Große Worte für die Kleinen
5.000 Wörter für die Schule: Sprachwissenschaftler*innen und Sprachdidaktiker*innen des Mercator-Instituts für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache entwickeln einen wissenschaftlich fundierten Referenzwortschatz. Lehrer*innen können diesen für ihren Unterricht verwenden. Wie funktioniert das?
Dschungel, Pirat, Familie: drei Wörter aus der Lebenswelt eines siebenjährigen Kindes, die bald Teil eines umfangreichen Webprojekts werden. Bisher gibt es keinen wissenschaftlich definierten Wortschatz für alle Schüler*innen der Grund- und Sekundarstufe; nicht einmal ist man sich darüber einig, wie man diesen benennen sollte. So haben einige Bundesländer Grund-, andere Mindest- oder Basiswortschätze zusammengestellt. Diese Wörter verwenden Lehrkräfte in der Grundschule, um Lesen und Schreiben, insbesondere Rechtschreibung, zu vermitteln.
Jetzt entwickelt das Mercator-Institut für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache einen wissenschaftlich fundierten Wortschatz, der über reine Wortlisten hinausgeht. Seit Mai 2019 arbeitet ein Team aus Wissenschaftler*innen daran, eine Webanwendung zu erstellen, die rund 5.000 Wörter umfasst, dabei sprachwissenschaftlich und sprachdidaktisch begründet sowie lebensweltlich orientiert ist. Auch Schulbuchverlage sollen den Wortschatz nutzen können.
Wörter untereinander vernetzt
Das Besondere: „Die einzelnen Wörter werden mit einer Reihe an zusätzlichen Informationen versehen“, erklärt die operative Leiterin des Projekts, Rebekka Wanka. Bis zu 120 Zusatzinfos, zum Beispiel zu Aussprache, Herkunft, thematischen Feldern, Grammatik oder Orthografie, werden den Wörtern annotiert. „Dann kann sich eine Lehrerin oder ein Lehrer beispielsweise Wörter mit ‚ieh‘-Lauten ausgeben lassen, die für den Rechtschreiberwerb von Dritt- und Viertklässler*innen geeignet sind.“ Den Wortschatz können Lehrkräfte aller Fächer verwenden. Er soll sie bei der individuellen Förderung der Kinder sowie bei der Unterrichtsplanung und -entwicklung unterstützen. Darüber hinaus steht die Datenbank auch Mitarbeiter*innen von Verlagen zur Verfügung, die ihn beispielsweise für die Erstellung passender Unterrichtsmaterialien nutzen können – wissenschaftlich fundiert. Die Website ist nach kostenloser Registrierung uneingeschränkt nutzbar.
Doch welche sind die grundlegenden 5.000 Wörter für Grundschüler*innen im Sinne der Wissenschaft? „Die Auswahl der Wörter für die Datenbank gründet auf einem Gesamtkorpus, der aus drei Teilkorpora zusammengestellt wird“, erläutert die Sprachwissenschaftlerin Wanka. Zum einen sind da die Orthografie-Wortschätze der Länder Nordrhein-Westfalen, Bayern, Berlin und Brandenburg, Bremen, Hamburg, Hessen und Mecklenburg-Vorpommern. „Der zweite Teilkorpus des Referenzwortschatzes nennt sich Schreibwortschatz. Darin sind Wörter enthalten, die Schüler*innen selbst produziert haben: Er basiert auf Schreibproben, die wissenschaftlich erhoben wurden“, so die Projektleiterin. Als drittes fließt der Schulbuch-Wortschatz aus 24 häufig genutzten Schulbüchern der Klassen 3, 5 und 10 aus den Fächern Deutsch, Sachunterricht, Geografie und Physik in die Auswahl ein. Die Bücher wurden aufbereitet, also der Text eingelesen und eingepflegt. Die Texte werden aktuell von den beteiligten Wissenschaftler*innen einer Wortfrequenzanalyse unterzogen. „Hier haben wir nochmals unterteilt in Aufgaben-, Sach- oder literarische Texte“, berichtet Wanka und fügt hinzu: „In den Aufgabentexten kommen häufig Operatoren vor, also Verben wie ‚Erkläre …‘, ‚Beschreibe …‘ oder ‚Erläutere …‘.“
Solch ein „Erkläre, was ein Rechteck ist“ spielt eine besondere Rolle im Schulalltag eines achtjährigen Kindes. Somit soll sich das Tool an Pädagog*innen aus allen Fachrichtungen richten können, insbesondere solche, die einen sprachsensiblen Unterricht verfolgen. Dabei wollen die Lehrer*innen sicherstellen, dass alle Schüler*innen sich erfolgreich und fachgerecht in jedem Unterricht ausdrücken können.
Rund 5.000 Wörter sollen es am Ende werden, vielleicht ein paar mehr, vielleicht ein paar weniger, je nach Ergebnis der laufenden Analyse zu den Schulbüchern. „Die aus dem Orthografie-Korpus stehen jetzt schon fest“, sagt Wanka. Das sind solche Wörter, die auf den Grundwortschätzen der Länder basieren und für den Spracherwerb besonders wichtig sind. „Also zum Beispiel, dass man die Funktionswörter ‚dir‘ oder ‚wir‘ eben mit einem einfachen i schreibt und nicht ‚dier‘ und ‚wier‘, obwohl man ein langes i spricht“, erklärt die Sprachwissenschaftlerin.
Webanwendung auch für fachfremde Nutzer*innen
Die webbasierte Anwendung umfasst eine einfache und eine erweiterte Suche. Erstere soll einen niedrigschwelligen Einstieg für alle, auch fachfremde Personen, sicherstellen. „Die erweiterte Suche ermöglicht es, nach sprachwissenschaftlichen Bereichen zu filtern.“ Es gibt auch die Möglichkeit, in einem Suchfeld ähnlich wie bei Google nach einem bestimmten Wort zu suchen. „Nutzer*innen können aber auch mit Trunkierungen suchen“, sagt die Sprachwissenschaftlerin, also mit dem Sternchen-Befehl. Beispiel: Die Suche nach „ent*“ ergibt „Ente“, „entdecken“ und „entrümpeln“.
Ein Beirat aus Wissenschaftler*innen unterschiedlicher Universitäten unterstützt das vierköpfige Team mit ihren jeweiligen Expertisen. Die Datenbank zu konzipieren war sehr komplex, gibt Wanka zu. Aber: „Es ist ja auch nicht nur eine Liste. Alle Wörter sind außerdem untereinander verlinkt, auf zum Beispiel Synonyme oder Reimwörter.“ Das Projekt läuft seit Mai 2019 und soll im Mai 2022 online gehen, die Seite ist nach kostenloser Registrierung uneingeschränkt nutzbar.
Mercator-Institut für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache
Das Mercator-Institut für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache ist ein durch die Stiftung Mercator initiiertes und gefördertes Institut der Universität zu Köln. Es will die sprachliche Bildung verbessern und zu mehr Chancengleichheit im Bildungssystem beitragen.
www.mercator-institut-sprachfoerderung.de