Menschen in Not, Menschen als Gefahr

Menschen in Not, Menschen als Gefahr
Autorin: Matthias Klein 15.07.2021

Vor sechs Jahren kamen besonders viele Geflüchtete nach Deutschland. Die Medien berichteten intensiv – und mit positiver Tendenz. Mit der Kölner Silvesternacht habe sich die Berichterstattung dann verändert, sagt der Kommunikationswissenschaftler Marcus Maurer im Interview. Inhaltlich sei danach ein Widerspruch prägend gewesen.

Als 2015 besonders viele Geflüchtete nach Deutschland kamen, berichteten die Medien intensiv über das Thema. Sie haben nun die Zeit von Februar 2016 bis Ende 2020 untersucht – wie ging es mit der Berichterstattung weiter?

Marcus Maurer: Mit der Kölner Silvesternacht 2015 hatte sich die Berichterstattung gedreht: Zuvor war sie außergewöhnlich positiv, danach wurde sie deutlich negativer. Anfang 2016 gab es noch einmal sehr viele Beiträge. In den folgenden Monaten ging die Berichterstattung dann sukzessive zurück. Das verlief parallel zum Rückgang der Zuwanderung in der Folge des EU-Türkei-Abkommens. 2019 und 2020 gab es dann nur noch sehr wenige Beiträge zu diesem Thema.

Sie sprechen die Tendenz der Beiträge an, die sich in Folge der Silvesternacht veränderte. Wie sah das danach aus? 

Maurer: Die Berichterstattung blieb deutlich negativ. Im Sommer 2015 ging es in vielen positiven Beiträgen um Geflüchtete als Menschen. Das drehte sich vollends. Solche Geschichten waren kaum mehr zu finden. Die Medien betonten nun vor allem Gefahren durch die Zuwanderung. Dabei fokussierten sie sich insbesondere auf den Aspekt der Sicherheit im Land.

Lassen Sie uns noch einmal auf dem Umfang der Berichterstattung blicken. Das erscheint ja zunächst überraschend. Viele Geflüchtete waren nach Deutschland gekommen, ihre Integration war auch 2016 und in der Folgezeit ein großes Thema. Warum wurde darüber wenig berichtet?

Porträt von Prof. Dr. Marcus Maurer. Er ist Professor für Kommunikationswissenschaft mit dem Schwerpunkt Politische Kommunikation am Institut für Publizistik der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.

Prof. Dr. Marcus Maurer ist Professor für Kommunikationswissenschaft mit dem Schwerpunkt Politische Kommunikation am Institut für Publizistik der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.

Maurer: Das ist mit medialen Selektionskriterien zu erklären. Die Integration, das Ankommen der Menschen sind keine Themen für die Medien. Es ist nicht spektakulär, nicht spannend, nicht ungewöhnlich genug. Dinge, die funktionieren, sind aus Sicht des Journalismus kein Berichterstattungsgegenstand. Dahinter steht das unterstellte Interesse des Publikums: Das Ungewöhnliche, das Dramatische findet Aufmerksamkeit. Deswegen sind Menschen, die auf der Flucht sind, die in Not sind, ein Gegenstand der Berichterstattung. Darüber gab es zahlreiche Beiträge. Aber nicht über Menschen, die sich um Integration bemühen, die eine Arbeit suchen.

Sie sprechen spektakuläre Ereignisse an. Im Dezember 2016 schockierte der Anschlag auf einen Berliner Weihnachtsmarkt, den ein abgelehnter Asylbewerber verübte. Wie wirkte sich das auf die Berichterstattung aus?

Maurer: Bei solchen Ereignissen stieg die Zahl der Beiträge kurzfristig sehr stark an. Das passierte angesichts von Terroranschlägen und angesichts von politischen Entscheidungen. Insgesamt war in mehr als jedem zehnten Beitrag im Untersuchungszeitraum Terrorismus oder Flüchtlingskriminalität das Thema. Das unterstreicht, dass die Medien vor allem Gefahren durch Zuwanderung in den Mittelpunkt stellten. Das Verhältnis von Geflüchteten und der einheimischen Bevölkerung stellten sie dazu passend auch überwiegend als konfrontativ dar.

Fünf Jahre Medienberichterstattung über Flucht und Migration

Wie berichteten die Medien zwischen 2016 und 2020 über Flucht und Migration? Das analysieren Marcus Maurer, Pablo Jost, Simon Kruschinski und Jörg Haßler. Sie untersuchen die Berichterstattung in sechs deutschen Leitmedien mit einer quantitativen Inhaltsanalyse.

Die Studie finden Sie hier.

Einerseits Menschen in Not, andererseits Menschen als Gefahr für die Sicherheit: Sie schreiben in Ihrer Studie, dass diese Widersprüchlichkeit die Darstellung der Geflüchteten prägte. Was bedeutet das?

Maurer: Die Berichterstattung ist dadurch sehr inkonsistent. Das Publikum bekommt widersprüchliche Informationen. Das verwirrt die Menschen. Wir sagen: Das sind zwei Narrative. Also die Berichterstattung erzählt zwei unterschiedliche Geschichten. Geflüchtete kommen als Menschen in Not, denen geholfen werden muss. Geflüchtete sind eine Gefahr für die Sicherheit. Diese beiden Perspektiven nahmen die Medien immer wieder ein – abwechselnd, kaum einmal zusammen in einem Beitrag. Selten gab es einen Sowohl-als-auch-Beitrag. Das macht es dem Publikum sehr schwierig, die Aspekte zusammenzubringen und sich ein fundiertes Urteil zu bilden. Jeder nimmt die Berichterstattung unterschiedlich wahr. Wer mit den Zuwandernden sympathisiert, fragt sich, warum die Berichterstattung so negativ ist. Und Menschen, die gegen Zuwanderung sind, fragen sich, warum so häufig über Geflüchtete in Not berichtet wird.

Das Problem ist, dass sich die Berichterstattung auf die Extremereignisse beschränkt.

Was glauben Sie, ist den Medien diese Widersprüchlichkeit bewusst?

Maurer: Nein, die negativen Folgen ihrer widersprüchlichen Berichterstattung sind von den Journalist*innen nicht beabsichtigt. Journalismus ist Tagesgeschäft. Es passiert etwas, darüber berichten die Journalist*innen. In dem Moment ist das sehr schlüssig. Medien greifen einzelne Ereignisse auf – und die ziehen quasi automatisch bestimmte Wertungen nach sich. Das Problem ist, dass sich die Berichterstattung auf die Extremereignisse beschränkt. Der Blick fehlt für die Menschen, die in Deutschland Asyl bekommen haben und sich unauffällig hier verhalten, die sich integrieren. Man erfährt beispielsweise sehr wenig darüber, wie Kinder im Rahmen des Familiennachzugs nach Deutschland kommen, ohne großes Leid auf dem Fluchtweg. Wie Menschen Arbeit suchen und dann einer Tätigkeit nachgehen. Es fehlt das Normale. Das hat aber nichts mit der Thematik zu tun. Das ist ein generelles journalistisches Problem. Mit der Theorie der Nachrichtenfaktoren lässt sich gut erklären, warum Medien über etwas berichten. Der stärkste aller Faktoren ist Negativismus: Medien berichten vor allem negative Ereignisse. Der Hintergrund ist: Wir Menschen sind generell negativen Dingen gegenüber aufmerksamer.

 

© Getty Images

Wenn Sie das so in die Theorie der Nachrichtenfaktoren einordnen: Kann man dann davon sprechen, dass sich die zunächst sehr positive Berichterstattung im Zuge der „Flüchtlingskrise 2015“ auf lange Sicht quasi normalisiert hat?

Maurer: Das könnte man so sagen. Mir ist wichtig: Damit ist keine normative Wertung gemeint. Wir sehen ein Zurück zur früheren Tendenz. Die Berichterstattung über Migration war schon vor der „Flüchtlingskrise“ negativ – so wie die Berichterstattung über die allermeisten Themen generell negativ ist. Das ist eine wichtige Botschaft unserer Studie: Viele von unseren Beobachtungen treffen nicht nur auf die Berichterstattung über Geflüchtete zu. Die negative Berichterstattung ist kein Ausdruck von Rassismus. Sie ist die Folge von allgemeinen journalistischen Auswahlkriterien, von den alltäglichen Routinen in den Redaktionen.

Sie haben die negativen Folgen der Berichterstattung angesprochen, die Journalist*innen nicht beabsichtigen. Wie könnten sie darauf reagieren?

Maurer: Es wäre wünschenswert, dass das Problembewusstsein bei den Journalist*innen dafür wächst. Eine Möglichkeit wären Beiträge im Sinne des Konstruktiven Journalismus. Damit ist keine Jubelberichterstattung gemeint, die nur positive Aspekte hervorhebt. Konstruktiver Journalismus meint: Medien sollten nicht überwiegend Probleme darstellen, sondern auch Lösungen aufzeigen. Damit könnten sie die Verzerrung hinsichtlich der Negativität korrigieren. Ein völlig anderer Blick auf Geflüchtete würde entstehen, wenn auch Geschichten von positiver Integration erzählt würden. Das wäre für die öffentliche Meinungsbildung wünschenswert.