Mehr Aufmerksamkeit für persönliche Angriffe als für inhaltliche Debatten
Rückschau auf den Bundestagswahlkampf 2021: Große Wahlkampfauftritte waren wegen der Pandemie gestrichen. Die Debatte verlagerte sich ins Digitale. In einem mehrmonatigen Projekt hat die Nichtregierungsorganisation Democracy Reporting International (DRI) mit dem „Tagesspiegel“ den Online-Wahlkampf untersucht: Wie verändern soziale Medien Kommunikation und Diskurs?
Vier Millionen Posts auf den vier großen Plattformen Youtube, Facebook, Instagram und Twitter hat das Team über vier Monate lang analysiert und in Echtzeit online für alle jederzeit abrufbar und sichtbar aufbereitet. Im Doppelinterview berichten Datenanalystin Lena-Maria Böswald (DRI) und Hendrik Lehmann, Projektleiter Innovation Lab des „Tagesspiegel“, von ihren Erkenntnissen.
Online-Wahlkämpfe werden in der Regel nicht systematisch und umfassend analysiert. Was war für Sie das Spannende an diesem Projekt?
Hendrik Lehmann: So ein Wahlkampf ist der Höhepunkt der Demokratie. Der US-Wahlkampf 2016, aber vor allem auch das Brexit-Votum haben gezeigt, wie viel da manipuliert werden kann. Es war für uns eines der journalistischen Hauptziele, zu schauen, ob es in Deutschland auch in diese Richtung geht.
Welche Rollen spielen die vier großen Plattformen für die Parteien? Oder andersherum gefragt: Wo vermuten die Parteien ihre größte Zielgruppe?
Lena-Maria Böswald: 2017 haben die sozialen Medien erstmals eine große Rolle in einem Bundestagswahlkampf gespielt, damals hatte sich die AfD einen enormen Wettbewerbsvorteil verschafft. Wir konnten zeigen, dass 2021 alle Parteien deutlich präsenter in den sozialen Medien waren. Auf Facebook war die AfD immer noch weit vorn, und sie hatte auch eine starke Community auf Youtube. Die Grünen waren stark auf Twitter präsent, sie haben auch versucht, sich auf Instagram zu etablieren, ebenso wie die CDU und die FDP. Die Partei, die gleichmäßig auf allen Plattformen unterwegs war, war anhand der Analysen die SPD.
Sie haben ja nicht nur das Dashboard online veröffentlicht und immer wieder aktualisiert, sondern aus den Daten auch Themen generiert. Was war für Ihre Berichterstattung wichtig?
Lehmann: Dass Facebook vor allem in Bezug auf das User*innen-Engagement so krass von der AfD dominiert wird, fanden wir spannend. Die rechte Partei hat es wirklich geschafft, eine Community aufzubauen, die fleißig Kommentare hinterlässt und die Posts teilt. Die anderen Parteien haben anscheinend keine so aktive Community aufgebaut. Man muss sich fragen, ob sie Social Media teilweise verschlafen haben. Auch auffällig war ein großes Übergewicht an rechten Kommentaren auf Youtube, die die anderen Kandidierenden strukturiert diskriminierten.
Welche*r Politiker*in wurde besonders diffamiert?
Böswald: Bei Annalena Baerbock konnten wir koordinierte Aktivitäten feststellen, bestimmte negative Inhalte zu verbreiten, darunter auch toxische, frauenfeindliche Narrative und falsche Informationen. Laut unserer Analyse stammte ein Großteil der gegen Baerbock gerichteten negativen Inhalte und Kommentare aus der rechten Szene. Diese plattformübergreifende, geschlechterspezifische Verleumdung war bei den anderen weiblichen Kandidatinnen nur teilweise der Fall. Alice Weidel hat sogar eine stark unterstützende Community auf Youtube. Die AfD ist auf Youtube stark präsent, somit sind positive Kommentare über Weidel nicht verwunderlich, das war aber nicht auf allen Plattformen der Fall. Aber auch Armin Laschet als männlicher Kandidat war teilweise sehr aggressiven Posts ausgesetzt.
Sie haben Hass und Hetze im Netz methodisch untersucht. Konnten Sie systematische Desinformationskampagnen feststellen?
Böswald: Wir konnten keine systematische und weitverbreitete Desinformationskampagne ausmachen, die über kleine Netzwerke hinausging. Es gab zwar Gruppen mit identischem Administrator, die auch dieselben Inhalte zur selben Zeit teilten. Aber das lässt nicht automatisch auf Bots schließen. Die Hauptthemenfelder waren Corona und der Klimawandel, da haben wir viele wiederholte Halbwahrheiten festgestellt. Insgesamt lässt sich sagen: In der Hauptsache funktionierten emotionsgeladene und polarisierende Themen. Persönlichen Angriffen wurde mehr Aufmerksamkeit geschenkt als inhaltlichen.
Emojis spielen im Netz eine Rolle: Die AfD und Armin Laschet verwendeten am häufigsten die Deutschlandfahne, Annalena Baerbock benutzte das grüne Herz, Olaf Scholz und Christian Lindner setzten beide auf den Muskel-Bizeps sowie die Rakete. Damit ist alles gesagt?
Lehmann: Die Emoji-Analyse war ursprünglich eher als Gag gedacht. Trotzdem waren die Ergebnisse letztlich sehr interessant. Denn man konnte daran ablesen, wie aggressiv der Wahlkampf betrieben wurde. Es gab absolut überdurchschnittlich viele negative Reaktionen der Menschen, die sich auf sozialen Netzwerken beteiligten. Bei den Posts Dritter „über die Kandidierenden“ überwogen das hämische Humor-Emoji, der lachende Kackhaufen, das Kotz-Emoji und der Clown. Viel tiefer kann das Niveau am Stammtisch auch nicht absinken.
Was hat Sie noch überrascht?
Böswald: Es hatte sich vorab zwar schon abgezeichnet, dass es viele Angriffe auf weibliche Kandidatinnen geben wird, allein aufgrund ihrer Geschlechtsidentität. Es ist leider alles andere als ungewöhnlich, dass Frauen stark von toxischen Inhalten im Netz betroffen sind. Aber in Daten und Zahlen zu sehen, wie negativ der Diskurs vonstattengeht und dass so viele Hasskommentare online dominieren, damit habe ich nicht gerechnet.
Lehmann: Dass inzwischen ein ganzer Schwarm rechter User*innen anscheinend koordinierte Angriffe fährt, war für mich auch neu. Aber um auch mal was Positives zu vermelden: In den regionalen Analysen der einzelnen Wahlkreise haben wir gesehen, dass es sich je nach Wahlkreis stark unterschied, welche Partei am meisten postete. So soll Demokratie ja sein, auch lokal pluralistisch. Erstaunlich war auch, wie groß die Masse an Inhalten der Kleinstparteien war. Sie machten zeitweise fast 50 Prozent der Inhalte aus.
Wird Social-Media-Monitoring die Wahlkampfberichterstattung der Zukunft sein?
Lehmann: Solche Analysen wären noch stärker, wenn man sie dauerhaft betreiben könnte. Die Kombination von datengetriebenem Journalismus und einer Organisation, die sich transparent und mit weiteren Methoden für die Demokratie einsetzt, ist eine vielversprechende Kooperation. Auch die zwei Geschwindigkeiten der Berichterstattung sind produktiv: erstens die Kommunikation in Echtzeit und zweitens die noch technischere Analyse für Policy Experts. Wir hatten viel positives Feedback: Aus Wahlkampfzentralen hörten wir, dass unsere Analysen genutzt wurden, aber auch von anderen Medien und sehr vielen User*innen. Im Nachklapp wurden wir von einem Schulbuchverlag angesprochen, der die Ergebnisse für den Unterricht zur politischen Bildung einsetzen wollte.
Wie fällt Ihr Fazit aus? Haben soziale Medien die Macht, einen Wahlkampf zu drehen?
Lehmann: Viele Menschen wünschen sich eine einfache Erklärung dafür, dass die Stimmung in vielen digitalen Räumen immer aggressiver wird. Ich möchte davon abraten, mechanistische Schlussfolgerungen zu ziehen, als ob das Digitale das Analoge von oben oder unten beeinflussen würde. Der englische Humanist Nigel Thrift hat oft von zusätzlichen digitalen Schichten gesprochen, die mit unserem physischen Alltag verwoben sind. Aber da wird nichts übergestülpt, es ist eins. Hinter jedem Post sitzt meist ein Mensch.
Böswald: In unserem Verhältniswahlrecht ist das Ergebnis allein durch Social-Media-Kampagnen schwer so zu beeinflussen wie in den Mehrheitswahlsystemen von Großbritannien oder den USA. Trotzdem haben soziale Medien viel Einfluss. Das hat auch der #laschetlacht-Hashtagtrend gezeigt. Die Macht der sozialen Medien besteht eher darin, die Art und Weise, wie wir miteinander kommunizieren, zu bestimmen. Wenn wir viel mit Hassreden konfrontiert sind, mit toxischen Narrativen, dann kann das natürlich auch den Diskurs untergraben, dass man sich vielleicht nicht mehr zu Wort melden möchte. Habe ich als weibliche Userin noch Lust, mich im Netz zu äußern, wenn ich sehe, wie die weibliche Kandidatin diskreditiert wird? Ich glaube, es ist die größte Gefahr, dass das Digitale die Diskursdynamik ändert.
Social-Media-Monitoring im Kontext der Bundestagswahl 2021
Wahlen sind angewiesen auf den Zugang zu verlässlichen und vielfältigen Informationen. Democracy Reporting International (DRI) hat dafür gemeinsam mit dem „Tagesspiegel“ eine Echtzeitanalyse des Social-Media-Wahlkampfs zur Bundestagswahl 2021 entwickelt. Mithilfe automatischer Datenabfragen beobachteten und analysierten sie den Online-Wahlkampf.
interaktiv.tagesspiegel.de/lab/social-media-dashboard-bundestagswahl-2021/