Acht Millionen Euro für die Zukunft der EU
Es ist das Europäische Jahr der Jugend, ausgerufen von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Ihre Motivation: Die Jugend habe so lange in der Pandemie zurückstecken müssen, sie solle nun mehr Gehör finden. Was bedeutet das? Wie viel Geld nimmt die Politik in die Hand? Welche Akzente setzt sie? Ein Gespräch aus zwei Perspektiven – mit Arijel Kurtagić, der jungen Präsidentin des European Youth Parliament in Bosnien-Herzegowina, und Janis Fifka, Vorstandsmitglied des European Youth Parliament.
Warum gibt es ein Jugendparlament? Welche Rolle spielen Sie in der EU-Politik?
Janis Fifka: Das European Youth Parliament ist ein gemeinnütziges Netzwerk von Jugendorganisationen in rund 40 Ländern. Wir sind unabhängig und organisieren Aktivitäten, um Jugendliche in den Austausch zu bringen, sie aufzuklären und sie zu befähigen, sich politisch einzubringen. Wir arbeiten mit mehr als 30.000 jungen Menschen im Jahr, deshalb bekommen wir einen guten Überblick über die für sie relevanten Themen und ihre Bedürfnisse. Wobei wir uns bewusst sind, dass auch wir nur einen Ausschnitt dieser Altersgruppe erreichen.
Ursula von der Leyen rief 2022 als Europäisches Jahr der Jugend aus. Das sagte sie in einer Rede im September 2021. Die Ankündigung kam ziemlich unerwartet. Wie stehen Sie dazu?
Arijel Kurtagić: Als ich das gehört habe, habe ich gedacht: Wow, der Jugend ist ein Jahr gewidmet, und im Fokus sollen ja auch inklusive Themen und Jugendliche mit Behinderungen stehen, was mir viel bedeutet. Aber andererseits weiß ich nicht, ob es nur so dahingesagt war. Ich möchte verhindern, dass es nur eine symbolische Geste bleibt. Politiker*innen sollten sich da reinhängen, jeden Tag und nicht nur diese zwölf Monate lang. Sie müssen zeigen, was sie genau für uns tun. Das ist die Frage, um die sie nie herumkommen dürfen.
Europäische Jahre gibt es schon lange. Die Mottos der vergangenen Jahre reichten von Schienenverkehr und Kulturerbe bis hin zu aktivem Altern und Chancengleichheit, Kreativität und Innovation. Wie lässt sich die Jugend in diese Themenvielfalt einordnen?
Fifka: Europäische Jahre sind Kampagnen, bei denen es vor allem um Bewusstseinsbildung geht. Man möchte für ein Thema sensibilisieren, das vielleicht durch die Maschen fällt oder etwas ist, das die Menschen nicht so sehr im Kopf haben. Doch viel wichtiger als die Themen ist der Inhalt: Wie gestaltet die Kommission so ein Jahr? Welche Aktivitäten sind damit verbunden? Technisch gesehen ist sie frei, zu tun, was sie möchte. Sie hat als einzige EU-Institution das Recht, neue Gesetze zu initiieren, oder kann zusätzliche finanzielle Mittel vorschlagen.
Arijel Kurtagić, 22, studiert an der International Burch University in Bihać in Bosnien-Herzegowina. Die Präsidentin des European Youth Parliament in Bosnien und Herzegowina beschreibt sich als Jugendbetreuerin und als Aktivistin für Menschenrechte und Inklusion. Als Jugendratgeberin des britischen Botschafters in Bosnien-Herzegowina war sie, wie sie betont, eine „wichtige Stimme für Menschen mit Behinderungen“. Sie ist für die globale UN-Jugendversammlung in New York, USA, nominiert.
Wie viel Geld gibt die EU für so ein Jahresthema aus?
Fifka: Das Budget beträgt wie in den vergangenen Jahren acht Millionen Euro. Die Mittel können auf Druck des Europäischen Parlaments diesmal auch noch nach Ablauf des Jugendjahres zugewiesen werden – das ist eine gute Idee. Aber der Betrag ist natürlich verschwindend gering. Zum Vergleich: 2012 hat die Kommission die Jugendgarantie zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit eingeführt und mit sechs Milliarden Euro budgetiert. Und selbst diese größere Summe musste sie mehrmals aufstocken. Auch da gab es wie so häufig in der EU strukturelle Probleme, denn die Mitgliedsstaaten müssen ihre eigenen Mittel hinzufügen und zudem ihre Maßnahmen selbst durchführen. Was die Politik inhaltlich aus so einem Jahr macht, kann also von warmen Worten bis zu konkreten Taten reichen. Letzteres ist nicht das, was wir bisher sehen.
Uns treibt neben der ökonomischen Situation auch die Frage nach unserer mentalen Gesundheit am Arbeitsplatz um.
Arijel, Sie können sicher nicht für alle 47 Millionen Jugendliche sprechen, die in der EU leben. Aber können Sie skizzieren, was Sie umtreibt?
Kurtagić: Ich möchte drei zentrale Themen nennen, die die meisten Jugendlichen in Europa sicher nachvollziehen können. Zum einen kommen wir langsam aus einer tränenreichen Pandemie heraus und fragen uns, wie der Übergang in die Arbeitswelt gelingen kann. Alle über 20-Jährigen sind sehr besorgt über das, was in Sachen Arbeit auf uns wartet. Hinzu kommt die instabile geopolitische Lage. Uns treibt neben der ökonomischen Situation auch die Frage nach unserer mentalen Gesundheit am Arbeitsplatz um. Gehen wir alle wieder ins Büro? Bleibt das Homeoffice als Möglichkeit bestehen? Und drittens und nicht zuletzt machen wir uns große Gedanken um das Klima. Die Erde stand noch nie so kurz vor dem Punkt, an dem es kein Zurück mehr gibt in puncto Klimawandel.
Janis Fifka, 28, lebt in Berlin, arbeitet als Redakteur und ist freiberuflich in der politischen Bildung tätig. Seit seiner Schulzeit engagiert er sich auf verschiedene Weise – mit besonderem Herzblut für die europäische Idee. Er wurde 2020 in den internationalen Vorstand des European Youth Parliament gewählt, als ein Mitglied von insgesamt sechs in der Führungsebene. Er sieht sich in dieser Funktion nicht als Politiker. Im Interview tritt er als Experte auf.
Welche Forderungen an Politiker*innen haben Sie in Bezug auf das Europäische Jahr der Jugend? Was muss sich verbessern?
Kurtagić: Die Hilfen in der Pandemie oder die Berichterstattung während der Pandemie, in der wir bemitleidet wurden, das ist bloßes Geplänkel. Ich möchte Taten sehen: Was wird gegen die Jugendarbeitslosigkeit unternommen? Wir brauchen Arbeitsplätze, die für die Jugend geeignet sind. Wir brauchen ein Verbot unbezahlter Praktika. Wir müssen verhindern, dass junge Fachkräfte auswandern oder ausgebeutet werden. Wir brauchen Initiativen, die sich um unsere psychische Gesundheit kümmern. Und ganz unbedingt sollen uns junge Menschen vertreten und nicht irgendwelche 40-Jährigen, die so tun, als ob sie wüssten, was junge Menschen benötigen. Wir wollen in politische Entscheidungen einbezogen werden. Die Konferenz über die Zukunft Europas war ein großer Schritt nach vorn. Solche Initiativen braucht es mehr. Doch die EU weiß noch nicht mal, wie sie Jugend definieren will. Manchmal schließt sie die 15- bis 22-Jährigen ein, manchmal geht die Altersgrenze bis 30. Dazwischen liegen aber Welten!
Fifka: Es gibt eine zentrale Plattform der EU, die alle Aktivitäten auflistet. Jede*r kann auf die Website gehen und ihre oder seine Aktivität hinzufügen, was eine nette Idee ist. Es ist eine Karte, auf der viel passiert. Alle haben das Gefühl, Teil eines großen Ganzen zu sein. Aber die Plattform beziehungsweise die Website lässt völlig im Unklaren, welche Aktivitäten schon zuvor existierten und nur unter dem Etikett des Jugendjahres in eine neue Schublade gepackt wurden. Ursula von der Leyen wurde im September zum Beispiel genau für die Umetikettierung kritisiert, als sie bei ihrer Rede zur Lage der EU über ein neues Jugendmobilitätsprogramm namens ALMA (Aim, Learn, Master, Achieve – Anvisieren, Lernen, Meistern, Ankomen) sprach, wobei Programme für junge Menschen ohne Beschäftigung oder Ausbildung bereits existieren. Es ist eigentlich mehr Budget erforderlich, ein verbindlicheres Engagement der Mitgliedsstaaten und eine strengere Kommission statt neuer Labels.
Ein Fokus dieses europäischen Jugendjahres richtet sich auf Menschen mit Behinderung. Was ist hier geplant, Janis?
Fifka: Schwer zu sagen. Auch da müssen wir unterscheiden: Was macht die EU? Was machen die Mitgliedsstaaten? Was machen Nichtregierungsorganisationen und speziell die Jugendorganisationen? Was ist benachteiligten jungen Menschen gewidmet? Was ist nur ein Informationsangebot über EU-Möglichkeiten, wird es regional angegangen und so weiter? Ohne tiefere Recherche kann ich nicht sagen, ob substanzielle Vorschläge kommen werden. ALMA etwa soll zwar auch junge Menschen mit Behinderung ansprechen. Jedoch vermute ich, dass es dabei bleibt und nichts Neues hinzukommt. Aber vielleicht habe ich etwas übersehen?
Kurtagić: Wenn Janis als Experte keine politischen Initiativen für die Randgruppen kennt, dann spricht das schon Bände, und wir sind im Jahr der Jugend mal wieder marginalisiert.
Wie stellt sich die Realität für Sie dar, Arijel? Sie leiden unter Zerebralparese, die Bewegungsstörungen und Muskelsteife mit sich bringt, und sind auf einen Rollstuhl angewiesen …
Kurtagić: Ich muss Sie korrigieren: Ich leide nicht daran, ich habe Cerebral Palsy. Es ist keine Krankheit, sondern eine lebenslange Geschichte. Was mich viel mehr als alles andere stört, was meine Krankheit mir auferlegen kann, sind die sozialen Einschränkungen und Vorurteile anderer Leute über meine Fähigkeiten, die ich jeden Tag erleben muss. Das habe ich so noch nie geäußert, aber es wird mir immer bewusster: Behinderte Frauen und behinderte Männer stehen vor völlig unterschiedlichen Herausforderungen, wenn es um ihre persönliche Verwirklichung geht. Behinderte Frauen haben es viel schwerer. Es ist wie bei den traditionellen Rollenmodellen, nur dass von uns nicht erwartet wird, dass wir eine Familie gründen, dass wir erfolgreich sind. Wenn bosnische Medien über mich berichten, heißt es: „Trotz ihrer Behinderung hat sie so großen Erfolg“. Jemand Kluges hat mal gesagt, die Welt behindere einen mehr als die Behinderung selbst – und das ist wirklich wahr.
Fifka: Das Problem ist, dass Menschen wie Arijel zu Recht ganz andere Erwartungen an so ein Jahr der Jugend hatten und sich darauf Antworten wünschen, aber der Rahmen und auch die Finanzierung können dem von vorneherein nicht gerecht werden.
Kurtagić: Brauchen wir tatsächlich ein besonderes Jahr, um uns zu präsentieren? Das kommt mir ein bisschen wie Marketing vor. Menschen mit Behinderungen führen ständig einen unwürdigen Kampf, und das ist jetzt bloß eine weitere Initiative, die sich auf dem Papier gut liest, aber in der Praxis eher nervt.
Fifka: Marketing ist auch wichtig, um auf Themen überhaupt aufmerksam zu machen. Doch danach muss einfach noch mehr kommen. So ein Jahr der Jugend muss mit Maßnahmen einhergehen, die nicht nur Jugendliche ansprechen, sondern muss auch die institutionelle Seite, die nationalen Regierungen, alle anderen Menschen umfassen – denn für die Jugend geht es insbesondere um die Teilung der Macht.
Kurtagić: Absolut. Genau das ist der Punkt.
Fifka: Das Europäische Jugendforum als Dachverband der Jugendorganisationen in Europa hatte zur Konferenz über die Zukunft Europas das Projekt „The 25 Percent“ ins Leben gerufen. Es sollte, das ist die Idee, entsprechend dem Bevölkerungsanteil eine 25-prozentige Repräsentation geben – ein Viertel des Kuchens sollte jungen Menschen vorbehalten sein. So ein Mitspracherecht wäre in der Tat etwas ganz was Neues. Strukturelle Unterstützung für Jugendorganisationen, Begegnung auf Augenhöhe bei Themensetzung und -ausgestaltung oder ein Jugendcheck für EU-Gesetze wären dazu notwendig.
European Youth Parliament
Das European Youth Parliament ist ein Programm von Jugendlichen für Jugendliche, ermöglicht durch das intensive Engagement junger Ehrenamtlicher in ganz Europa. So führen die Mitgliedsorganisationen des EYP mehr als 500 Veranstaltungen pro Jahr durch – auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene.