Große Worte für die Kleinen

bunte Holzbuchstaben
Große Worte für die Kleinen
Autor: Julien Wilkens 19.04.2022

5.000 Wörter für die Schule: Sprach­­wissen­schaftler*innen und Sprach­­didaktiker*innen des Mercator-Instituts für Sprach­­förderung und Deutsch als Zweit­­sprache entwickeln einen wissenschaftlich fundierten Referenz­­wort­­schatz. Lehrer*innen können diesen für ihren Unterricht verwenden. Wie funktioniert das?

Dschungel, Pirat, Familie: drei Wörter aus der Lebens­­welt eines sieben­­jährigen Kindes, die bald Teil eines umfang­­reichen Web­projekts werden. Bisher gibt es keinen wissenschaftlich definierten Wort­­schatz für alle Schüler*innen der Grund- und Sekundar­­stufe; nicht einmal ist man sich darüber einig, wie man diesen benennen sollte. So haben einige Bundes­­länder Grund-, andere Mindest- oder Basis­­wort­­schätze zusammen­­gestellt. Diese Wörter verwenden Lehrkräfte in der Grund­­schule, um Lesen und Schreiben, insbesondere Recht­­schreibung, zu vermitteln.

Jetzt entwickelt das Mercator-Institut für Sprach­­förderung und Deutsch als Zweit­­sprache einen wissenschaftlich fundierten Wort­schatz, der über reine Wort­listen hinaus­­geht. Seit Mai 2019 arbeitet ein Team aus Wissenschaftler*innen daran, eine Web­anwendung zu erstellen, die rund 5.000 Wörter umfasst, dabei sprach­­wissenschaftlich und sprach­­didaktisch begründet sowie lebens­­weltlich orientiert ist. Auch Schul­­buch­­verlage sollen den Wort­­schatz nutzen können.

Wörter untereinander vernetzt

Das Besondere: „Die einzelnen Wörter werden mit einer Reihe an zusätzlichen Informationen versehen“, erklärt die operative Leiterin des Projekts, Rebekka Wanka. Bis zu 120 Zusatz­infos, zum Beispiel zu Aussprache, Herkunft, thematischen Feldern, Grammatik oder Ortho­grafie, werden den Wörtern annotiert. „Dann kann sich eine Lehrerin oder ein Lehrer beispiels­­weise Wörter mit ‚ieh‘-Lauten ausgeben lassen, die für den Recht­­schreib­­erwerb von Dritt- und Viert­­klässler*innen geeignet sind.“ Den Wortschatz können Lehrkräfte aller Fächer verwenden. Er soll sie bei der individuellen Förderung der Kinder sowie bei der Unterrichts­­planung und -entwicklung unter­­stützen. Darüber hinaus steht die Daten­bank auch Mitarbeiter*innen von Verlagen zur Verfügung, die ihn beispiels­­weise für die Erstellung passender Unterrichts­­materialien nutzen können – wissenschaftlich fundiert. Die Website ist nach kosten­loser Registrierung uneingeschränkt nutzbar.

Rebekka Wanka
Projektleiterin Rebekka Wanka. © Mercator-Institut/Annette Etges

Doch welche sind die grundlegenden 5.000 Wörter für Grund­­schüler*innen im Sinne der Wissenschaft? „Die Auswahl der Wörter für die Datenbank gründet auf einem Gesamt­korpus, der aus drei Teil­korpora zusammen­­gestellt wird“, erläutert die Sprach­­wissen­­schaftlerin Wanka. Zum einen sind da die Orthografie-Wortschätze der Länder Nordrhein-Westfalen, Bayern, Berlin und Brandenburg, Bremen, Hamburg, Hessen und Mecklenburg-Vorpommern. „Der zweite Teilkorpus des Referenz­­wort­­schatzes nennt sich Schreib­­wort­­schatz. Darin sind Wörter enthalten, die Schüler*innen selbst produziert haben: Er basiert auf Schreib­­proben, die wissenschaftlich erhoben wurden“, so die Projekt­leiterin. Als drittes fließt der Schulbuch-Wortschatz aus 24 häufig genutzten Schul­büchern der Klassen 3, 5 und 10 aus den Fächern Deutsch, Sach­unterricht, Geografie und Physik in die Auswahl ein. Die Bücher wurden aufbereitet, also der Text eingelesen und eingepflegt. Die Texte werden aktuell von den beteiligten Wissen­schaftler*innen einer Wort­­frequenz­­analyse unter­zogen. „Hier haben wir nochmals unterteilt in Aufgaben-, Sach- oder literarische Texte“, berichtet Wanka und fügt hinzu: „In den Aufgaben­­texten kommen häufig Operatoren vor, also Verben wie ‚Erkläre …‘, ‚Beschreibe …‘ oder ‚Erläutere …‘.“

Referenzwortschatz
Der Arm oder arm dran – rund 5.000 Wörter werden am Ende des dreijährigen Forschungsprojekts den Referenzwortschatz für die Schule bilden.

Solch ein „Erkläre, was ein Rechteck ist“ spielt eine besondere Rolle im Schul­­all­tag eines acht­­jährigen Kindes. Somit soll sich das Tool an Pädagog*innen aus allen Fach­­richtungen richten können, insbesondere solche, die einen sprach­­sensiblen Unterricht verfolgen. Dabei wollen die Lehrer*innen sicher­­stellen, dass alle Schüler*innen sich erfolg­­reich und fach­­gerecht in jedem Unterricht ausdrücken können.

Rund 5.000 Wörter sollen es am Ende werden, vielleicht ein paar mehr, vielleicht ein paar weniger, je nach Ergebnis der laufenden Analyse zu den Schulbüchern. „Die aus dem Orthografie-Korpus stehen jetzt schon fest“, sagt Wanka. Das sind solche Wörter, die auf den Grund­wort­schätzen der Länder basieren und für den Sprach­­erwerb besonders wichtig sind. „Also zum Beispiel, dass man die Funktions­wörter ‚dir‘ oder ‚wir‘ eben mit einem einfachen i schreibt und nicht ‚dier‘ und ‚wier‘, obwohl man ein langes i spricht“, erklärt die Sprach­­wissen­schaftlerin.

Webanwendung auch für fachfremde Nutzer*innen

Die webbasierte Anwendung umfasst eine einfache und eine erweiterte Suche. Erstere soll einen niedrig­schwelligen Einstieg für alle, auch fach­­fremde Personen, sicher­­stellen. „Die erweiterte Suche ermöglicht es, nach sprach­­wissenschaftlichen Bereichen zu filtern.“ Es gibt auch die Möglichkeit, in einem Suchfeld ähnlich wie bei Google nach einem bestimmten Wort zu suchen. „Nutzer*innen können aber auch mit Trunkierungen suchen“, sagt die Sprach­wissen­schaftlerin, also mit dem Sternchen-Befehl. Beispiel: Die Suche nach „ent*“ ergibt „Ente“, „entdecken“ und „entrümpeln“.

Ein Beirat aus Wissenschaftler*innen unter­schiedlicher Universitäten unter­stützt das vier­köpfige Team mit ihren jeweiligen Expertisen. Die Daten­bank zu konzipieren war sehr komplex, gibt Wanka zu. Aber: „Es ist ja auch nicht nur eine Liste. Alle Wörter sind außerdem unter­­einander verlinkt, auf zum Beispiel Synonyme oder Reimwörter.“ Das Projekt läuft seit Mai 2019 und soll im Mai 2022 online gehen, die Seite ist nach kostenloser Registrierung uneingeschränkt nutzbar.

Mercator-Institut für Sprach­förderung und Deutsch als Zweitsprache

Das Mercator-Institut für Sprach­­förderung und Deutsch als Zweit­sprache ist ein durch die Stiftung Mercator initiiertes und gefördertes Institut der Universität zu Köln. Es will die sprachliche Bildung verbessern und zu mehr Chancen­­gleich­heit im Bildungs­system beitragen.
www.mercator-institut-sprachfoerderung.de