Richtige Fakten, einseitige Tendenz

Richtige Fakten, einseitige Tendenz
Autor: Matthias Klein 08.09.2020

Vor fünf Jahren kamen besonders viele Geflüchtete nach Deutschland. Damals standen auch die Medien im Fokus, ihre Arbeit in der Kritik. Die Berichterstattung sei nicht ausgewogen gewesen, sagt Kommunikationswissenschaftler Marcus Maurer im Interview. „Das Vertrauen in die Medien wurde aber nicht dauerhaft erschüttert.“

Als im Sommer 2015 viele Geflüchtete nach Deutschland kamen, wurde Kritik an der Medienberichterstattung laut. Das Wort „Lügenpresse“ wurde als Schlagwort berühmt. Wie ist es dazu gekommen, Herr Maurer?

Marcus Maurer: Damals sprachen sich alle Parteien mit Ausnahme der AfD für die Aufnahme von Geflüchteten aus. Und auch die Massenmedien plädierten in der Berichterstattung zunächst sehr stark dafür. Alle Menschen, die dem nicht zustimmten, wurden davon überrollt. Dann suchen Menschen, die ihre Position nicht wiederfinden, nach einem Grund, warum das aus ihrer Perspektive schiefläuft. Am einfachsten war, die Medienberichterstattung anzuzweifeln und zu sagen, die Medien lügen doch alle. So kamen sie am leichtesten aus diesem Dilemma heraus.

Auch zuvor berichteten Medien über Geflüchtete. Wie hat sich die Berichterstattung ab Sommer 2015 verändert?

Maurer: Wir haben festgestellt, dass im Jahr 2015 bis zum Mai überhaupt nur sehr wenig über Flüchtlinge berichtet wurde. Dann stieg die Zahl der Berichte sehr stark an. Und die Berichterstattung war von Beginn an sehr positiv.

Porträt von Prof. Dr. Marcus Maurer. Er ist Professor für Kommunikationswissenschaft mit dem Schwerpunkt Politische Kommunikation am Institut für Publizistik der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.

Prof. Dr. Marcus Maurer

Prof. Dr. Marcus Maurer ist Professor für Kommunikationswissenschaft mit dem Schwerpunkt Politische Kommunikation am Institut für Publizistik der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.

Ein häufiger Vorwurf im Zusammenhang mit dem Begriff der „Lügenpresse“ war, die Medien würden Fakten falsch darstellen. Sie haben das erforscht – was haben Sie herausgefunden?  

Maurer: Wir zeigen in unserer Studie, dass die Medien die Fakten überwiegend richtig berichtet haben. Sehr oft wurde behauptet, sie würden das Geschlecht falsch darstellen, Frauen und Kinder in den Fokus rücken, obwohl die meisten Geflüchteten Männer waren. Tatsächlich haben die meisten Medien die soziodemografischen Merkmale der Zuwanderer*innen nahezu exakt abgebildet.

Sie haben die positive Tendenz der Berichterstattung angesprochen. Ein Vorwurf war, die Massenmedien hätten einseitig berichtet.

Maurer: Die Berichterstattung war ganz überwiegend nicht ausgewogen. Schaut man die einzelnen Beiträge an, dann sieht man, dass nur sehr wenige in sich ausbalanciert waren. Hinzu kommt: Die Berichterstattung über die Geflüchteten selbst war vor allem bis zum Herbst 2015 und besonders in den öffentlich-rechtlichen TV-Sendern einseitig positiv. Das ist sehr ungewöhnlich. Wenn wir sonst Medienberichterstattung analysieren und schauen, wie verschiedene Bevölkerungsgruppen dargestellt werden, dann ist der Tenor in aller Regel neutral bis negativ. In der öffentlichen Diskussion kam eines aber nicht zum Tragen: Auf der anderen Seite haben dieselben Medien das Thema Migration als abstrakten Sachverhalt einseitig durchweg negativ dargestellt.

Die Berichterstattung war ganz überwiegend nicht ausgewogen.

Das scheint ein Widerspruch zu sein.

Maurer: Das ist ein extremer Widerspruch, den man nur ganz schlecht aufklären kann. Vielleicht ist das eine Erklärung: Wenn man Bilder von Menschen sieht, die in Not sind, auf dem Meer oder auf der Balkanroute, dann hat man den Drang, diese Menschen zu beschützen. Wenn diese Bilder wegfallen und es um den abstrakten Sachverhalt der Migration geht, dann kommen Journalisten auch die Probleme in den Sinn und das Urteil fällt anders aus.

Ein weiterer Widerspruch kommt hinzu: Im Laufe des Herbstes wurde die Berichterstattung auch über Geflüchtete als Personen immer negativer. Vor allem nach den Ereignissen der Silvesternacht in Köln waren die Berichte dann einseitig negativ. Es ist schon problematisch, wenn eine Bevölkerungsgruppe zunächst einseitig positiv und dann kurz später ganz anders dargestellt wird. Das trägt natürlich nicht gerade zur Glaubwürdigkeit der Medien bei.

Ein Teil einseitig positiv, ein Teil einseitig negativ: Warum hat das nicht zu dem Eindruck geführt, dass die Berichterstattung nicht insgesamt in eine Richtung verzerrt ist?

Maurer: Umfragen zeigen, dass etwa die Hälfte der Bevölkerung die Berichterstattung als falsch oder unausgewogen kritisierte. Die andere Hälfte sah das nicht so. Das muss man zunächst vorausschicken. Die einseitig positiven Berichte blieben dem Publikum vielleicht eher im Gedächtnis, weil es darin um Menschen und deren persönliche Schicksale ging. Hinzu kommt, dass vielen die Fakten gar nicht bekannt waren – sie konnten also auch nicht beurteilen, ob die Berichterstattung den Fakten entspricht. Und schließlich prägt die Voreinstellung der Menschen ihre Wahrnehmung der Berichterstattung. Sie sehen diese durch ihre eigene Brille. Leser*innen und Zuschauer*innen mit besonders starken Meinungen nehmen selbst neutrale Berichte als einseitig gegen ihren eigenen Standpunkt gerichtet wahr.

Damals stand auch die Sprache der Berichte im Fokus der Diskussion. Wie sensibel haben die Medien aus Ihrer Sicht agiert?

Maurer: Wir haben untersucht, welchen Begriff die Medien für die Menschen verwendet haben, die nach Deutschland kamen. Die deutschen Medien haben überwiegend von „Geflüchteten“ gesprochen. Das ist ein Frame: Wenn man das Wort „Geflüchtete“ benutzt, dann sagt und akzeptiert man, die Menschen sind in Not, sie sind auf der Flucht. Englische Medien handhabten das anders: Sie haben „Migrant*innen“ genauso häufig genutzt wie „Geflüchtete“.

© Getty Images

Wir haben viel über Medienkritik gesprochen. Nun liegt 2015 fünf Jahre zurück – hat sich dauerhaft etwas am Vertrauen in die Medien geändert?

Maurer: Das ist eine wichtige Frage. Es gibt fortlaufend Umfragen zum Vertrauen in die Medien. Wir haben damals schon gesehen, dass es einen großen Unterschied gab zwischen dem Vertrauen in die Medienberichterstattung insgesamt und dem Vertrauen in die Berichterstattung über Geflüchtete. Ungefähr die Hälfte der Bevölkerung zweifelte an der Berichterstattung über Geflüchtete. Gleichzeitig vertraute immer noch die große Mehrheit den Medien grundsätzlich. Es gab also nur ein themenspezifisches Misstrauen. Inzwischen sehen wir, dass das Vertrauen in die Medien nicht dauerhaft erschüttert wurde.

Wenn Sie aus heutiger Sicht normativ auf die Berichterstattung schauen: Hätten die Medien anders berichten müssen?

Maurer: Das ist eine schwierige Frage. Ich habe sehr viel mit Journalist*innen gesprochen, wie es zu den angesprochenen Einseitigkeiten gekommen ist. Das Argument ist ein humanitäres: Wie kann man über Menschen, die in Not sind, nicht positiv berichten? Insgesamt hat sich im Journalismus meiner Einschätzung nach aber mittlerweile die Erkenntnis durchgesetzt, dass die Berichterstattung im Sommer 2015 zu positiv war.

Sie haben viel mit Journalist*innen gesprochen. Ist ein Problembewusstsein entstanden?

Maurer: Viele Journalist*innen haben sich im Nachhinein intensiv Gedanken über das Thema gemacht. Man muss aber sehen: Journalismus ist ein Tagesgeschäft. Man hat gar nicht die Zeit, sich ständig über die Art der Berichterstattung Gedanken zu machen. Gerade durch den Druck der Onlinemedien muss alles sehr schnell gehen. Oft fehlt eine Möglichkeit zur Selbstreflexion.