Streiten mit System
Integration ist eine Aufgabe für die ganze Gesellschaft. Angepackt wird sie jedoch direkt in den Kommunen, in denen Geflüchtete angekommen sind – und das klappt selten ohne Konflikte. Gut so!
Kurt Faller muss nicht lange überlegen. Auf die Frage, warum es zwischen Menschen aus verschiedenen Kulturen oft zu Konflikten kommt, nennt er ein Erlebnis, das anschaulicher nicht sein könnte. „In München gab es in einem Mietshaus Ärger zwischen einer bayerischen Familie und einer Familie marokkanischer Herkunft“, erzählt er. „Der Anlass war eigentlich eine typische Nachbarschaftslappalie, aber im Gespräch kam dann etwas ganz anderes zum Vorschein: Die Bayern ärgerten sich, dass die marokkanische Familie schon ein ganzes Jahr im Haus lebte und sich immer noch nicht vorgestellt hatte. Die Marokkaner hingegen verstanden nicht, dass sie schon ein Jahr im Haus wohnten, aber noch kein einziges Mal eingeladen worden waren.“ In diesen komplett verschiedenen Sichtweisen auf die gleiche Sache offenbart sich der Kern interkultureller Konflikte: Es sind unterschiedliche Prägungen, Vorstellungen und Werte, die nirgendwo niedergeschrieben sind und die man dem Gegenüber auch nicht ansieht, die das Miteinander belasten können.
Der Konfliktberater und Mediator Kurt Faller hat diesen Fall begleitet. Als Pädagoge und Coach hat er sich unter anderem auf Konflikte zwischen Kulturen spezialisiert. Aus vielen Jahren Erfahrung weiß er, dass nicht die Konflikte selbst das Problem sind, sondern der Umgang damit. Denn der ist häufig nicht geregelt – Stichwort Kommune. 2015 und 2016 begann für Hunderttausende Geflüchtete ein neues Leben in Dörfern und Städten in ganz Deutschland. Auch für die Kommunen war das eine neue Situation; die wenigsten waren darauf vorbereitet. Die Zivilgesellschaft sprang ein: Unzählige Ehrenamtliche engagierten sich in Unterkünften, gaben Sprachunterricht, bildeten Brücken zu Ämtern und Behörden. Hehre Absichten – und doch fühlen sich gemäß der Studie „Konflikte im Ehrenamt der Flüchtlingshilfe“ von 2018 viele Ehrenamtliche enttäuscht, unverstanden und sogar bedroht. Wie das?
Konflikte für alle
„Im Ehrenamt kommt die Motivation von innen“, erklärt Andreas Zick. Der Leiter des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung an der Universität Bielefeld und Autor der Studie hat mit seinen Kolleg*innen 30 freiwillige Helfer*innen zu ihrem Engagement und ihren Erfahrungen befragt. „Man will helfen und entwickelt für Geflüchtete das Bild der dankbaren Hilfsbedürftigen, der traumatisierten Kriegsopfer und Kinder, die sich über Kleinigkeiten freuen. Man rechnet nicht damit, dass sich jemand sexistisch verhält, nicht mit einer Frau sprechen will, Hilfe ablehnt. Oder einfach nicht so dankbar ist, wie man sich das vorstellt.“ Denn andersherum kennen viele Geflüchtete das Konzept des Ehrenamts nicht und denken, dass die Freiwilligen dafür bezahlt werden. Eine Vorstellung, die das Miteinander prägt.
Im Ehrenamt kommt die Motivation von innen.
Prallen die gegenseitigen Erwartungen auf die Realität, kann es kriseln. Häufig fühlen sich die Ehrenamtlichen auch gegenüber den professionellen Helfer*innen in ihrer Teilhabe beschnitten, weil sie beispielsweise keinen eigenen Raum haben oder weniger Möglichkeiten. Zusätzlich kann das Vertrauen der Geflüchteten zum Streitpunkt werden. „Viele Freiwillige identifizieren sich stark mit den Geflüchteten und werden zu deren Anwalt. Darüber geraten sie dann mit den Profis in Konflikt, denn die sagen letztendlich, was geht und was nicht“, so Andreas Zick. Nicht zuletzt warten auch jenseits der Geflüchtetenunterkunft Konflikte auf die Ehrenamtlichen: Einige werden aufgrund ihres Engagements bedroht, da sie von fremdenfeindlich eingestellten Menschen mit den Geflüchteten assoziiert werden.
Insgesamt zeigt die Studie, dass es in der Integration drei wesentliche Ursachen für Konflikte zwischen Gruppen gibt: Identitäten, Ressourcen und Werte. Um diese Dinge wird typischerweise „gerangelt“, wenn Gruppen aufeinandertreffen, die sehr verschieden sind und ebenso verschiedene Interessen haben – was im Integrationsprozess maximal zutrifft. Gerade hier sind Auseinandersetzungen jedoch zwingend nötig. „Integration ist davon abhängig, dass es Konflikte gibt“, sagt Andreas Zick, „denn über Konflikte kommen Gruppen zusammen, handeln ihre Unterschiede aus und finden gemeinsam neue Lösungen. Dieser Prozess darf nur nicht so verlaufen, dass eine Gruppe geschädigt wird. So entsteht sozialer Wandel, und von dem lebt eine Demokratie.“
Ein System erfinden
Der wesentliche Teil, das Aushandeln von Unterschieden, ist in Kommunen noch ein großer Knackpunkt. Es fehlen die Strukturen, um – wie Fachleute es ausdrücken – „konfliktfest“ zu sein und sowohl eine Anlaufstelle als auch ein Verfahren für den Umgang mit solchen Spannungen bereitstellen zu können. Das Projekt „Kommunales Konfliktmanagement fördern“ soll dies ändern. Das Ministerium für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen und die Landesweite Koordinierungsstelle Kommunale Integrationszentren (LaKI) bei der Bezirksregierung Arnsberg haben sich zusammengeschlossen, um zu erproben, wie durch die Qualifizierung von Kommunen Konfliktmanagementsysteme vor Ort etabliert werden können. Das klingt komplizierter, als es später sein soll. „Es geht darum, feste Strukturen und Abläufe zu schaffen, damit Probleme in der Integration früh erkannt und niedrigschwellig gelöst werden können“, erläutert Kurt Faller, der das Projekt inhaltlich begleitet.
Ein unsystematisches Vorgehen kann für einzelne Mitarbeitende stark belastend sein.
16 Kommunen in NRW haben sich der Aufgabe gestellt und sich an der Ruhr-Universität Bochum im Zertifikatskurs „Integrationsmanagement und Systemdesign“ für den Aufbau eines Systems in der eigenen Kommune schulen lassen. Petra Kofler-Mertens, die das Projekt in der LaKI leitet, weiß, dass sich diese personelle und zeitliche Investition auf lange Sicht lohnt: „Ein unsystematisches Vorgehen kann für einzelne Mitarbeitende stark belastend sein, da es die gewohnte Zusammenarbeit stört und letztendlich viele Ressourcen dadurch gebunden werden.“ Durch die Zeit, die das frisst, entstünden den Kommunen durch ungelöste Konflikte also am Ende höhere Kosten. Ein mögliches Argument für Entscheidungsträger*innen, sich überhaupt um systematisierte Konfliktlösung zu kümmern. „Der politische Wille ist hier ganz entscheidend“, so Petra Kofler-Mertens.
Wie wichtig ein geregeltes Vorgehen für die Konfliktlösung ist, zeigt aber auch Kurt Fallers marokkanisch-bayerisches Beispiel aus München: Das löste sich nämlich nicht von allein, sondern nur im Rahmen einer interkulturellen Konfliktvermittlung im Wohnbereich. Einem festgelegten Prozess folgend, wurde erst die eine Partei angehört, dann die andere, und schließlich wurden die Familien miteinander ins Gespräch gebracht. „Hier schimpfte man zwar übereinander, aber sobald man einmal begriffen hatte, welche Muster dahinterliegen, war die Sache ziemlich schnell geklärt“, erinnert sich Kurt Faller.
Ohne Kommunikation „über die Sache“ geht es also nicht. „Erst mal geht man ja davon aus, dass die anderen die gleiche Sicht haben wie ich“, berichtet Konflikttrainer Faller, „doch das ist einfach ein großer Irrtum.“ Konträre Perspektiven habe er auch zwischen einem syrischen Geflüchteten und einem Ehrenamtler erlebt. Letzterer regte mit Nachdruck an, dass der Syrer seinen Bart abschneidet, um nicht für einen Islamisten gehalten zu werden. Der Geflüchtete verstand nicht, was an einem Bart gefährlich sein sollte – und es kriselte. An diesem Beispiel zeigt sich allerdings auch eine Tatsache, die oft nicht bedacht wird. „Wir glauben, dass Konflikte entstehen, weil jemand einem anderem schaden will“, meint Kurt Faller. „Das ist aber selten der Fall. Es knallt eher deshalb, weil jeder es aus seiner Welt heraus besonders gut machen will.“
Kommunales Konfliktmanagement fördern
Das von der Stiftung Mercator geförderte Projekt „Kommunales Konfliktmanagement fördern: Teilhabe und Integration konstruktiv gestalten“ ist eine Initiative des Ministeriums für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen in Zusammenarbeit mit der Landesweiten Koordinierungsstelle Kommunale Integrationszentren (LaKI) bei der Bezirksregierung Arnsberg.