Renate Künast: „Einfach nur meckern geht nicht“
Renate Künast, Bundestagsabgeordnete für Bündnis 90/Die Grünen und Gastprofessorin für Politikmanagement der Stiftung Mercator an der NRW School of Governance/Universität Duisburg-Essen, sieht im Hass auf der Straße und im Netz eine Gefahr für die Demokratie in Deutschland. Ein Gespräch über die innere Stimme, Spaß am Gestalten und Strategien gegen Anfeindungen.
Frau Künast, Sie sind seit mehr als 40 Jahren in der Politik. Wären Sie heute jung, würden Sie sich noch einmal politisch engagieren?
Dafür würde ich mich regelmäßig wieder entscheiden. Ich habe mich allerdings damals nicht bewusst entschieden, so lange in die Politik zu gehen. 1979 trat ich in die „Alternative Liste“ ein. Außerdem war ich in der Anti-Atomkraft-Bewegung und in der Berliner Frauenbewegung aktiv. Mein Ziel war und ist es, gesellschaftliche Ungleichheiten abzubauen, den organisierten Rechtsextremismus zu bekämpfen und Veränderungen mitzugestalten. Daher habe ich zunächst Sozialarbeit studiert. Die anschließende Arbeit als Sozialarbeiterin in einer JVA und mein politisches Engagement haben mich dazu bewogen, Rechtswissenschaften zu studieren. Mir wurde klar: Wer etwas verändern will, muss mit Paragrafen umgehen können. Dann habe ich in der Politik die unterschiedlichsten Aufgaben übernommen, mal auf Landesebene in Berlin, mal auf Bundesebene. Auch heute noch finde ich, es kann nicht sein, dass Leute die Politik kritisieren und sich dann selber vor jeder Art von Verantwortung für das Gemeinwesen drücken.
Die Fragen der Wendezeit wie Wohnraummangel und die Übermacht der Wirtschaft sind auch heute aktuell. In der Berlin-Dokumentation „Capital B“ werden Sie interviewt und erzählen vom damaligen Kampf gegen Räumungen besetzter Häuser und gegen die Bebauung des Potsdamer Platzes. Wie sind Sie nach Jahrzehnten noch motiviert, obwohl die Themen sich wiederholen?
Das ist manchmal mühevoll, und ich denke: „Jetzt fängt das schon wieder an!“ Zum Beispiel auch, wenn es um den schleppenden Ausbau erneuerbarer Energien geht. Aber das ist eben Demokratie. Demokratie funktioniert nicht ohne Anstrengung. Da gibt es unterschiedliche Interessen. Da versucht die Wirtschaft, ihre Lobbyinteressen durchzusetzen. Sie sagt zwar immer, es gehe um Arbeitsplätze, aber es geht auch um Profite oder die Ausschüttung an die Aktionär*innen. Es braucht ein Gegenstück dazu. Da habe ich, ich weiß auch nicht woher, eine innere Stimme, die sagt, wir müssen uns gegen Ungerechtigkeit wehren. Lebenschancen sind zu ungleich verteilt.
Für erneuerbare Energien und gerechten Klimaschutz engagieren sich ja derzeit viele junge Menschen. Aber sie stoßen auf Widerstände. Und auch Politiker*innen erfahren Anfeindungen. Wie würden Sie junge Leute davon überzeugen, dass sich politisches Engagement dennoch lohnt?
Glücklicherweise gibt es viele junge Leute, die sehr positiv für die Zukunft engagiert sind, zum Beispiel von Fridays for Future. Aber ich sage grundsätzlich zu jungen Menschen: Einfach nur meckern geht nicht. Mischt euch ein! In Land- oder Kreistagen, wenn es um sichere Radwege geht oder welche neuen Technologien angesiedelt werden sollen – auch weil ich im Bundestag Unterstützung brauche. Wenn sich nur die Wirtschaft mit kurzfristigen Profitinteressen durchsetzt, aber niemand sagt „Es geht auch um die Lebensbedingungen von uns jungen Leuten heute und in der Zukunft“, habe ich ein Problem. Niemand muss sich ja auf viele Jahre festlegen. Aber es hilft schon, wenn sich junge Menschen für die eine oder andere Sache engagieren.
Renate Elly Künast, geboren 1955 in Recklinghausen, ist eine deutsche Politikerin (Bündnis 90/Die Grünen) und Rechtsanwältin. Sie ist seit 2002 Mitglied des Deutschen Bundestages. Sie war von 2001 bis 2005 Bundesministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz und von 2005 bis 2013 Vorsitzende der Bundestagsfraktion ihrer Partei. Seit 2021 ist Renate Künast Mitglied des 20. Bundestages, und aktuell leitet sie die AG Ernährung und Landwirtschaft der Bundestagsfraktion der Grünen.
Sie engagieren sich seit Jahren gegen Hassrede und Drohungen im Internet. 2017 schrieben Sie das Buch „Hass ist keine Meinung. Was die Wut in unserem Land anrichtet“, für das Sie an den Haustüren von Hater*innen aus dem Netz klingelten und ihnen Gespräche anboten. Was hat sich seither getan?
Leider ist eingetreten, was ich damals schon sagte. Dieser Hass ist nicht nur eine Erscheinung von einigen wenigen, sondern dahinter stehen große Strukturen, nämlich beispielsweise rechtsextreme Akteur*innen oder russische Troll-Fabriken. Teilweise sind es auch sehr reiche Leute, die demokratische Strukturen ablehnen. Sie erhoffen sich Vorteile davon, im Netz Stimmung zu machen und den Diskurs in eine bestimmte Richtung zu lenken. Langfristig geht es ihnen darum, das politische System zu destabilisieren, um so weniger Steuern zu zahlen, weniger Verpflichtungen gegenüber Arbeitskräften zu haben und weniger Umweltauflagen erfüllen zu müssen. Da gibt es inzwischen manche Vernetzung mit Rechtsextremen. Für Rechtsextreme sind Menschen wenig wert, sie wollen eine andere Gesellschaft. Grundsätzlich ist der Umgang miteinander sehr viel schärfer geworden als noch vor sechs Jahren. Dass Menschen Hass erleben, die sich ehrenamtlich oder in der Politik engagieren, gehört zu deren Strategie dazu. Es geht darum, demokratische Strukturen unmöglich zu machen und schlecht zu reden.
Ich denke, die Demokratie in Deutschland ist in Gefahr.
Weil Nutzer*innen Sie auf Facebook heftig beleidigten, klagten Sie 2019 und zogen erfolgreich bis vors Bundesverfassungsgericht. Was können Politik und Zivilgesellschaft tun, um den Hass im Netz einzudämmen?
Wir müssen offen darüber reden und Strategien von Hater*innen kommunizieren. Sonst fallen viele Menschen auf diese Emotionen und diesen Hass rein. Wer von Hass betroffen ist, muss die Institution oder die Gruppe, in der er sich befindet, mit einbeziehen. Denn wer von Hass betroffen ist, muss sich Hilfe und Unterstützung holen – ob in der Schule oder in der Geflüchtetenunterkunft. Die Hater*innen wollen, dass jede*r Engagierte allein leidet, sich herabgesetzt fühlt und eingeschüchtert ist – das muss durchbrochen werden. Und wir müssen rechtlich noch mehr machen. Das seit 2017 geltende Netzwerkdurchsetzungsgesetz zum schnellen Löschen strafbarer Inhalte und der Digital Services Act für die EU sind Anfänge. Ich wünsche mir in Deutschland noch ein digitales Gewaltschutzgesetz, mit dem wir sogar die Löschung von Accounts für längere Zeit beantragen können.
Aber Recht allein hilft nicht. Wir müssen als Gesellschaft laut ausdrücken, dass wir uns das nicht gefallen lassen. Ich bin ja schon lange im Bundestag, aber sitze dort manchmal staunend, was manche Leute, besonders von der AfD, sich mittlerweile trauen, zu sagen. „Landesverräter“ wird da gerufen. Manchmal denke ich, so muss es kurz vor 1933 auch gewesen sein. Ich mache mir Sorgen um das Land.
Mercator Talk mit Renate Künast
Renate Künast wird im Rahmen ihrer Gastprofessur am 19. Dezember ab 18 Uhr in den Essener Räumen der Stiftung Mercator sprechen. Das Gespräch moderiert Tobias Häusler, Journalist, Westdeutscher Rundfunk (WDR).
Wir freuen uns auf Ihre Zusage und verbindliche Anmeldung bis zum 12. Dezember 2023 über diesen Link.
Sie glauben also, dass es so 1933 im damaligen Reichstag gewesen sein könnte. Würden Sie sagen, dass die Demokratie in Deutschland in Gefahr ist?
Ja, ich denke, die Demokratie in Deutschland ist in Gefahr. Auf der Straße, im Laden, am Arbeitsplatz erleben alle, wie hier mittlerweile herabwürdigend gesprochen wird. Es ist jetzt an der Zeit, dass wir unsere Stimme dagegen erheben. Gemeinsam mit Kolleg*innen oder anderen müssen wir klarmachen: „So reden wir hier nicht.“ Zu schweigen, heißt, Aggression und Abwertung hinzunehmen. Wenn wir uns nicht zusammentun, werden sich diejenigen, die sich ordentlich benehmen, zurückziehen.
Wir wissen, wir brauchen Zuwanderung. In der Altenpflege bis hin zu Jobs in der Industrie – überall sind wir auf neue Arbeitskräfte angewiesen. Aber welcher Mensch wird kommen, wenn er hört, wie viel Hass und Gewalt hier verbreitet ist? Es ist unerträglich zu sehen, wie Leute, die als Menschen mit Migrationsgeschichte gelesen werden, in Deutschland behandelt werden. Wir müssen unsere Demokratie und einen respektvollen Umgang miteinander verteidigen. Für uns selber, aber auch mit dem Ziel, dass Deutschland ein attraktives Einwanderungsland wird. Das ist existenziell.
Zum Schluss die Antwort in einem Satz. Sie sind Gastprofessorin für Politikmanagement der Stiftung Mercator an der NRW School of Governance/Universität Duisburg-Essen. Was sollen die Studierenden von Ihnen fürs Leben mitnehmen?
Dass es Spaß macht, sich zu engagieren und zu gestalten, und ein bisschen was über die Methode, wie wir gemeinsam Mehrheiten organisieren.
NRW School of Governance
Die NRW School of Governance ist eine Professional School an der Universität Duisburg-Essen. Durch die Gastprofessur für Politikmanagement der Stiftung Mercator wird der Universitätsstandort gestärkt. Bisher hatten die Gastprofessur unter anderem Rita Süssmuth, Christian Wulff, Peer Steinbrück, Antje Vollmer und Gregor Gysi inne.
nrwschool.de