Wie politisch ausgewogen ist der ÖRR? Perspektiven­vielfalt in den Nachrichten­formaten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks

Wie politisch ausgewogen ist der ÖRR? Perspektiven­vielfalt in den Nachrichten­formaten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks

Die Nachrichtenformate von ARD, ZDF und des Deutschlandfunks sollen laut Medien­staats­vertrag „die einem öffentlich-rechtlichen Profil entsprechenden Grundsätze der Objektivität und Unparteilichkeit achten und in ihren Angeboten eine möglichst breite Themen- und Meinungs­vielfalt ausgewogen darstellen“. Vielfalt und Ausgewogenheit sind vor allem deshalb relevant, weil dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk eine Rolle für die politische Meinungs­bildung zugeschrieben wird: Die Bürger*innen sollen die unter­schiedlichen Positionen in wichtigen Streit­fragen vermittelt bekommen, damit sie sich eine unabhängige Meinung bilden können. In den letzten Jahren wurden allerdings zunehmend Vorwürfe laut, der öffentlich-rechtliche Rundfunk würde diesem Programm­auftrag nicht gerecht. Statt­dessen seien die Nachrichten einseitig und würden dabei insbesondere linke Parteien und progressive Positionen bevorzugen.

Vielfalt von Themen und Akteur*innen hoch

Die neun öffentlich-rechtlichen Nachrichten­formate berichteten in unserem Untersuchungs­zeit­raum am häufigsten über Wirtschafts­politik (31%). Insgesamt zeichnen sich die unter­suchten Formate durch eine hohe thematische Vielfalt aus, Themen­struktur und -vielfalt entsprachen nahezu exakt den entsprechenden Werten in den Vergleichs­medien.

Mit Abstand am häufigsten vorkommende Akteur*innen und Sprecher*innen waren deutsche Politiker*innen sowie Parteien (55%). Dennoch war die Akteur*innen-Vielfalt in öffentlich-rechtlichen wie privaten Vergleichs­medien insgesamt hoch. Betrachtet man die Befunde etwas detaillierter, wird deutlich, dass die aktuellen Regierungs­parteien und dabei vor allem die SPD (33%) und die Grünen (28%) die Berichterstattung dominierten. Die Oppositions­parteien, vor allem AfD und Links­partei, kamen deutlich seltener vor und zu Wort.

Negative Darstellung aller Parteien

Insgesamt stellten 46 der 47 untersuchten Nachrichten­medien sowohl Parteien links der Mitte als auch Parteien rechts der Mitte über­wiegend negativ dar. Die neun öffentlich-rechtlichen Formate fielen hier nicht durch besondere Einseitigkeit auf. Sie bewerteten allerdings die SPD im Saldo aus positiven und negativen Beiträgen relativ ausgewogen und damit deutlich weniger negativ als alle anderen Parteien. In den 34 Vergleichs­medien wurden vor allem die SPD und die Grünen deutlich negativer bewertet als in den öffentlich-rechtlichen Formaten. Dadurch ergibt sich in den öffentlich-rechtlichen Formaten insgesamt eine deutlich weniger negative Darstellung der drei Regierungs­parteien im Vergleich zu den drei Oppositionsparteien. In den Vergleichs­medien zeigt sich dieser Unterschied dagegen nur marginal (Abbildung 1).

Abbildung 1: Wertende Darstellung von Parteien in öffentlich-rechtlichen Formaten und Vergleichsmedien
Abbildung 1: Wertende Darstellung von Parteien in öffentlich-rechtlichen Formaten und Vergleichsmedien
Prof. Dr. Marcus Maurer
© PAK Uni Mainz

Prof. Dr. Marcus Maurer ist Professor für Kommunikations­wissenschaft mit dem Schwer­punkt Politische Kommunikation am Institut für Publizistik der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Dort forscht er seit 2014 u. a. zu Inhalten, Nutzung und Wirkung medial vermittelter politischer Informationen.

Dr. Simon Kruschinski
© privat

Dr. Simon Kruschinski ist Projekt­leiter und Post­doktorand am Institut für Publizistik der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Dort forscht und lehrt er seit 2015 zu Fragen der Wahl­kampf­kommunikation, Medien­bericht­erstattung und Medien­wirkung.

Dr. Pablo Jost
© privat

Dr. Pablo Jost ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Publizistik der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Dort forscht er zur Darstellung gesellschaftlicher Kontroversen in den Medien und zur Kommunikation politischer und gesellschaftlicher Akteure sowie deren Anpassung an die Digitalisierung.

Leichte Dominanz sozialstaatlicher und progressiver Positionen

In allen untersuchten öffentlich-rechtlichen Formaten wiesen die Beiträge zudem über­wiegend eine Präferenz für Sozial­staats­orientierung auf (Abbildung 2). Zugleich vertraten die Beiträge in sieben von neun dieser Medien eine überwiegend progressive Grundhaltung. Dies galt aber jeweils auch für die Beiträge in den meisten der privaten Vergleichs­medien. Insgesamt waren folglich in fast allen untersuchten Medien konservative und markt­liberale Positionen in der Minder­heit.

Abbildung 2: Präferenz für Sozialstaatsorientierung oder Marktliberalität in den Beiträgen von öffentlich-rechtlichen Formaten und Vergleichsmedien

ÖRR nicht besonders einseitig, aber mit Raum für mehr Vielfalt

Die öffentlich-rechtlichen Nachrichten­formate berichteten in unserem Untersuchungs­zeit­raum insgesamt weder deutlich einseitiger noch deutlich viel­fältiger über Politik als die privaten Vergleichs­medien. Der Vorwurf, sie seien besonders einseitig, trifft folglich in dieser Form nicht zu. Allerdings dominierten nicht nur im ÖRR, sondern auch im gesamten Medien­system sozial­staatliche und progressive Positionen. Nachdenklich stimmt auch das Über­gewicht an negativen Parteien­darstellungen in allen untersuchten Medien. Dabei haben Nachrichten­medien fraglos auch die Aufgabe, die Politik zu kritisieren. Vermitteln sie aber durchweg den Eindruck, dass die etablierten Parteien nicht zur Lösung der aktuellen Probleme in der Lage sind, spielt dies Parteien an den politischen Rändern in die Hände. Trotz des vergleichs­weise langen Untersuchungs­zeit­raums ist aller­dings nicht auszuschließen, dass eine andere Ereignislage oder Regierungs­konstellation zu anderen Ergebnissen geführt hätte. Eine Wiederholung der Studie unter anderen Bedingungen ist folglich sinnvoll.


Perspektivenvielfalt im öffentlich-rechtlichen Rundfunk

Die Studie „Fehlt da was? Perspektiven­vielfalt in den öffentlich-rechtlichen Nachrichten­formaten“ unter Leitung von Prof. Dr. Maurer von der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, untersucht die Perspektivenvielfalt und Vielfalt in öffentlich-rechtlichen Nachrichtenformaten. Die Studie wurde kofinanziert von der Stiftung Mercator.
Perspektivenvielfalt.pdf (uni-mainz.de)

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