschland, vormals Ernst & Young, in Berlin. Ihr Weg dahin war nicht einfach.
Mit nur 17 Jahren zieht Natalya Nepomnyashcha für eine Ausbildung zur Fremdsprachenkorrespondentin von Augsburg nach München. Der Staat fördert die Ausbildung mit 200 Euro BAföG im Monat. Ein Betrag, von dem niemand leben kann. Sie fängt an, in einem Kino zu jobben. Wenn das Geld knapp ist, ernährt sie sich teilweise nur von Buttermilch. Ihre Eltern können sie nur wenig unterstützen. Sie leben seit ihrer Einwanderung aus Kiew, der ukrainischen Hauptstadt, in einer Siedlung am Rande von Augsburg und bekommen Hartz IV. Rückblickend sagt Natalya, dass sie sich gut allein zurechtgefunden hat. Seitdem sie 2007 aus der elterlichen Wohnung ausgezogen ist, telefoniert sie einmal die Woche mit ihrer Familie. Natalya Nepomnyashcha ist eine Kämpferin. Ruhig, analytisch und zielstrebig.
Erfolgreich schließt sie die Ausbildung an der Berufsfachschule ab und startet direkt die zweite Ausbildung zur Dolmetscherin und Übersetzerin am Fremdspracheninstitut der Landeshauptstadt München.
Ein unerwarteter Masterabschluss in Nordengland
Das städtische Fremdspracheninstitut kooperiert mit verschiedenen Universitäten im In- und Ausland. Der Abschluss ermöglicht den Schüler*innen, beispielsweise nach erfolgreicher Anerkennung einen Masterabschluss an Universitäten in Frankreich oder England zu erwerben.
Auch Natalya entscheidet sich für einen weiteren Abschluss und bewirbt sich in London und der Kleinstadt Preston. Beide Universitäten nehmen ihre Bewerbung an. Doch finanziell ist schnell klar, dass nur Preston eine realistische Möglichkeit ist. Die Stadt mit ihren rund 120.000 Einwohner*innen liegt in der Nähe von Manchester und mag Zugreisenden bekannt vorkommen, wenn sie auf dem Weg nach Edinburgh oder Glasgow sind. Auch wenn das Bahnhofsgebäude aus dem 19. Jahrhundert imposant ist und es immerhin sechs Gleise gibt, ist Preston eine klassische britische Arbeiterstadt. Natalya studiert ein Jahr an der University of Central Lancashire und schließt ihren Master in „International Relations“ mit Auszeichnung ab. Für sie war es eine lehrreiche Zeit. Für Menschen, die große Städte bevorzugen und kulturell interessiert sind, sei Preston keine gute Adresse, ergänzt sie. Nach der britischen Kleinstadt war 2012 ein Wechsel nach Berlin unbedingt notwendig.
Berlin – die Stadt der Möglichkeiten?
In Deutschlands größter Metropole mit 3,8 Millionen Einwohner*innen und einem Hauptbahnhof mit über 16 Gleisen auf verschiedenen Ebenen hat sich Natalya ihr Leben Stück für Stück aufgebaut. Berlin bietet nicht nur für kulturell interessierte und kreative junge Menschen viel Freiraum, sondern auch viele Möglichkeiten, ein eigenes Unternehmen zu gründen. Innerhalb von drei Jahren reift ihre Idee und ihr Vorhaben, „Netzwerk Chancen“ zu gründen. Mit Menschen im Bekanntenkreis, die bereits Unternehmen gegründet haben, kann sie sich austauschen und optimal vorbereiten. So bekommt sie auch den wertvollen Kontakt zu einem Notar, der sich damit auskennt, gemeinnützige Unternehmen zu beraten und bei der Gründung die richtigen Schritte einzuleiten – während sie in Vollzeit als Unternehmensberaterin tätig ist. 2016 gründet sie schließlich nebenberuflich „Netzwerk Chancen“.
Die Satzung für ihr Start-up bereitet Natalya komplett selbst vor und – so akribisch, wie sie ist – bespricht sie nur noch kurz vor der Gründung mit dem Notar. Für die Gründung ihres gemeinnützigen Unternehmens braucht Natalya kein Startkapital: Ihr Start-up ist ein soziales und gemeinnütziges Unternehmen zugleich. Ein soziales Business definiert sich dadurch, dass es Beschäftigung, Weiterbildung und Arbeit für benachteiligte Zielgruppen schaffen möchte. Die Gemeinnützigkeit ihres Unternehmens zeichnet sich unter anderem dadurch aus, dass 75 Prozent der Gewinne dem gemeinnützigen Zweck zugeführt werden müssen.
Die ersten drei Jahre finanziert sie ihr Start-up aus eigener Tasche. Mit zehn ehrenamtlichen Kräften und circa 3000 Euro pro Jahr baut Natalya ihr soziales Unternehmen langsam auf. Mittlerweile ist „Netzwerk Chancen“ mit fünf hauptamtlichen und über dreißig ehrenamtlichen Kräften stark gewachsen.
Das Unternehmen fördert junge Erwachsene, die aufgrund ihrer sozialen Herkunft Unterstützung beim Start ins Berufsleben benötigen. Für Natalya ist das ein Herzensprojekt – weiß sie doch aus eigener Erfahrung, wie hart und fordernd diese Zeit sein kann. „Netzwerk Chancen“ bietet den Mitgliedern Mentoring- und Coaching-Programme sowie ein Netzwerk und Kontakte zu Arbeitgeber*innen. An erster Stelle steht die Förderung des Selbstbewusstseins und der Stärken der Teilnehmer*innen.
Netzwerk Chancen schließt Lücken im System
Natalya leitet das Team ehrenamtlich neben ihrem Vollzeitjob als Assistant Director bei EY Deutschland. Auf die Frage, wie sie das schaffe, lacht Natalya und sagt, sie könne gut „Nein“ sagen. Zudem überlege sie gründlich, welche Aufgaben oder Anfragen sie annehme oder nicht. „Wenn ich zu allem Ja sagen würde, würde ich ausbrennen, und dann kann es ,Netzwerk Chancen‘ nicht mehr so geben, wie ich es mir vorstelle.“
Innerhalb des Unternehmens wird oft strategisch überlegt, wie Ressourcen verteilt werden. Natalya und ihr Team betreuen aktuell 1500 Teilnehmer*innen. Oftmals sind es Menschen, die ähnlich wie Natalya aus einem strukturschwachen Umfeld kommen. Natalya ermutigt sie und macht deutlich, dass es immer neue Möglichkeiten gibt und man sich nicht von Rückschlägen demotivieren lassen sollte. „Ich glaube schon, dass die Tüchtigen auch gewissermaßen Glück haben“, so Natalya. Durch die Zusammenarbeit mit verschiedenen Unternehmen werden die Teilnehmer*innen nach Coaching oder Mentoring häufig direkt an Arbeitgeber*innen vermittelt, die sie fördern und ihre Stärken schätzen. Das Unternehmen trägt sich heute durch Unternehmenspartner*innen, Spenden sowie Förderungen durch Stiftungen wie die Nehring Stiftung, die Joachim Herz Stiftung und die Stiftung Bildung.Werte.Leben.
Soziale Herkunft als Dimension von Vielfalt
Auch kämpft Natalya in den vergangenen Jahren zusammen mit ihrem Unternehmen dafür, dass der Begriff „Soziale Herkunft“ als Dimension von Diversität in die „Charta der Vielfalt“ aufgenommen wird. Vier Unternehmen haben die Initiative 2006 in Berlin gestartet und eine Selbstverpflichtung für ein diskriminierungsfreies und diverses Arbeitsumfeld entwickelt, der sich andere Firmen und Organisationen anschließen können. Die Charta setzt sich aus verschiedenen Dimensionen von Vielfalt zusammen. Zu Beginn des Jahres 2021 wurde „Soziale Herkunft“ als neue Vielfaltsdimension aufgenommen.
Seitdem gingen Arbeitgeber*innen anders auf sie zu, erläutert Natalya. „Zuvor haben sie uns oft angesprochen, weil sie Frauen einstellen wollten. Sie dachten, dass das Diversität sei.“ Mittlerweile ist das Verständnis von Diversität und den verschiedenen Dimensionen zum Großteil angekommen. Mehrere Studien haben gezeigt, dass soziale Aufsteiger*innen Kompetenzen und Fähigkeiten mitbringen, die Unternehmer*innen heutzutage suchen. So haben sie beispielsweise eine höhere Flexibilität und Toleranzspanne und sind besonders durchsetzungsstark.
Mercator Forum
„Teilhabe statt Diskriminierung“
14. & 15. September 2022 in Essen
Deutschland ist ein Einwanderungsland. Marginalisierte Gruppen erleben jedoch weiter Benachteiligungen, zum Beispiel aufgrund ihrer kulturellen Herkunft oder ihres sozioökonomischen Hintergrunds.
Vertreter*innen aus Politik und Verwaltung, Wissenschaft, Wirtschaft sowie Zivilgesellschaft, darunter Natalya Nepomnyashcha, diskutieren über Diskriminierung und Teilhabe, mit dem Ziel, gemeinsam Handlungsstrategien zu entwickeln.
Der Fachkräftemangel bewegt Unternehmen zum Umdenken
Diese Stärken können wertvoll für Unternehmen sein. Nicht zuletzt sorgt der aktuelle Fachkräftemangel für eine hohe Nachfrage bei „Netzwerk Chancen“. „Viele Unternehmen kommen auch zu uns, um zu schauen, ob sie noch unentdeckte Talente für ihre Branche finden können“, beschreibt Natalya.
Dennoch zeigt das Interesse an „Netzwerk Chancen“ deutlich, dass es in der deutschen Sozial- und Bildungspolitik große Lücken gibt: Kinder und Jugendliche aus weniger privilegierten Verhältnissen werden zu wenig gefördert und nicht ausreichend unterstützt.
„Netzwerk Chancen“ fordert für mehr Chancengleichheit im Bildungssystem eine Gemeinschaftsschule mit individueller Förderung. Die Schüler*innen besuchen diese Schule, so das Konzept, von der ersten bis zur zehnten oder dreizehnten Klasse. In dieser Schulform fällt der Schulwechsel weg, und die Kinder können besser gefördert werden.
Schaffen es die Bildungspolitiker*innen, neue Wege einzuschlagen?
So wie viele Wissenschaftler*innen und einige Politiker*innen unterstützt „Netzwerk Chancen“ die Forderungen nach mehr Personal und multiprofessionellen Teams aus Lehrer*innen, Sozialarbeiter*innen und Psycholog*innen an Schulen, die die Kinder und Jugendlichen individuell fördern können.
Natalya freut sich, dass sie mit ihrem Unternehmen viele junge Erwachsene fördern kann und namhafte Konzerne an ihren Teilnehmer*innen interessiert sind. Auch bundesweit erlangt ihr Unternehmen immer mehr Bekanntheit. Mittlerweile berät „Netzwerk Chancen“ große Unternehmen wie das Onlinewarenhaus Otto oder HDI Versicherungen. Auch aus Bayern kommt mit dem Automobilhersteller Audi prominentes Interesse. Doch nach Augsburg fährt sie nur noch einmal im Jahr – für einen Besuch bei ihren Eltern.
Mercator Forum „Teilhabe statt Diskriminierung“
Im Mercator Forum arbeiten unterschiedliche Stakeholder*innen und Partner*innen der Stiftung Mercator zwei Tage lang an einer übergreifenden Fragestellung, um die Themen der Stiftung voranzutreiben. Das Mercator Forum findet einmal jährlich in Essen statt.