„Wie funktioniert Migration im Gesund­heits­sektor, Petra Bendel?“

Personal im Krankenhaus
„Wie funktioniert Migration im Gesund­heits­sektor, Petra Bendel?“
Autorin: Anna E. Poth 04.10.2022

Ein Viertel der Menschen, die in der Gesundheits- und Pflege­branche arbeiten, ist selbst zugewandert oder kommt aus einer Familie mit Zuwanderungs­geschichte. Das zeigt das aktuelle Jahres­gutachten des Sach­verständigen­rates für Integration und Migration (SVR). Außerdem stellt es heraus, dass besonders die Arbeits­bedingungen und die soziale Integration gestärkt werden müssen. Ein Interview mit Petra Bendel, der Vorsitzenden des Rates und Leiterin des Forschungs­bereiches Migration, Flucht und Integration am Institut für Politische Wissenschaft der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU).

Bei einem Blick in das Gutachten wird schnell klar, dass der Anteil von Mediziner*innen mit Zuwanderungs­hinter­grund deutlich geringer ist als bei Pflegekräften, die in der Altenpflege arbeiten. Wie lässt sich dieser Unterschied erklären? Sind die Hürden in der Alten­pflege deutlich kleiner?

Petra Bendel: In der Altenpflege beläuft sich der Anteil mit Migrations­hinter­grund auf ein Drittel aller Beschäftigten. Dieser hohe Anteil hat mit der Nachfrage zu tun. Denn hier fehlen seit vielen Jahren die Fach­kräfte. Der Zugang ist zudem recht einfach. Interessierte können ohne einen Ausbildungs­abschluss als Hilfs­kraft einsteigen. Sie brauchen keine langjährigen Anerkennungs­verfahren. Auch für die einjährige Ausbildung in der Alten­pflege sind die Hürden niedrig. Wir empfehlen, dass Beschäftigte, die als Hilfs­kräfte zu arbeiten anfangen, zu einer Weiter­qualifizierung ermutigt werden.

Prof. Dr. Petra Bendel
© Nico Tavalai

Petra Bendel ist Professorin für Politische Wissenschaft, Leiterin des Forschungs­­bereichs Migration, Flucht und Integration an der Universität Erlangen-Nürnberg.

Im Jahr 2015 sind aufgrund des Bürgerkriegs in Syrien viele Menschen nach Deutschland gekommen, sodass die Forderungen nach vereinfachten Verfahren zur Anerkennung von Abschlüssen zugenommen haben. Ist das Verfahren denn für Mediziner*innen seitdem einfacher geworden?

Bendel: Das Qualifikations­anerkennungs­gesetz hat die Anerkennung mitgebrachter Berufe vor zehn Jahren erleichtert; aber die meisten Gesundheits­berufe sind reglementiert. Ärztinnen und Ärzte stehen daher vor der Heraus­forderung, dass ihre akademische Ausbildung anerkannt werden muss, und dieser Prozess kann sich sogar über mehrere Jahre hinziehen.

Personal im Krankenhaus
In der deutschen Gesundheits- und Pflegebranche dringend gebraucht – jeder vierte Mitarbeitende ist selbst zugewandert oder kommt aus einer Familie mit Zuwanderungs­geschichte. © stocksy

Der Anteil an Mediziner*innen mit Zuwanderungs­hinter­grund ist in den ostdeutschen Bundes­ländern mit 15 Prozent sehr hoch. Wie kam es zu dieser Entwicklung?

Bendel: Er ist im Vergleich hoch: Wir haben den prozentualen Anteil in Relation zu dem Ausländer*innen­anteil in der Bevölkerung gesetzt. Der Ausländer*innen­anteil ist in den ostdeutschen Bundes­ländern mit 4,7 Prozent sehr gering. Hinzu kommt, dass dort viele Grenz­gänger*innen arbeiten. So praktizieren beispiels­weise polnische Ärztinnen und Ärzte in Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen. Betrachten wir vergleichs­weise das west­deutsche Bundesland Baden-Württemberg mit einem hohen Ausländer*innen­anteil von 16,1 Prozent, sehen wir, dass dort nur 12,6 Prozent der berufstätigen Mediziner*innen eine Zuwanderungs­geschichte haben.

Systemrelevant: Migration als Stütze und Herausforderung für die Gesundheitsversorgung in Deutschland

Der Sachverständigen­rat für Integration und Migration (SVR) widmet sich in seinem Jahres­gutachten 2022 den Menschen, die in der Gesundheits- und Pflege­­branche arbeiten, und zugewandert sind oder aus einer Familie mit Zuwanderungs­­geschichte kommen. Es zeigt sich deutlich, dass besonders die Arbeits­­bedingungen und die soziale Integration dieser Menschen gestärkt werden müssen.

Die Anerkennungsverfahren sind bei akademischen Berufen besonders aufwendig, aber auch in der Pflege kann eine Anerkennung sehr langwierig sein. Welche Forderungen stellen Sie an Politik und Kommunen?

Bendel: Wir brauchen hier einen Effizienz- und Transparenz­schub bei den Verwaltungen und ein besseres Angebot bei den Nach­qualifizierungen. Die Bundes­länder sind für die Prüfung ausländischer Qualifikationen zuständig, und innerhalb der Länder gibt es noch einmal unter­schiedliche Stellen. Wir empfehlen eine Bündelung von Kompetenzen in einer Anerkennungs­stelle pro Land. Auch auf Bundes­ebene wäre die Einrichtung einer zentralen Stelle denkbar oder eine arbeits­teilige Organisation zwischen den zuständigen Behörden in den Ländern. Wenn ein Bundesland für ein bestimmtes Herkunftsland oder eine bestimmte Anerkennung zuständig wäre, könnte dies den Prozess für alle vereinfachen.

Personal im Krankenhaus
Nicht erst seit der Corona-Pandemie bekannt: In Krankenhäusern herrscht ein großer Mangel an Pfleger*innen. © stocksy

Ist die personelle Infrastruktur der Stellen dafür ausreichend?

Bendel: Die Anerkennungsstellen benötigen mehr Personal und sollten die digitalen Möglichkeiten besser ausschöpfen. Für eine nachhaltige Lösung ist schließlich zwischen allen an Zuwanderung beteiligten Stellen – von den Konsulaten im Ausland bis hin zur Bundes­agentur für Arbeit im Inland – mehr Kooperation essenziell.

Es braucht ein gutes Integrations­konzept, das auch das schon bestehende Team mit­einbezieht.

Petra Bendel

Im deutschen Gesundheitssystem ist Stress an der Tagesordnung, gute Kommunikation ist unerlässlich und teilweise lebens­wichtig für Patient*innen. Lang­fristig bleiben somit Fachkräfte aus dem Ausland nur erhalten, wenn sie auch gut integriert werden, vor allem sozial und mit fundierten Sprach­kenntnissen. Welche neuen Möglichkeiten sehen Sie bei der Integration von Fach­kräften im Gesundheits­sektor?

Bendel: Das ist ein sehr wichtiger Aspekt. Besonders die betriebliche Integration von zugewanderten Fachkräften ist kein Selbst­läufer. Die Angeworbenen müssen nicht nur administrative Barrieren überwinden. Sie müssen sich auch in neue Arbeits­abläufe und ein mitunter anderes Rollen­verständnis einfinden, das sich vom System in ihrem Herkunfts­land unter­scheidet. Sprachliche Anforderungen sind auch oft eine große Hürde. Es braucht also ein gutes Integrations­konzept, das auch das schon bestehende Team mit­einbezieht. So kann ein wert­schätzendes Arbeits­klima geschaffen werden. Darüber hinaus sollte die soziale Integration am neuen Wohnort gefördert werden. Hier können Mentoring- und Buddy-Programme helfen.

Personal in Reha
In Reha-Einrichtungen fehlt es ebenfalls an fachlich gut ausgebildetem Personal – auch weil ausländische Berufsabschlüsse nicht ausreichend anerkennt werden. © stocksy

Viele Interessierte kommen durch Agenturen nach Deutschland und begeben sich teil­weise in prekäre Arbeits­verhältnisse, vor allem im Bereich der Altenpflege. Ist das Gütesiegel „Faire Anwerbung Pflege Deutschland“ ein erster Schritt zu mehr Transparenz?

Bendel: Zertifizierungen und Gütesiegel, die Mindest­standards festlegen, können helfen, mehr Transparenz, Fairness und letzten Endes eine höhere Versorgungs­qualität zu gewährleisten. Zudem können sie für potenzielle Kund*innen aus Privat­haushalten eine Orientierung bieten, sodass Vermittlungs­agenturen ausgewählt werden, die die vorgeschriebenen Standards einhalten.

Im September starteten Sie das neue Forschungsprojekt „Gesundheit! Teilhabe im Gesundheits- und Pflegesektor“ gemeinsam mit dem Institut für Geographie der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU). Welche Ziele verfolgt Ihr neues Projekt?

Bendel: Im Fokus stehen Kommunen und Quartiere, die strukturell benachteiligt sind und Probleme bei der Personalgewinnung und beim Halten von Fachkräften haben. Im Rahmen des Projekts sollen bestehende Initiativen von Kommunen, Kliniken und Pflegeschulen analysiert werden, die die Bedingungen und die soziale Teilhabe fördern. Gemeinsam mit den Entscheidungs­träger*innen möchten wir anschließend neue Strategien entwickeln, die den Einstieg, die Weiter­entwicklung und die Teilhabe auch von gering qualifizierten Arbeit­nehmer*innen verbessern. Wir möchten zu einer Verbesserung der Arbeits­bedingungen in der ambulanten und stationären Pflege beitragen sowie die Integration und die Bleibe­orientierung der Gesundheits- und Pflege­kräfte stärken.

Mit welchen wissenschaftlichen Methoden werden Ihr Team und Sie arbeiten?

Bendel: Unser interdisziplinäres und mehr­sprachiges Team kommt aus den Bereichen der Politik­wissenschaft, Geografie und Gesundheits­forschung. Nach ersten Interviews mit Pflege­kräften, Betrieben und Kommunen werden wir weitere Regionen und Quartiere auswählen.

Um diese miteinander vergleichen zu können, orientieren wir uns an Regionen und Quartieren mit ähnlichen strukturellen Rahmen­bedingungen. Mithilfe von qualitativen Interviews und visuellen Tools aus der Geografie möchten wir die entsprechenden Bedarfe ermitteln und auf deren Grundlage maß­geschneiderte Handlungs­empfehlungen und -angebote entwickeln.


Sachverständigenrat für Integration und Migration (SVR)

Der Sachverständigenrat für Integration und Migration (SVR) ist ein unabhängiges, inter­disziplinär besetztes Gremium von Expert*innen, das die Politik handlungs­orientiert berät und der Öffentlichkeit sachliche Informationen zur Verfügung stellt.
www.svr-migration.de