Der Medikus der Zukunft
Künstliche Intelligenz ist aus dem Gesundheitswesen nicht mehr wegzudenken: Mit ihrer Hilfe lassen sich präventive Maßnahmen und die Therapie von Patient*innen verbessern. Das Hantieren mit großen, sensiblen Datenmengen birgt aber auch Sicherheitsrisiken. In Brüssel arbeitet der Politologe Michele Calabrò daran, diese Risiken zu minimieren – damit das Wohl des Menschen im Mittelpunkt bleibt.
Manche Dinge entwickeln sich um ein Vielfaches schneller, als wir Menschen altern: „Gestern Abend habe ich einen Film aus dem Jahr 2010 gesehen, in dem ein Mobiltelefon vorkam, das ich auch mal hatte. Das Handy wirkte wie aus einer anderen Epoche“, erzählt Michele Calabrò und lacht auf. „Damals habe ich damit nur telefoniert und Nachrichten geschrieben. Heute organisiere ich, wie so viele andere Menschen, gefühlt mein ganzes Leben darüber. Dank Navigationsapps kenne ich den schnellsten Weg zur Arbeit, und mein Wecker sorgt auf Basis der aktuellen Verkehrslage dafür, dass ich rechtzeitig aufstehe und auf der Arbeit ankomme.“ Sein Arbeitsplatz ist das Europäische Patientenforum (EPF) in Brüssel, wo sich der 32-jährige Politologe für die Sicherheit von Patient*innendaten einsetzt. Ähnlich wie bei den Apps auf dem Smartphone werden auch im Gesundheitswesen Datenmengen erfasst und miteinander verknüpft. Dahinter verstecken sich die Schlagworte „Big Data“ und „künstliche Intelligenz“ (KI) – und diese bringen im Gesundheitswesen ein riesiges Potenzial mit sich. Den „Medikus der Zukunft“ nennt Calabrò diese Entwicklung scherzhaft.
Dabei ist das Datensammeln von Patient*innen nicht neu: Schon in den frühesten Jahren der professionellen medizinischen Versorgung wurden Erfahrungen gesammelt und ausgetauscht. Inzwischen hat sich jedoch die Dimension geändert: Aus Aktenbergen mit Hunderten oder Tausenden Patient*innen wurden Datensätze mit Hunderttausenden Patient*innen. „Wir brauchen Regulierungen, die Menschen beschützen. Das bedeutet, wir müssen den Austausch von gesundheitsrelevanten Daten so sicher machen, dass es auch für diejenigen gilt, die das Kleingedruckte nicht verstehen“, erklärt Calabrò. Denn es ist davon auszugehen, dass nicht jeder Mensch das gleiche Verständnis für Datensicherheit erreichen wird. Wenn Daten öffentlich bekannt werden oder in falsche Hände geraten und missbraucht werden, kann das zu einem Albtraum werden: Diskriminierungen aus dem Umfeld, schlechtere Konditionen bei Krankenkassen, gezielt geschaltete Werbung. Die Folgen können von unabsehbarem Ausmaß sein. Daher ist es wichtig, sichere Lösungen zu schaffen, Gesundheitsdaten zu speichern und zu verarbeiten.
Gleichzeitig ist es inzwischen praktisch unmöglich, die Medizin der Zukunft von gesammelten Daten abzukoppeln. Die Vorteile von Datenbeständen haben sich zuletzt in der Coronapandemie gezeigt: Grenzübergreifend konnten Mediziner*innen Daten aus ihrer Forschung austauschen und so zügig neue Impfstoffe entwickeln. Über die Corona-App können Gesundheitsämter – mal besser, mal schlechter – Kontakte in der Bevölkerung nachverfolgen, und Bürger*innen können ihr Impfzertifikat digital abspeichern. Die Möglichkeiten dieser Technologien schätzt auch Calabrò. „Ich finde es gut, wenn meine Daten mein Leben positiv beeinflussen“, sagt der gebürtige Italiener, der selbst auch die CovPass-App auf dem Handy hat.
Doch in den Annehmlichkeiten durch KI liegt auch die Krux der Sache: Eine schnelle Entwicklung von Therapien oder Impfstoffen verlangt große und gut organisierte Datenmengen. Mit anderen Worten: Es kursieren dabei zahlreiche sensible Daten von Patient*innen, und es muss transparent sein, wofür diese Daten benutzt werden – heute und in Zukunft. Mit diesem Dilemma beschäftigt sich Calabrò als politischer Berater einer der größten Patient*innenorganisationen in Europa, dem EPF. Die Dachorganisation vertritt die Interessen von rund 150 Millionen Patient*innen aus 77 Verbänden.
Chancen und Sicherheitsrisiken abwägen
Schon heute lassen Forscher*innen enorme Datenmengen durch Computerprogramme laufen, um seltene Erbkrankheiten, Tumore oder Krebs zu erkennen. Aber auch mit jedem Smartphone kann man sich beispielsweise eine Hautkrebs-App herunterladen, die Fotos von Hautflecken und Muttermalen mit Millionen anderer Bilder vergleicht und daraus eine Diagnose ableitet: Hautkrebs oder kein Hautkrebs. Oder man kann eine Diagnose-App wie „Ada“ herunterladen: Symptome eingeben, ein paar Fragen beantworten und eine Diagnose erhalten. Der Preis für diese beiden Dienstleistungen? Kostenlos. Bis auf die Weitergabe der anonymisierten Daten. Bei sämtlichen Diagnose-Apps hängen die Qualität sowie das Daten-Handling stark vom Herausgeber ab.
Im Idealfall ziehen Patient*innen, Ärzt*innen und KI an einem Strang, sagt Michele Calabrò. Der Vorteil: bessere Versorgung auch in ländlichen Gebieten, etwa durch bundesweit buchbare Termine bei Ärzt*innen per Video-Anruf. Der Dreiklang aus Patient*innen, Ärzt*innen und KI wird vor allem auch die Prävention, Diagnose und Behandlung chronischer Krankheiten betreffen. „Es fängt oft schon bei der Ernährung und dem Lebensstil an“, sagt Calabrò. „Eine medizinische App kann, sofern sie sicher und verifiziert ist, Menschen unterstützen, nicht krank zu werden oder im Fall einer Krankheit besser mit den Ärzt*innen zu kommunizieren.“ Beispielsweise können Informationen über Mahlzeiten in der App eingetragen und an die behandelnden Ärzt*innen gesendet werden, die wiederum auf Grundlage dieser spezifischen Daten und ihrer medizinischen Ausbildung die weitere Behandlung individuell und passgenau gestalten können.
Wenn wir keine Ärzt*innen oder Pflegepersonal haben, die auf neue Diagnosemöglichkeiten, Behandlungsmethoden oder Geräte geschult sind, helfen auch die besten Apps nichts
Ohne medizinische Weiterbildung kann auch KI nichts umwälzen
Der größte Treiber für KI-Innovationen ist die private Wirtschaft. Für die Unternehmen sind Patient*innendaten die ungeschliffenen Diamanten der Zukunft. „Innovation muss die Bedürfnisse der Menschen als Priorität setzen, nicht den Profit“, sagt Calabrò. Heißt: Der Datenschutz und die Datensicherheit müssen bei neuen Entwicklungen Vorrang vor finanziellem Profit für Unternehmen haben.
Gleichzeitig müsse aber auch auf die Entwicklung der digitalen Kompetenzen des medizinischen Personals geachtet werden, so Calabrò. „Wenn wir keine Ärzt*innen oder Pflegepersonal haben, die auf neue Diagnosemöglichkeiten, Behandlungsmethoden oder Geräte geschult sind, helfen auch die besten Apps nichts“, warnt er. Außerdem gebe es in vielen Ländern erst noch viel grundlegendere Probleme zu lösen, etwa zu wenig Krankenhausbetten oder Fachpersonal. „Das sind die ‚Herausforderungen 2.0‘, während wir an ein ‚Gesundheitssystem 4.0‘ denken“.
Zukunftssicherer Ansatz: Der „Europäische Gesundheitsdatenraum“
„Wir setzen uns auf EU-Ebene für die Verabschiedung politischer Rahmenbedingungen ein, zum Beispiel die Datenschutz-Grundverordnung, damit ein höchstmögliches Maß an Sicherheit für Patient*innen geboten werden kann“, erklärt Calabrò. Ein zukunftsträchtiger Weg ist aus seiner Sicht auch der „Europäische Gesundheitsdatenraum“ („European Health Data Space“), der gerade auf europäischer Ebene diskutiert wird. Damit ein solch umfassender Rahmen funktionieren kann, müssen jedoch noch mehr wichtige Akteurinnen und Akteure im Gesundheitswesen zusammenarbeiten, sagt Calabrò. Dazu gehören Patient*innen, Mitarbeiter*innen in Gesundheitsberufen, die Industrie und die EU-Mitgliedstaaten. In einem zweiten Schritt können die primäre und die sekundäre Datennutzung, also das Erfassen von Daten und das Auswerten bestehender Daten, digitale Gesundheitsdienste und KI miteinander verwoben werden.
Zudem arbeitet Calabrò im Namen des EPF daran, die EU-Mitgliedstaaten davon zu überzeugen, Patient*innendaten zu erfassen und für die neue Plattform freiwillig zur Verfügung zu stellen. Aus seiner Sicht darf das zwar nicht überstürzt passieren, aber auch nicht zu langsam. „Wer weiß, wann die nächste Pandemie kommt“, sagt er. Deshalb trägt er das erste Etappenziel für die neue Datenbank voll mit: In fünf Jahren soll ein Europäischer Gesundheitsdatenraum Realität sein und dazu beitragen, allen Europäer*innen durch Gesundheitsdaten und digitale medizinische Angebote eine bessere Versorgung zu ermöglichen. Bis dahin gibt es aber noch viel zu tun.
European Artificial Intelligence Fund
Der European AI Fund engagiert sich für eine strukturelle Stärkung und Professionalisierung der europäischen Zivilgesellschaft. Ziel ist eine demokratische und gemeinwohlorientierte Regulierung, Anwendung und Weiterentwicklung von algorithmischen Systemen in Europa.
europeanaifund.org