Ich will mehr Nähe!
Ich will mehr Selbstbestimmung!
Ich will mehr Selbstbestimmung!
„It’s over!“ Wenn Verlustangst auf Bindungsangst trifft und eine Beziehung am Ende ist. Der Hamburger Paarberater Eric Hegmann setzt Großbritannien und die EU auf die Couch seiner Praxis für Paartherapie.
Der Beziehungsbeginn
Vor mir sitzt ein Paar, das sich nicht gerade aus Liebe auf den ersten Blick zusammengetan hat. Wie ich vielen Ratsuchenden zu verstehen gebe, ist das nicht unbedingt ein Nachteil. Laut Statistik halten Ehen länger, wenn die Partner*innen sich über einen längeren Zeitraum kennenlernen konnten, wie etwa Kolleg*innen am Arbeitsplatz. Wer sich bei der ersten Begegnung Hals über Kopf verliebt, lebt in einer weniger stabilen Beziehung. Sosehr Liebe heute einer romantischen Liebesheirat Sicherheit geben soll, sosehr war sie noch vor wenigen Hundert Jahren verpönt. Sie galt sogar als Sicherheitsrisiko und gefährdete die damals üblichen Vernunft- und Zweckehen. Hier liegt wahrscheinlich auch einer der Grundkonflikte der Ehe zwischen UK und EU, wie er in zahlreichen zerknirschten Gesprächen, ja gar Verhandlungen durchschimmerte. Die Partner waren sich nie ganz einig: Führen wir nun eine Liebes- oder eine Vernunftehe?
Vor der Eheschließung 1973 verhedderten sich EU und UK in einer langen, turbulenten Kennenlernphase. Bereits in den 1960er-Jahren hatte London mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft EWG geflirtet. Doch alles Werben konnte die innere Stimme der EWG, Frankreichs Charles de Gaulle, nicht umstimmen: Er ließ die Verlobung zweimal platzen. Zu anders europäisch und zu nah an den USA sei der potenzielle Partner. Erst de Gaulles Rücktritt 1969 ebnete den Weg für eine neue, vorsichtige Annäherung, die vier Jahre später in einer festen Bindung mündete. Dieses Muster von Werbung und Zurückweisung – die normale Dynamik eines Flirts – prägte den Rhythmus dessen, was folgte. Ich kann sagen: ein Klassiker in meiner Praxis.
Der Beziehungsverlauf
Die Beziehungsdynamik begann spannend – und blieb spannend. Unausgewogen, würden beide Partner wohl einstimmig sagen, würden sie der Aufarbeitung ihrer Beziehung noch eine reelle Chance geben. Das UK hat nach den frühen schmerzhaften Zurückweisungen eine Schutzstrategie entwickelt: lieber etwas mehr Distanz halten, denn Nähe macht verletzlich. Die Symptome eines solchen vermeidenden Bindungsverhaltens zeigen sich zum Beispiel in der Weigerung, den Euro einzuführen, oder darin, Grenzkontrollen beizubehalten und eine europäische Armee abzulehnen. Das UK legt in der Beziehung eindeutig mehr Wert auf Autonomie und Selbstkontrolle als die EU, die sich – im Gegenteil – nach Verschmelzung sehnt und Grenzen lieber niederreißen will. Ganz typisch in einer solchen Dynamik reagierte die EU daher mit einem eher ängstlichen Bindungsverhalten.
Auch „Alltagsprobleme“ gesellten sich hinzu: Weil London weniger Agrarsubventionen erhielt, musste es von Anfang an weniger einzahlen als eigentlich angemessen. Auch musste man sich 2013 nicht dem Fiskalpakt unterwerfen. Der Streit ums Geld ist in vielen Ehen ein kritischer Moment, er überschattet auch die Beziehung von EU und UK.
Die EU hat immer wieder Zugeständnisse gemacht, um den Partner zu halten. So entstand eine über Jahrzehnte anhaltende Forderungs-Rückzugs-Dynamik, wie sie viele Paare erleben: Ein Partner will den anderen von sich überzeugen und sich dessen Liebe durch seine Bemühungen verdienen. Der andere genießt diese Anerkennung. Aber nur so weit, bis ihn die Nähe wieder daran erinnert, dass er sich nicht in einer Beziehung aufgeben will – und sich erneut zurückzieht. Bei der gemeinsamen Asylpolitik und der Verteilung von Geflüchteten siegte die Angst über die Liebe.
Der Befund
Was beide Eheleute eint, ist ihr verletzter Selbstwert, der Anerkennung sucht, sich aber in unterschiedlichen Verhaltensweisen zeigt. Die Argumente der Brexit-Befürworter*innen waren häufig faktisch falsch und ein reiner Akt der Emotionalität. Etwa die Behauptung, wöchentlich würden 350 Millionen Pfund an die EU verschwendet, die das Geld für unnütze Normen und Gesetze verpulvere und sowieso alles komplizierter statt einfacher mache.
Letztlich sind Bindungs- und Verlustangst nur verschiedene Seiten derselben Medaille. Partner*innen, die dies verstehen, können meist die destruktive Seite dieser Dynamik verwandeln. So wird aus dem bedrohlichen Unterschied im besten Fall eine wertgeschätzte Ergänzung.
Leider ist dies den Partnern nicht gelungen. Im Gegenteil: Das UK gab zwei Jahrzehnte nach der Hochzeit selbiger den Todesstoß, als es 2013 seine Bindungsangst durch die Ankündigung eines Referendums über die Fortführung der Ehe öffentlich machte. Nach dem ersten Schock, der sich bis in den entfernteren Bekanntenkreis des Ehepaars ausdehnte, der sich aufgewühlt mit guten Ratschlägen einmischte, reagierte die EU mit ihren gelernten Schutzstrategien. Um die Trennung zu verhindern und wieder mehr Nähe aufzubauen, setzte die EU zunächst liebe Worte und Versprechungen ein. Als sich die Trennungsabsichten 2016 bestätigten, dann zunehmend beleidigtes Schmollen und Drohen. Dieses Verhalten wirkte wie Wasser auf die Mühlen des UK und bestätigte den Rückzugswunsch erwartungsgemäß – und dieser hält bis heute an.
Die Strategien und Mechanismen
Dieser Zyklus ist beinahe so alt wie die Menschheit selbst, ich komme ihm in meiner Praxis immer wieder auf die Schliche: Partner*in A fordert emotionalen Austausch ein, Partner*in B zieht sich immer weiter zurück, um Ruhe zu finden. Partner*in A hat Angst, die Bindung zu verlieren – ebenso Partner*in B. Sie nutzen nur unterschiedliche Werkzeuge und Schutzstrategien, um mit dieser Angst umzugehen. Hat sich ein solches Muster erst einmal gefestigt, kommen die Partner*innen kaum alleine und ohne Unterstützung da wieder raus. Siehe UK und EU.
Solche negativen Zyklen halten sich selbst in Gang. Partner*in A will Nervosität, Angst und Verletztheit vermeiden. Dazu benutzt er bzw. sie gelernte und geprägte Schutzstrategien und die daraus resultierenden Verhaltensweisen wie Überzeugen, Fordern, Vorwürfemachen, Nachbohren und Schmollen – wie bei den zähen Verhandlungen beispielsweise über die sogenannte Brexit-Rechnung. Partner*in B, sowieso schon von Unruhe und Besorgnis geplagt, greift dadurch nun zu seinen bzw. ihren gewohnten Schutzstrategien, die wiederum die Endlosschleife am Leben erhalten. Dieser Umgang mit schwierigen Situationen ist eine Reaktion auf eine gefühlte Bedrohung, was wiederum den Umgang mit schwierigen Situationen in bewährter Form bei dem bzw. der Partner*in auslöst.
Und jetzt?
Welche Folgen hat der nahende Brexit nun für Großbritannien? Der Brite Nick Witney vom European Council on Foreign Relations (ECFR) blickt auf das Pokerspiel zwischen der EU und dem baldigen Ex-Mitglied. Lesen Sie hier seinen Gastbeitrag.
Die Verhandlung des Beziehungsendes
Auf Stress durch eine gefühlte Bedrohung reagieren Menschen mit Flucht, Gegenangriff oder Starre. Im Streit kann sich jede Kritik als Verfolgung und Angriff anfühlen, ebenso das Dranbleiben und das nicht nachlassende Bemühen. Immer wieder setzt die EU bei den Austrittsverhandlungen Fristen, die London verlängert, während gleichzeitig kommuniziert wird, dass weitere Zugeständnisse nicht ohne wirtschaftliches Chaos bei beiden Partnern möglich sind. Dabei sind solche Drohgebärden nicht nur kontraproduktiv, sie zahlen auch wenig auf den Ursprung der Emotion ein: die Angst, die Bindung zu verlieren, also womöglich verlassen zu werden.
Wären die Partner offen und ehrlich, müssten sie eigentlich sagen: „Bitte zieh dich nicht zurück, ich habe Angst, dass du mich jetzt alleine lässt mit meiner Furcht.“ Furcht schafft Distanz – selbst wenn die Angst exakt daraus geboren wurde, Nähe zu verlieren. Allein Nähe schafft Nähe. Gefragt wäre zugewandte Kommunikation. Nur sie macht einen Dialog auf Augenhöhe möglich – dann fehlen nur noch sehr sorgfältige Dolmetscher*innen.
Die Trennung?
Bleibt die Frage, ob es dafür wirklich zu spät ist. Ist die Trennung unvermeidlich? Paartherapie gilt so lange als erfolgversprechend, wie ein Partner, eine Partnerin die Beziehung nicht innerlich aufgekündigt hat. Mit der sogenannten Emotionsfokussierten Paartherapie könnte man gegensteuern. Sie basiert auf dem Bindungsverhalten und der Bindungstherapie und versucht, den sogenannten „Tanz“ zwischen Verlustangst auf der einen und Bindungsangst auf der anderen Seite für die Partner*in erkennbar zu machen. Nach einigen Sitzungen ist jedoch klar: Es ist zu spät – „it’s over.“ Ein Funken Hoffnung bleibt: Manchmal gehen Ex-Partner*innen als Freunde auseinander und finden in einem anderen Beziehungsmodell wieder eine Annäherung. Gemeinsame Besitztümer, der geteilte Wohnort auf dem Kontinent Europa oder die Millionen von gemeinsamen Kindern, also Bürger*innen, können hier zur Vernunft anregen. Dem neuen Ex-Paar alles Gute.
Über Eric Hegmann
Eric Hegmann arbeitet als Paartherapeut und Single-Coach. Er veröffentlichte über ein Dutzend Bücher zum Thema Partnerwahl und Beziehung. Seit 15 Jahren unterstützt Hegmann die Partneragentur Parship und ist als Experte regelmäßig in allen Medien tätig, zuletzt mit der eigenen Dating-Show „Nächste Ausfahrt Liebe“ in Sat.1. Heute ist Eric Hegmann Chefredakteur von „beziehungsweise – Das Online-Magazin für mehr Liebe“ und entwickelt in seiner Firma „Modern Love School“ Onlinekurse und Persönlichkeitstests, die Hilfe zur Selbsthilfe bei Fragen rund um Partnerwahl, Konfliktlösung und Bindungsverhalten bieten.
www.modernloveschool.com
Was machen Verfolger*innen und Verlustängstliche wie die EU?
- Nachbohren, fordern, meckern
Besser wäre: Freiraum lassen, denn Bedrängen führt immer nur zu weiterem Rückzug. Beispiel: „Ich mache mir Sorgen, wenn du nicht zurückrufst.“ - Vorwürfe machen, abwerten, laut werden
Deeskalierend wäre: das Problem aufzeigen und aus der eigenen Perspektive beschreiben. Beispiel: „Es fällt mir schwer, mich auf dich zu verlassen, ich fühle mich alleingelassen.“
Was machen Rückzieher*innen und Bindungsängstliche wie das UK?
- Bagatellisieren, halbherzig zustimmen, Problem weglachen
Konstruktiver wäre: Wertschätzung und Respekt vor den Sorgen des anderen zeigen. Beispiel: „Auch wenn ich das anders sehe, glaube ich dir deine Bedenken. Hilf mir, sie besser zu verstehen.“ - Konflikt vertagen, nicht reagieren, schweigen, ablenken
Erfolgversprechender wäre: trotz Abgrenzung erreichbar sein und Kommunikationsbereitschaft zeigen. Beispiel: „Dieser Konflikt verlangt mir gerade zu viel ab, ich möchte gerne meine Gedanken sammeln und dir diese zu diesem konkreten Zeitpunkt vortragen.“
European Council on Foreign Relations (ECFR)
Der European Council on Foreign Relations (ECFR) ist ein pan-europäischer Think Tank. Er verfolgt das Ziel, europäische Sichtweisen in nationale politische Diskurse einzubringen, Perspektiven für eine gemeinsame europäische Außenpolitik aufzuzeigen und sich für die Weiterentwicklung des europäischen Integrationsprozesses einzusetzen.
AufRuhr dankt Nick Witney aus dem Londoner Büro des European Council on Foreign Relations (ECFR) für die fachliche Expertise und Unterstützung bei diesem Beitrag.