Hunger als Waffe

Hunger als Waffe
Autor: Michael Werz 26.07.2022

Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine stürzt nicht nur Europa in eine Krise ungeahnten Ausmaßes – Russlands Invasion löste eine Schockwelle aus, die über den ganzen Planeten rollt. Ihre Folge ist für viele Menschen dramatisch: Sie müssen hungern. Michael Werz vom Center for American Progress erklärt in einem Gastbeitrag, wie Geopolitik, Klimawandel und Lebensmittelsicherheit zusammenhängen.

Wenn ein Thema die von Bundeskanzler Olaf Scholz proklamierte geopolitische Zeitenwende symbolisiert, dann ist es die Ernährungssicherheit. In keinem anderen politischen Feld steht der Begriff für so vielschichtige Umbrüche wie für die „Food Security“. Wer sich Gedanken um Prozesse der internationalen Neuordnung macht, kommt nicht umhin, sich diese ebenso beängstigende wie komplexe Krisendynamik zu vergegenwärtigen. Die Schockwellen im globalen Ernährungssystem, befördert durch Klimawandel und befeuert durch den Krieg in der Ukraine, sind eine Blaupause für künftige Konflikte: enorm komplex, mit transnationaler Reichweite und rasend schneller Ausbreitung.

Die russische Invasion der Ukraine ist ein Traditionsbruch in politischer wie militärischer Hinsicht. Sie wird Europa nachhaltig verändern – möglicherweise hin zu einer geeinten und wehrhaften Union – und Russland auf Generationen hinaus verarmen und isolieren. Es wird erhebliche Verwerfungen geben, die vor allem regionale Folgen zeitigen. Die unmittelbaren und mittelbaren Effekte auf Ernährungssicherheit in weit entfernten Weltregionen wurden jedoch vielerorts unterschätzt. Sie greifen weit und werden lange andauern.

Porträt von Michael Werz. Er ist Senior Fellow der Stiftung Mercator.
© Privat

Michael Werz ist Senior Fellow am Center for American Progress, einem Think Tank in Washington DC und leitet gemeinsam mit Nathalie Tocci das von der Stiftung Mercator geförderte Projekt Nexus25 – Shaping Multilateralism.

Putin stürzt 500 Millionen Menschen in den Hunger

Das World Food Programm (WFP) der Vereinten Nationen geht bereits jetzt von einem Anstieg der Zahl der weltweit Hungernden auf 500 Millionen Menschen aus. Lebensmittelpreise erleben den dramatischsten Anstieg seit der Rezession von 2007, der Kurs eines wichtigen Weizenterminkontrakts (d.h. ein Kaufvertrag in dem Preise für in der Zukunft liegende Geschäfte fixiert werden) stieg im März dieses Jahres um 70 Prozent. Seit Wladimir Putins Waffengang hat sich herumgesprochen, dass die Ukraine und Russland zu den weltweit größten Nahrungsmittelproduzenten gehören, sie tragen erheblich zu den weltweiten Agrarexporten bei: 29 Prozent des Weizens, 17 Prozent des Mais und 80 Prozent des Sonnenblumenöls. Mit ihrer „schwarzen Erde“, den besten Böden der Welt, wird die Ukraine nicht umsonst als der Brotkorb Europas bezeichnet. Die russische Blockade wichtiger Schwarzmeerhäfen verhindert Exporte und die unumgänglichen Sanktionen gegen Russland befeuern noch die Erhöhung der Rohstoffpreise.

Im wohlhabenden Europa sind steigende Nahrungsmittelpreise ein allgegenwärtiges, aber beherrschbares Thema, in anderen Weltgegenden sind die Folgen dagegen verheerend: Der Jemen, seit 2014 im Krieg, importiert fast seinen gesamten Weizenbedarf, ein Drittel kommt aus der Ukraine und Russland – Brot deckt dort die Hälfte des Kalorienbedarfs eines Durchschnittshaushaltes. Ähnliches gilt für Äthiopien, Syrien, Ägypten, die Türkei, Bangladesch, Indonesien, Eritrea, Kasachstan, die Mongolei, Armenien, Aserbaidschan, Georgien, den Libanon und Somalia. Schon wenige Wochen nach Kriegsbeginn gab es Straßenproteste gegen hohe Nahrungsmittelpreise im Südirak; die Regierung argumentiere (erfolglos), dass der Krieg in der Ukraine der Grund dafür sei. Die politischen Implikationen dieser Krisen sind offenkundig. Es ist wichtig sich zu erinnern: Schon 2009 und 2010 heizten hohe Weizenpreise die Rebellionen des Arabischen Frühlings an.

Auch Düngemittel werden knapp

Die globale Kettenreaktion setzt sich indes fort: Eine Reihe von Staaten begrenzten oder stoppten ihre Nahrungsmittelexporte; Serbien beendete etwa die Ausfuhr von Weizen, Mais, Mehl und Speiseöl. Indien, die Türkei, Indonesien und Argentinien ergriffen ähnliche Maßnahmen. Und es ist kein Ende in Sicht, im Gegenteil. Russland produziert rund 25 Prozent der weltweiten Rohstoffe für Düngemittel, deren Export der Kreml nun eingeschränkt hat. Knapp die Hälfte der Weltbevölkerung ist auf Nahrungsmittel angewiesen, die mithilfe von Düngemitteln produziert werden. Hinzu kommt, dass sich regionale Klimakrisen besonders in Südasien und Nordafrika verschärfen und der Preisanstieg bei Lebensmitteln die Bemühungen zur Bekämpfung des Hungers in konfliktreichen und fragilen Staaten von Afghanistan bis Haiti zusätzlich erschwert.

Wenn nur ein Zehntel der Menschen, die Russland in Hungersnot stürzte, nicht überlebt, entspricht das der Opferzahl des Zweiten Weltkrieges.

Tod als politisches Investitionskapital

Der Ukraine-Krieg mit all seinen Kollateralschäden tritt die internationale Gemeinschaft in einer Zeit bereits hoher Nahrungsmittelpreise. Die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) dokumentierte, dass schon im Jahr 2021 die Preise um 28 Prozent anstiegen und damit das höchste Niveau in einem Jahrzehnt erreichten. Hilfsorganisationen wie das WFP sind schon jetzt mit Missionen in Afghanistan, Jemen und Äthiopien überlastet. Zwar erwartet die FAO, dass kurzfristig große Anbauländer wie Australien, Argentinien, Indien und die USA einen Teil der Getreideausfälle ausgleichen können, doch der erwartbare Ernteausfall in der Ukraine und der Hunger als russische Kriegswaffe wird bestehende Probleme verschärfen.

Das politische Kalkül des Kremls ist einfach: Jede Erschütterung im internationalen System lenkt demokratische Staaten ab. Der öffentliche und ethische Druck, Hilfe zu leisten, bindet politische wie wirtschaftliche Ressourcen. In Wladimir Putins trauriger Welt sind Massentötungen politisches Investitionskapital – ob terroristische Kriegführung in der Ukraine oder das Verursachen existenzieller Hungersnöte von Nordafrika bis Südasien. Wenn nur ein Zehntel der Menschen, die Russland in Hungersnot stürzte, nicht überlebt, entspricht das der Opferzahl des Zweiten Weltkrieges.

Ein neuer Imperativ

Die Opfer in der Ukraine und die Hungernden in aller Welt nötigen multilateralen Organisationen und den wohlhabenden Ländern des Nordens einen neuen politischen Imperativ auf. Während die Ukrainer*innen um Überleben und Selbstbestimmung kämpfen, ist der von Russland verursachte Hunger Teil der asymmetrischen Kriegsführung – ein barbarisches Kampfmittel aus der Distanz. Es nimmt Menschen in Geiselhaft, die weit entfernt vom umkämpften Terrain leben und vergrößert die ohnehin enorme Reichweite dieses Regionalkonfliktes. Es gibt daher zwei Motive des Ukraine-Kriegs, die Universalien berühren:

Der unbegründete Angriff auf das Selbstbestimmungsrecht der Ukrainer*innen und der Kollateralschaden existenzieller Hungersnöte weltweit. Diese beiden Normenverletzungen erfordern zwei praktische Konsequenzen: Einerseits nehmen sie demokratische Staaten in die Pflicht zur Solidarität mit der Ukraine; aber sie erzwingen auch die Einsicht in neue Kriegsstrategien des Hungers – Russlands Waffengang zieht zugleich lokale und globale Verheerungen nach sich.

Ein Getreideterminal in der Region Odessa inmitten der russischen Invasion in der Ukraine. © Getty Images

Auch aus diesem Grund sind Beschwichtigung und Befriedungspolitik aus der Zeit des Kalten Krieges keine Optionen mehr. Denn der russische Angriff richtet sich nicht nur gegen die Ukraine, die europäischen Nachkriegsgrenzen, sondern auch gegen das internationale System des Warentausches und gegen viele hundert Millionen Menschen in ohnehin prekärer Lage. Die Ukraine-Invasion ist eine Lehrstunde neuer Geopolitik: Die Zeiten bipolarer Zweidimensionalität sind Vergangenheit, die neue Herausforderung lautet, das dreidimensionale Schachspiel internationaler Politik im 21. Jahrhundert spielen und gewinnen zu lernen. Die geopolitischen Hunger-Schockwellen sind die erste, brachiale Lehrstunde. Nur wenn aus den Erfahrungen der vergangenen Wochen und Monate schnell die richtigen institutionellen und politischen Konsequenzen gezogen werden, wird es gelingen, die ungeheuer komplexen regionalen und globalen Konsequenzen der Krise abzufedern und aufzufangen.

Eine Reihe von Schritten sind hier denkbar, um die Zeitenwende auch institutionell abzubilden: Zum einen könnten in den zentralen Ministerien für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) sowie Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) Arbeitsgruppen die internationalen Dimensionen von Ernährungssicherheit und den politischen Implikationen stärker beobachten und analysieren. Eine engere Koordination mit der Abteilung Krisenmanagement im Auswärtigen Amt liegt ebenfalls nahe, ein kontinuierlicher Abgleich der Arbeit wäre von großem Vorteil. Dies könnte etwa in Zusammenarbeit mit der Münchener Sicherheitskonferenz geschehen, die sich dieser neuen Themen in den vergangenen Jahren angenommen hat. Ebenso wichtig: eine enge transatlantische Zusammenarbeit mit gemeinsamen strategischen Zielen. Die USA und Deutschland gehören zu den größten Geberländern der FAO und des WFP, eine Kooperation im Bereich Ernährungssicherheit ist sinnvoll und würde überdies eine produktive Erweiterung der deutsch-amerikanischen Beziehungen darstellen.

Das 21. Jahrhundert als dreidimensionales Schachspiel

Globale Akteur*innen in Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft müssen das komplexe Zusammenspiel zwischen Ernährungssicherheit, Klimawandel, globaler Migration und Sicherheit im 21. Jahrhundert neu durchdenken. Die ersten Reaktionen lassen hoffen: Europa erscheint reanimiert, die NATO aus dem Halbschlaf erwacht, Menschen in vielen demokratischen Gesellschaften reagieren mehrheitlich mit Solidarität und Pragmatismus. Der Krieg hat blockierte Prozesse aufgebrochen, Europa erlebt Umbrüche im Zeitraffer – die wenigen vergangen Wochen revidierten jahrzehntealte Gewissheiten.

Durch den Ukraine-Krieg und dessen Folgen haben komplexe Krisenszenarien endlich angemessene Priorität auf der politischen Tagesordnung. In Zukunft wird es unmöglich sein, Ernährungssicherheit nicht als gleichwertiges Thema in den zentralen Zukunftsdebatten von Klimawandel, Migration und nationaler Sicherheit zu behandeln. Die Antworten auf diese Fragen entscheiden darüber, in welcher Welt kommende Generationen leben werden.


Nexus25 – Shaping Multilateralism

Das Projekt soll zu einem besseren Verständnis komplexer Krisen beitragen. Ziel sind Impulse für einen nachhaltigen Multilateralismus und die Erneuerung veralteter multilateraler Strukturen. Nexus25 – Shaping Multilateralism ist ein Projekt des italienischen Istituto Affari Internazionali (IAI) in Zusammenarbeit mit der United Nations Foundation, gefördert von der Stiftung Mercator.

http://www.nexus25.org

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