Der Medikus der Zukunft

Der Medikus der Zukunft
Autorin: Jennifer Holleis Illustrationen: Sylwia Kubus 07.12.2021

Künstliche Intelligenz ist aus dem Gesundheits­wesen nicht mehr wegzudenken: Mit ihrer Hilfe lassen sich präventive Maßnahmen und die Therapie von Patient*innen verbessern. Das Hantieren mit großen, sensiblen Datenmengen birgt aber auch Sicherheits­risiken. In Brüssel arbeitet der Politologe Michele Calabrò daran, diese Risiken zu minimieren – damit das Wohl des Menschen im Mittelpunkt bleibt.

Manche Dinge entwickeln sich um ein Vielfaches schneller, als wir Menschen altern: „Gestern Abend habe ich einen Film aus dem Jahr 2010 gesehen, in dem ein Mobil­telefon vorkam, das ich auch mal hatte. Das Handy wirkte wie aus einer anderen Epoche“, erzählt Michele Calabrò und lacht auf. „Damals habe ich damit nur telefoniert und Nachrichten geschrieben. Heute organisiere ich, wie so viele andere Menschen, gefühlt mein ganzes Leben darüber. Dank Navigations­apps kenne ich den schnellsten Weg zur Arbeit, und mein Wecker sorgt auf Basis der aktuellen Verkehrs­lage dafür, dass ich recht­zeitig aufstehe und auf der Arbeit ankomme.“ Sein Arbeits­platz ist das Europäische Patienten­forum (EPF) in Brüssel, wo sich der 32-jährige Politologe für die Sicherheit von Patient*innen­daten einsetzt. Ähnlich wie bei den Apps auf dem Smartphone werden auch im Gesundheits­wesen Daten­mengen erfasst und miteinander verknüpft. Dahinter verstecken sich die Schlagworte „Big Data“ und „künstliche Intelligenz“ (KI) – und diese bringen im Gesundheits­wesen ein riesiges Potenzial mit sich. Den „Medikus der Zukunft“ nennt Calabrò diese Entwicklung scherzhaft.

Michele Calabro
Michele Calabrò ist Politologe und setzt sich für die Sicherheit von Patien*innendaten ein. Dafür arbeitet er bei der Europäische Patienten­forum (EPF) in Brüssel. © Iris Haidau

Dabei ist das Datensammeln von Patient*innen nicht neu: Schon in den frühesten Jahren der professionellen medizinischen Versorgung wurden Erfahrungen gesammelt und ausgetauscht. Inzwischen hat sich jedoch die Dimension geändert: Aus Aktenbergen mit Hunderten oder Tausenden Patient*innen wurden Daten­sätze mit Hundert­tausenden Patient*innen. „Wir brauchen Regulierungen, die Menschen beschützen. Das bedeutet, wir müssen den Austausch von gesundheitsrelevanten Daten so sicher machen, dass es auch für diejenigen gilt, die das Klein­gedruckte nicht verstehen“, erklärt Calabrò. Denn es ist davon aus­zu­gehen, dass nicht jeder Mensch das gleiche Verständnis für Daten­sicherheit erreichen wird. Wenn Daten öffentlich bekannt werden oder in falsche Hände geraten und missbraucht werden, kann das zu einem Albtraum werden: Diskriminierungen aus dem Umfeld, schlechtere Konditionen bei Krankenkassen, gezielt geschaltete Werbung. Die Folgen können von unabsehbarem Ausmaß sein. Daher ist es wichtig, sichere Lösungen zu schaffen, Gesundheits­daten zu speichern und zu verarbeiten.

Gleichzeitig ist es inzwischen praktisch unmöglich, die Medizin der Zukunft von gesammelten Daten abzukoppeln. Die Vorteile von Daten­beständen haben sich zuletzt in der Corona­pandemie gezeigt: Grenz­über­greifend konnten Mediziner*innen Daten aus ihrer Forschung austauschen und so zügig neue Impf­stoffe entwickeln. Über die Corona-App können Gesundheits­ämter – mal besser, mal schlechter – Kontakte in der Bevölkerung nachverfolgen, und Bürger*innen können ihr Impfzertifikat digital abspeichern. Die Möglichkeiten dieser Technologien schätzt auch Calabrò. „Ich finde es gut, wenn meine Daten mein Leben positiv beeinflussen“, sagt der gebürtige Italiener, der selbst auch die CovPass-App auf dem Handy hat.

Doch in den Annehmlichkeiten durch KI liegt auch die Krux der Sache: Eine schnelle Entwicklung von Therapien oder Impfstoffen verlangt große und gut organisierte Datenmengen. Mit anderen Worten: Es kursieren dabei zahlreiche sensible Daten von Patient*innen, und es muss transparent sein, wofür diese Daten benutzt werden – heute und in Zukunft. Mit diesem Dilemma beschäftigt sich Calabrò als politischer Berater einer der größten Patient*innen­organisationen in Europa, dem EPF. Die Dach­organisation vertritt die Interessen von rund 150 Millionen Patient*innen aus 77 Verbänden.

Chancen und Sicherheits­risiken abwägen

Schon heute lassen Forscher*innen enorme Datenmengen durch Computer­programme laufen, um seltene Erb­krankheiten, Tumore oder Krebs zu erkennen. Aber auch mit jedem Smartphone kann man sich beispiels­weise eine Hautkrebs-App herunter­laden, die Fotos von Haut­flecken und Mutter­malen mit Millionen anderer Bilder vergleicht und daraus eine Diagnose ableitet: Hautkrebs oder kein Hautkrebs. Oder man kann eine Diagnose-App wie „Ada“ herunterladen: Symptome eingeben, ein paar Fragen beantworten und eine Diagnose erhalten. Der Preis für diese beiden Dienst­leistungen? Kostenlos. Bis auf die Weiter­gabe der anonymisierten Daten. Bei sämtlichen Diagnose-Apps hängen die Qualität sowie das Daten-Handling stark vom Herausgeber ab.

Im Idealfall ziehen Patient*innen, Ärzt*innen und KI an einem Strang, sagt Michele Calabrò. Der Vorteil: bessere Versorgung auch in ländlichen Gebieten, etwa durch bundesweit buchbare Termine bei Ärzt*innen per Video-Anruf. Der Dreiklang aus Patient*innen, Ärzt*innen und KI wird vor allem auch die Prävention, Diagnose und Behandlung chronischer Krankheiten betreffen. „Es fängt oft schon bei der Ernährung und dem Lebens­stil an“, sagt Calabrò. „Eine medizinische App kann, sofern sie sicher und verifiziert ist, Menschen unter­stützen, nicht krank zu werden oder im Fall einer Krankheit besser mit den Ärzt*innen zu kommunizieren.“ Beispiels­weise können Informationen über Mahlzeiten in der App eingetragen und an die behandelnden Ärzt*innen gesendet werden, die wiederum auf Grundlage dieser spezifischen Daten und ihrer medizinischen Ausbildung die weitere Behandlung individuell und passgenau gestalten können.

Wenn wir keine Ärzt*innen oder Pflegepersonal haben, die auf neue Diagnosemöglichkeiten, Behandlungsmethoden oder Geräte geschult sind, helfen auch die besten Apps nichts

Michele Calabrò, Politologe

Ohne medizinische Weiterbildung kann auch KI nichts umwälzen

Der größte Treiber für KI-Innovationen ist die private Wirtschaft. Für die Unternehmen sind Patient*innen­daten die ungeschliffenen Diamanten der Zukunft. „Innovation muss die Bedürfnisse der Menschen als Priorität setzen, nicht den Profit“, sagt Calabrò. Heißt: Der Datenschutz und die Daten­sicherheit müssen bei neuen Entwicklungen Vorrang vor finanziellem Profit für Unternehmen haben.

Gleichzeitig müsse aber auch auf die Entwicklung der digitalen Kompetenzen des medizinischen Personals geachtet werden, so Calabrò. „Wenn wir keine Ärzt*innen oder Pflege­personal haben, die auf neue Diagnose­möglichkeiten, Behandlungs­methoden oder Geräte geschult sind, helfen auch die besten Apps nichts“, warnt er. Außerdem gebe es in vielen Ländern erst noch viel grund­legendere Probleme zu lösen, etwa zu wenig Kranken­haus­betten oder Fach­personal. „Das sind die ‚Heraus­forderungen 2.0‘, während wir an ein ‚Gesundheits­system 4.0‘ denken“.

Zukunftssicherer Ansatz: Der „Europäische Gesundheitsdatenraum“

„Wir setzen uns auf EU-Ebene für die Verabschiedung politischer Rahmen­bedingungen ein, zum Beispiel die Daten­schutz-Grund­verordnung, damit ein höchst­mögliches Maß an Sicherheit für Patient*innen geboten werden kann“, erklärt Calabrò. Ein zukunfts­trächtiger Weg ist aus seiner Sicht auch der „Europäische Gesundheits­daten­raum“ („European Health Data Space“), der gerade auf europäischer Ebene diskutiert wird. Damit ein solch umfassender Rahmen funktionieren kann, müssen jedoch noch mehr wichtige Akteurinnen und Akteure im Gesundheitswesen zusammen­arbeiten, sagt Calabrò. Dazu gehören Patient*innen, Mitarbeiter*innen in Gesundheits­berufen, die Industrie und die EU-Mitgliedstaaten. In einem zweiten Schritt können die primäre und die sekundäre Daten­nutzung, also das Erfassen von Daten und das Auswerten bestehender Daten, digitale Gesundheits­dienste und KI miteinander verwoben werden.

Zudem arbeitet Calabrò im Namen des EPF daran, die EU-Mitgliedstaaten davon zu überzeugen, Patient*innen­daten zu erfassen und für die neue Plattform freiwillig zur Verfügung zu stellen. Aus seiner Sicht darf das zwar nicht überstürzt passieren, aber auch nicht zu langsam. „Wer weiß, wann die nächste Pandemie kommt“, sagt er. Deshalb trägt er das erste Etappen­ziel für die neue Datenbank voll mit: In fünf Jahren soll ein Europäischer Gesundheits­daten­raum Realität sein und dazu beitragen, allen Europäer*innen durch Gesundheits­daten und digitale medizinische Angebote eine bessere Versorgung zu ermöglichen. Bis dahin gibt es aber noch viel zu tun.

European Artificial Intelligence Fund

Der European AI Fund engagiert sich für eine strukturelle Stärkung und Professionalisierung der europäischen Zivilgesellschaft. Ziel ist eine demokratische und gemein­wohl­orientierte Regulierung, Anwendung und Weiter­entwicklung von algorithmischen Systemen in Europa.
europeanaifund.org