Mehr Frauen in MINT-Jobs

Mehr Frauen in MINT-Jobs
Autorin: Bettina Brakelmann Fotos: Friederike Schurig 28.02.2023

Die Erfinderin des Girls’Day, Barbara Schwarze, und die Chemikerin Frederike Carl kennen das: Karriere gegen Wider­stände machen. Beide sind beim Verein kompetenzz in Bielefeld aktiv und kämpfen für mehr Frauen im MINT- und IT-Sektor. Die zwei unter­schiedlichen Persönlichkeiten sind sich in einer Sache einig: Bei der Geschlechter­gerechtigkeit ist noch viel zu tun.

„Willst du nicht doch lieber Sängerin werden?“ Bei dieser Frage eines Vorgesetzten im Labor blieb Frederike Carl die Spucke weg. In diesem Moment beschloss die damalige Studentin und mittler­weile promovierte Chemikerin: Es muss sich etwas ändern. Auch Barbara Schwarze, die Erfinderin des Girls’Day, will etwas verändern. Beide Frauen arbeiten am Kompetenz­zentrum Technik-Diversity-Chancen­gleichheit (kompetenzz) in Bielefeld. In den weiten Räumlichkeiten von kompetenzz herrscht unaufgeregte Betriebsamkeit. Hier, im ersten Stock des denkmal­geschützten Back­stein­komplexes aus den 1930er-Jahren, Tür an Tür mit der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung NRW, arbeiten mehr als 80 Menschen tagtäglich daran, die Gesellschaft im Bereich IT gender­gerechter zu gestalten.

Vielfalt als Erfolgsprinzip in Wirtschaft und Gesellschaft

Nicht weniger als die Anerkennung von Vielfalt als Erfolgsprinzip in Wirtschaft, Gesellschaft und technologischer Entwicklung hat sich kompetenzz auf die Fahne geschrieben. Sollte das im Jahr 2023 nicht selbst­verständlich sein? Fakten wie ein Frauen­anteil von etwa 24 Prozent der Erst­studierenden in den Informatik­studien­gängen und 17 Prozent im IT-Sektor erzählen etwas anderes.

Mehr Sichtbarkeit durch Netzwerke

Eines der Gründungsmitglieder und vielfach geehrtes Aushängeschild von kompetenzz ist die Vorstands­vorsitzende Barbara Schwarze. Ihre jüngsten Auszeichnungen – das Bundes­verdienst­kreuz am Bande 2021 sowie die Klaus-Tschira-Medaille im Jahr 2022 – relativiert die Professorin umgehend: „Ja, eine schöne Anerkennung, über die ich mich sehr gefreut habe. Aber sie ist das Ergebnis von viel gemeinsamer Arbeit im Kompetenz­zentrum. Unsere Projekte wie der Girls’Day oder ,Frauen ans Netz‘ hätte ich nicht alleine stemmen können.“ Womit wir bei einer Kernkompetenz von Barbara Schwarze wären: Netzwerke schaffen und pflegen.

Netzwerkerin mit Erfahrung: Barbara Schwarze
Netzwerkerin mit Erfahrung: Barbara Schwarze © Friederike Schurig
MINT-Frau mit Ambitionen: Frederike Carl
MINT-Frau mit Ambitionen: Frederike Carl © Friederike Schurig

#SheTransformsIT – Netzwerk auf Erfolgskurs

Ein noch junges Produkt professioneller Netzwerk­arbeit ist die Initiative #SheTransformsIT, in der sich Vertreter*innen verschiedener Konzerne und Netzwerke zusammen­gefunden haben. In dieser 2020 gegründeten Allianz entstand ein wichtiges Positions­papier: ein 10-Punkte-Plan mit konkreten Forderungen, um mehr Frauen in gestaltende Positionen der Digitalisierung zu bringen. Barbara Schwarze steht als Erstunterzeichnerin ebenso wie Frederike Carl hinter diesen Forderungen, und gemeinsam unterstützen die beiden Frauen mit dem kompetenzz-Projekt #FrauWirktDigital die Arbeit von #SheTransformsIT.

Mehr weibliche Lehrkräfte für Informatik

Eine der dringlichsten Forderungen, um mehr Mädchen und Frauen in die Digitalisierung einzubinden: Informatik für alle Mädchen und Jungen, und zwar von klein auf. „Informatik muss Pflichtfach werden, am besten schon in der Grundschule. Das wäre ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu mehr Chancen­gleichheit. Natürlich müssten auch die Lehrkräfte entsprechend geschult und für Gender­stereotype sensibilisiert werden“, so Schwarze. Carl ergänzt: „Role Models sind in diesem Zusammenhang so wichtig! Wir brauchen unbedingt mehr weibliche Lehrkräfte für Informatik.“

Informatik muss Pflichtfach werden, am besten schon in der Grundschule.

Barbara Schwarze

Empowerment durch Mentoring-Programme

Dabei spricht die 34-Jährige durchaus aus eigener Erfahrung. Nach dem Abi entschied sie sich für ein Studium der Material­wissenschaften in Osnabrück. „Dort merkte ich schon bald, dass es in der Gleich­stellung von Frauen und Männern noch viel zu tun gibt. Während Frauen sich meist weniger zutrauten, preschten Männer direkt nach vorn. Auch im Labor habe ich beobachtet, dass sich die Frauen in der Regel eher zurückhielten. Das hat meinen Gerechtigkeits­sinn angetrieben, und schon damals habe ich versucht, andere Frauen zu motivieren und ihnen zu signalisieren: Hey, du schaffst das! Ich habe mich dann in der akademischen Selbst­verwaltung engagiert und versucht, Frauen zu stärken. Damals gab es an unserer Fakultät keine einzige Professorin, auf den Posten waren nur Männer.“

Barbara Schwarze (li.) hat gemeinsam mit der Initiative #SheTransformsIT das Projekt #FrauWirktDigital ins Leben gerufen, das vom Kompetenzzentrum Technik-Diversity-Chancengleichheit umgesetzt wird. Frederike Carl begleitet das Projekt als fachwissenschaftliche Referentin.
Barbara Schwarze (li.) hat gemeinsam mit der Initiative #SheTransformsIT das Projekt #FrauWirktDigital ins Leben gerufen, das vom Kompetenz­zentrum Technik-Diversity-Chancen­gleichheit umgesetzt wird. Frederike Carl begleitet das Projekt als fach­wissen­schaftliche Referentin. © Friederike Schurig

Ein Mentoring-Programm der Universität Osnabrück hat sie schließlich bestärkt, sich weiter für Gleich­stellungs­themen einzusetzen. „Es war toll, mit Frauen ins Gespräch zu kommen, die promoviert hatten. Wir haben uns regelmäßig zu Workshops und zum Austausch über Hindernisse und Heraus­forderungen getroffen.“ Gleich­zeitig wurde Frederike Carl bewusst, dass die männer­dominierte Chemie­branche und der akademische Betrieb keine Orte waren, an denen sie bleiben wollte. „Ich hatte stets das Gefühl, für Anerkennung kämpfen und doppelt so viel leisten zu müssen wie die Männer. Das fand ich extrem anstrengend. Grund dafür war letztendlich nicht nur der eine krasse Spruch mit der Sängerin, es war die Häufung von vielen kleinen Erlebnissen und Situationen“, erinnert sie sich. „Das hat mir immer wieder gezeigt, wie viel doch noch in der Gleich­stellung passieren muss. Es hat mich motiviert, mich weiter politisch für Geschlechter­gerechtigkeit im MINT-Bereich einzusetzen – und darum bin ich heute hier im Kompetenz­zentrum.“

Barbara Schwarze nickt zustimmend: „Ich habe viele junge Frauen erlebt, die am Anfang ihres Studiums zunächst kein Problem mit Benachteiligung hatten. Aber im späteren Verlauf sehen sie dann, dass die höheren Posten in der Regel an Männer vergeben oder dass sie zum Beispiel im Labor so behandelt werden, als wenn sie noch nie so etwas wie einen Motor gesehen hätten. Das führt in der Summe zu einer zunehmenden Verunsicherung der Frauen.“

Jahrzehntelange Projektarbeit

Schwarze hat Soziologie, Psychologie und Pädagogik an der Universität Bielefeld studiert. Sie fragte sich: Wieso sind eigentlich so wenig Frauen in der Technik? Sie suchte sich Gleichgesinnte, baute ein Netzwerk auf und stieß ein wissenschaftliches Projekt an: die Situation von Studentinnen der Ingenieur­wissenschaften in NRW. Seitdem hat Barbara Schwarze immer wieder Projekte im Themen­bereich Frauen und Technik entwickelt. Ein Highlight war sicherlich die Initiative „Frauen geben Technik neue Impulse“ in Zusammenarbeit mit dem Bundes­ministerium für Bildung und Forschung, der Bundes­agentur für Arbeit, der Telekom und der Zeitschrift „Brigitte“.

Bleibt die Frage: Was hat ihre jahrzehntelange Arbeit gebracht? Was hat sich geändert, was verbessert in den vergangenen 20, 30 Jahren? „Es hat sich eine Menge getan. Wir haben wirklich gute Forschungs­ergebnisse erzielt und daraus Projekte entwickelt. Aber da geht noch mehr! Am Girls’Day zum Beispiel kann man wunderbar sehen, dass wir zwar in einem Jahr 80.000 bis 100.000 Mädchen in Unternehmen bringen, das ist ein toller Erfolg. Aber schluss­endlich ist das ja nur ein kleiner Bruchteil der Schülerinnen“, bedauert Schwarze. Ein weiteres positives Beispiel seien Professorinnen- und Mentoring-Programme, die es mittlerweile an vielen Hochschulen gibt. „Wo Frauen vermehrt sichtbar werden, ziehen Frauen nach. Zu Informatikstudiengängen mit expliziten Anwendungs­bezügen im Titel – zum Beispiel der Medien- oder Bioinformatik – fällt Studien­interessentinnen der Zugang leichter. Unis, die damit oder auch mit Mentoring-Programmen werben, haben einen höheren Anteil von weiblichen Studierenden. An Hochschulen, die solche Signale senden, ist der Frauenanteil teils über zehn Prozent höher als bei anderen. Also muss noch mehr überlegt werden: Wie kann man junge Frauen für Informatikstudiengänge begeistern?“

Kein Kind darf abgehängt werden

Ein weiteres Problem treibt Barbara Schwarze nach wie vor um: „Was wir noch nicht geschafft haben, ist, Mädchen und junge Frauen aus benachteiligten Familien zu erreichen. Diese haben zu Hause oft gar kein ausreichendes digitales Equipment.“ Hier sieht Schwarze eine große Aufgabe für die Gesellschaft und die Politik, auch diese Mädchen in die Digitalisierung und IT-Ausbildungen einzubinden. „Es ist noch nicht ausreichend gelungen, Schülerinnen zu erreichen, die kein Abi machen wollen, aber in technischen Berufen gut aufgehoben wären. Nicht zuletzt deswegen sollte Informatik Pflicht­fach werden. Selbst für Kindergärten gibt es Angebote, wie Erzieher*innen den Kleinen spielerisch erste Ansätze vermitteln können. Erzieher*innen müssten natürlich dementsprechend ausgebildet werden. Kein Kind darf benachteiligt sein, weil seine Familie ihm die Voraus­setzungen nicht bieten kann!“


#FrauWirktDigital

Das Ziel der Metastudie #FrauWirktDigital ist es, die erfolg­reichsten Maßnahmen zur Erreichung von Geschlechter­gerechtigkeit im IT-Bereich zu identifizieren. Am Ende der Recherchen werden konkrete Handlungs­empfehlungen für Wirtschaft, Wissenschaft, Gesellschaft und Politik stehen.
www.kompetenzz.de/aktivitaeten/frauwirktdigital