„Wie funktioniert Migration im Gesundheitssektor, Petra Bendel?“
Ein Viertel der Menschen, die in der Gesundheits- und Pflegebranche arbeiten, ist selbst zugewandert oder kommt aus einer Familie mit Zuwanderungsgeschichte. Das zeigt das aktuelle Jahresgutachten des Sachverständigenrates für Integration und Migration (SVR). Außerdem stellt es heraus, dass besonders die Arbeitsbedingungen und die soziale Integration gestärkt werden müssen. Ein Interview mit Petra Bendel, der Vorsitzenden des Rates und Leiterin des Forschungsbereiches Migration, Flucht und Integration am Institut für Politische Wissenschaft der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU).
Bei einem Blick in das Gutachten wird schnell klar, dass der Anteil von Mediziner*innen mit Zuwanderungshintergrund deutlich geringer ist als bei Pflegekräften, die in der Altenpflege arbeiten. Wie lässt sich dieser Unterschied erklären? Sind die Hürden in der Altenpflege deutlich kleiner?
Petra Bendel: In der Altenpflege beläuft sich der Anteil mit Migrationshintergrund auf ein Drittel aller Beschäftigten. Dieser hohe Anteil hat mit der Nachfrage zu tun. Denn hier fehlen seit vielen Jahren die Fachkräfte. Der Zugang ist zudem recht einfach. Interessierte können ohne einen Ausbildungsabschluss als Hilfskraft einsteigen. Sie brauchen keine langjährigen Anerkennungsverfahren. Auch für die einjährige Ausbildung in der Altenpflege sind die Hürden niedrig. Wir empfehlen, dass Beschäftigte, die als Hilfskräfte zu arbeiten anfangen, zu einer Weiterqualifizierung ermutigt werden.
Petra Bendel ist Professorin für Politische Wissenschaft, Leiterin des Forschungsbereichs Migration, Flucht und Integration an der Universität Erlangen-Nürnberg.
Im Jahr 2015 sind aufgrund des Bürgerkriegs in Syrien viele Menschen nach Deutschland gekommen, sodass die Forderungen nach vereinfachten Verfahren zur Anerkennung von Abschlüssen zugenommen haben. Ist das Verfahren denn für Mediziner*innen seitdem einfacher geworden?
Bendel: Das Qualifikationsanerkennungsgesetz hat die Anerkennung mitgebrachter Berufe vor zehn Jahren erleichtert; aber die meisten Gesundheitsberufe sind reglementiert. Ärztinnen und Ärzte stehen daher vor der Herausforderung, dass ihre akademische Ausbildung anerkannt werden muss, und dieser Prozess kann sich sogar über mehrere Jahre hinziehen.
Der Anteil an Mediziner*innen mit Zuwanderungshintergrund ist in den ostdeutschen Bundesländern mit 15 Prozent sehr hoch. Wie kam es zu dieser Entwicklung?
Bendel: Er ist im Vergleich hoch: Wir haben den prozentualen Anteil in Relation zu dem Ausländer*innenanteil in der Bevölkerung gesetzt. Der Ausländer*innenanteil ist in den ostdeutschen Bundesländern mit 4,7 Prozent sehr gering. Hinzu kommt, dass dort viele Grenzgänger*innen arbeiten. So praktizieren beispielsweise polnische Ärztinnen und Ärzte in Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen. Betrachten wir vergleichsweise das westdeutsche Bundesland Baden-Württemberg mit einem hohen Ausländer*innenanteil von 16,1 Prozent, sehen wir, dass dort nur 12,6 Prozent der berufstätigen Mediziner*innen eine Zuwanderungsgeschichte haben.
Systemrelevant: Migration als Stütze und Herausforderung für die Gesundheitsversorgung in Deutschland
Der Sachverständigenrat für Integration und Migration (SVR) widmet sich in seinem Jahresgutachten 2022 den Menschen, die in der Gesundheits- und Pflegebranche arbeiten, und zugewandert sind oder aus einer Familie mit Zuwanderungsgeschichte kommen. Es zeigt sich deutlich, dass besonders die Arbeitsbedingungen und die soziale Integration dieser Menschen gestärkt werden müssen.
Die Anerkennungsverfahren sind bei akademischen Berufen besonders aufwendig, aber auch in der Pflege kann eine Anerkennung sehr langwierig sein. Welche Forderungen stellen Sie an Politik und Kommunen?
Bendel: Wir brauchen hier einen Effizienz- und Transparenzschub bei den Verwaltungen und ein besseres Angebot bei den Nachqualifizierungen. Die Bundesländer sind für die Prüfung ausländischer Qualifikationen zuständig, und innerhalb der Länder gibt es noch einmal unterschiedliche Stellen. Wir empfehlen eine Bündelung von Kompetenzen in einer Anerkennungsstelle pro Land. Auch auf Bundesebene wäre die Einrichtung einer zentralen Stelle denkbar oder eine arbeitsteilige Organisation zwischen den zuständigen Behörden in den Ländern. Wenn ein Bundesland für ein bestimmtes Herkunftsland oder eine bestimmte Anerkennung zuständig wäre, könnte dies den Prozess für alle vereinfachen.
Ist die personelle Infrastruktur der Stellen dafür ausreichend?
Bendel: Die Anerkennungsstellen benötigen mehr Personal und sollten die digitalen Möglichkeiten besser ausschöpfen. Für eine nachhaltige Lösung ist schließlich zwischen allen an Zuwanderung beteiligten Stellen – von den Konsulaten im Ausland bis hin zur Bundesagentur für Arbeit im Inland – mehr Kooperation essenziell.
Es braucht ein gutes Integrationskonzept, das auch das schon bestehende Team miteinbezieht.
Im deutschen Gesundheitssystem ist Stress an der Tagesordnung, gute Kommunikation ist unerlässlich und teilweise lebenswichtig für Patient*innen. Langfristig bleiben somit Fachkräfte aus dem Ausland nur erhalten, wenn sie auch gut integriert werden, vor allem sozial und mit fundierten Sprachkenntnissen. Welche neuen Möglichkeiten sehen Sie bei der Integration von Fachkräften im Gesundheitssektor?
Bendel: Das ist ein sehr wichtiger Aspekt. Besonders die betriebliche Integration von zugewanderten Fachkräften ist kein Selbstläufer. Die Angeworbenen müssen nicht nur administrative Barrieren überwinden. Sie müssen sich auch in neue Arbeitsabläufe und ein mitunter anderes Rollenverständnis einfinden, das sich vom System in ihrem Herkunftsland unterscheidet. Sprachliche Anforderungen sind auch oft eine große Hürde. Es braucht also ein gutes Integrationskonzept, das auch das schon bestehende Team miteinbezieht. So kann ein wertschätzendes Arbeitsklima geschaffen werden. Darüber hinaus sollte die soziale Integration am neuen Wohnort gefördert werden. Hier können Mentoring- und Buddy-Programme helfen.
Viele Interessierte kommen durch Agenturen nach Deutschland und begeben sich teilweise in prekäre Arbeitsverhältnisse, vor allem im Bereich der Altenpflege. Ist das Gütesiegel „Faire Anwerbung Pflege Deutschland“ ein erster Schritt zu mehr Transparenz?
Bendel: Zertifizierungen und Gütesiegel, die Mindeststandards festlegen, können helfen, mehr Transparenz, Fairness und letzten Endes eine höhere Versorgungsqualität zu gewährleisten. Zudem können sie für potenzielle Kund*innen aus Privathaushalten eine Orientierung bieten, sodass Vermittlungsagenturen ausgewählt werden, die die vorgeschriebenen Standards einhalten.
Im September starteten Sie das neue Forschungsprojekt „Gesundheit! Teilhabe im Gesundheits- und Pflegesektor“ gemeinsam mit dem Institut für Geographie der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU). Welche Ziele verfolgt Ihr neues Projekt?
Bendel: Im Fokus stehen Kommunen und Quartiere, die strukturell benachteiligt sind und Probleme bei der Personalgewinnung und beim Halten von Fachkräften haben. Im Rahmen des Projekts sollen bestehende Initiativen von Kommunen, Kliniken und Pflegeschulen analysiert werden, die die Bedingungen und die soziale Teilhabe fördern. Gemeinsam mit den Entscheidungsträger*innen möchten wir anschließend neue Strategien entwickeln, die den Einstieg, die Weiterentwicklung und die Teilhabe auch von gering qualifizierten Arbeitnehmer*innen verbessern. Wir möchten zu einer Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der ambulanten und stationären Pflege beitragen sowie die Integration und die Bleibeorientierung der Gesundheits- und Pflegekräfte stärken.
Mit welchen wissenschaftlichen Methoden werden Ihr Team und Sie arbeiten?
Bendel: Unser interdisziplinäres und mehrsprachiges Team kommt aus den Bereichen der Politikwissenschaft, Geografie und Gesundheitsforschung. Nach ersten Interviews mit Pflegekräften, Betrieben und Kommunen werden wir weitere Regionen und Quartiere auswählen.
Um diese miteinander vergleichen zu können, orientieren wir uns an Regionen und Quartieren mit ähnlichen strukturellen Rahmenbedingungen. Mithilfe von qualitativen Interviews und visuellen Tools aus der Geografie möchten wir die entsprechenden Bedarfe ermitteln und auf deren Grundlage maßgeschneiderte Handlungsempfehlungen und -angebote entwickeln.
Sachverständigenrat für Integration und Migration (SVR)
Der Sachverständigenrat für Integration und Migration (SVR) ist ein unabhängiges, interdisziplinär besetztes Gremium von Expert*innen, das die Politik handlungsorientiert berät und der Öffentlichkeit sachliche Informationen zur Verfügung stellt.
www.svr-migration.de