Die Fairhandlerin

Die Fairhandlerin
Autorin: Carola Hoffmeister Fotos: Reinaldo Coddou 11.01.2022

Wie lässt sich Kleidung so produzieren, dass die Näher*innen in den Fabriken besser behandelt werden? Diese Frage treibt Andrea Schill, Beraterin für unternehmerische Sorg­falts­pflichten und Arbeits­bedingungen, an. Sie setzt sich dafür ein, dass der Handel mit Mode fairer wird. AufRuhr verrät sie außerdem Tipps, wie wir alle etwas dazu beitragen können.

Eine klare Stimme, der man die Herkunft aus Freiburg nicht anhört, halblange Haare und stylishe Klamotten in gedeckten Farben: Andrea Schill wirkt aufgeräumt und strukturiert – und damit, auf den ersten Blick, nicht wie eine, die dem Zufall in ihrem Leben allzu viel Platz einräumt. Und dennoch: „Wenn man mich während des Abiturs gefragt hätte, was ich auf keinen Fall hätte studieren wollen, hätte ich ,Politik!‘ geantwortet. Aber genau das habe ich schließlich gemacht“, sagt sie und lacht. „Denn ich hatte zu Beginn meines ‚European Studies‘-Studiums in Passau eine Freundin zu einer Politik-Ein­führungs­veranstaltung begleitet – einfach weil ich in dem Moment Zeit hatte. Und ich fand den Vortrag so inspirierend, dass ich dachte, ich wechsle meinen Studien­schwer­punkt und mache mit Politik anstatt mit Kunst­geschichte weiter.“

Der nächste wichtige Zufall in ihrem Leben hing mit einem Praktikum bei der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin zusammen, um das Andrea Schill sich eher spontan beworben hatte. Sie landete im Asien-Referat der Organisation und kam mit dem Textil­sektor in Berührung. Und damit mit einem Ereignis, an das sie sich noch sehr gut erinnern konnte. Denn ein Jahr zuvor war der acht­stöckige Fabrik­komplex Rana Plaza in Bangladesch zusammen­gekracht. Mehr als 1.100 Menschen starben, über 2.400 wurden schwer verletzt. Es war der wohl schwerste Unfall in der Geschichte der inter­nationalen Mode­industrie, und besonders unerträglich machte ihn, dass von den Verantwortlichen lange ignorierte Risse im Gemäuer schuld an dem Unglück waren.

„Das hat mich wirklich sehr berührt“, erinnert sich Andrea Schill. „Zumal ich jemand bin, der gerne Kleidung kauft und damals sogar im Verkauf der Modekette Esprit gejobbt hatte. Zu hören, unter welchen Bedingungen Mode hergestellt wird, hat mich richtig geschockt. Nach diesem Ereignis stand für mich fest, dass ich mich weiter mit der Frage beschäftigen möchte, wie man dafür sorgen kann, dass die Mode­welt fairer wird.“

Andrea Schill
Andrea Schill kommt aus Freiburg, hat in Passau studiert und ist inzwischen in Berlin zu Hause. Für ihre Arbeit reist sie aber gerne und viel. © Reinaldo Coddou

Wie wird die Mode­welt fairer?

Andrea Schill hatte nach dem Praktikum bei der Friedrich-Ebert-Stiftung noch ein Jahr bis zu ihrem Abschluss vor sich. Und damit zu wenig Zeit, um Praktika in den Produktions­ländern zu absolvieren, wie es für eine Karriere als Beraterin für unternehmerische Sorgfalts­pflichten und Arbeits­bedingungen in der inter­nationalen Mode­branche oder der Entwicklungs­zusammen­arbeit nötig gewesen wäre.

Deshalb suchte sie nach anderen Wegen und bewarb sich ein Jahr nach ihrem Berufs­einstieg auf eine Förderung des Mercator Kollegs. Auf diesem Weg wollte sie heraus­finden, wie sich die Arbeits­bedingungen im Textil- und Bekleidungs­sektor lang­fristig verbessern lassen. „Kündigungs­schutz, Mindestlohn, Sicherheit am Arbeits­platz und bezahlter Urlaub – was brauchen die Menschen vor Ort, und mit welchen Akteur*innen in der Branche lässt sich das umsetzen? Darum ging es mir. Mein Projekt ‚Ansätze zur Verbesserung von Arbeits­bedingungen im Textil- und Bekleidungs­sektor‘ war dann letztlich der Schlüssel für alle weiteren Türen auf meinem Weg.“

Andrea Schill
Andrea Schill hat während des Studiums Praktika bei der FES in Berlin und der Deutschen Botschaft in London absolviert. Danach war ihr klar, dass sie sich als Beraterin für unternehmerische Sorgfaltspflichten und Arbeitsbedingungen engagieren möchte. © Reinaldo Coddou

Andrea Schill flog zunächst nach Myanmar, dann nach Kambodscha. In Kambodscha besuchte sie mehrere Fabriken an der Seite von Fabrik-Auditor*innen der Inter­national Labour Organisation (ILO), die unangekündigt über­prüfen sollen, ob die Betriebe die lokalen Arbeits­gesetze, aber auch inter­nationale Anforderungen an gute Arbeits­bedingungen einhielten, ob sie etwa über aus­reichend unverschlossene Not­ausgänge verfügten. „In manchen Fabriken fiel es mir wirklich schwer, die Auditor*innen der ILO zu begleiten“, erzählt sie. „Denn die Hallen mit den Nähmaschinen waren kein Ort, an dem man sich gern aufhält. Es war dunkel, stickig, und überall wuselten Arbeiter*innen herum. Sie müssen teils 14 Stunden auf zu kleinen Holzhockern sitzen und nähen immer wieder die gleiche Naht. Und das für einen Lohn, der kaum zum Leben reicht. Zu sehen, dass die Menschen unter solchen schrecklichen Bedingungen arbeiten müssen, hat mich belastet – und beschäftigt mich noch immer stark. Vor allem, wenn man weiß, dass es durch herum­fliegende Stoffreste in Verbindung mit Funken häufig zu Fabrik­bränden kommt. Die Menschen sind also einer ständigen Gefahr ausgesetzt.“

Andrea Schill
2021 hat Schill 18 Kleidungsstücke gekauft. Davon 30 % Second Hand und 10 % von Marken, die etwas weniger nachhaltig sind. © Reinaldo Coddou

„Besser“ ist noch immer „nicht gut“

In Myanmar, einem Land, das im Westen vor allem für seine Königs­städte und goldenen Pagoden­wälder bekannt ist, war Andrea Schill über­wiegend in Vorzeige­fabriken unterwegs, die eng mit den auftrag­gebenden Mode­marken zusammen­arbeiten. Hier sah es zwar vergleichs­weise gut aus, trotzdem war es laut und anstrengend. Schill begleitete verschiedene Trainings, in denen die Näher*innen von lokalen Gewerk­schafter*innen zu ihren Arbeits­rechten in den Fabriken aufgeklärt wurden oder den Dialog über Miss­stände mit dem Management übten. Ganz besonders in Erinnerung blieb ihr die Informations­veranstaltung an einem Wochenende, die vor allem Gewerk­schafter*innen an ihrem einzigen freien Tag in der Woche organisiert hatten, um anderen Arbeiter*innen klar­zu­machen, dass es sich lohnt, für die eigenen Rechte im Job zu kämpfen. „Ich habe mich immer gefragt, ob ich mich eben­falls so einsetzen würde, wenn ich so wenig Freizeit hätte – und, ganz ehrlich: Ich weiß es nicht. Anderer­seits sind die Arbeits­bedingungen teil­weise so schlimm, dass es den Einsatz der Gewerkschafter*innen erfordert, damit sich länger­fristig etwas ändert.“

Bis sich tatsächlich etwas ändert, dauert es. Viel Geduld ist vonnöten, auch davon erzählt Andrea Schill. Wie schafft sie es, mit diesem Gefühl von Ungerechtigkeit umzugehen, das wohl jeden überkommt, der an die schicken Boutiquen in Hamburg, London und Paris mit ihrem Über­angebot an schnell­lebiger Fashion denkt – und gleich­zeitig an die ausgebeuteten Menschen in Dhaka, Yangon oder Delhi, die kaum genug Geld verdienen, um ihre Kinder zu ernähren.

Andrea Schill wählt ihre Worte mit Bedacht und Sorgfalt, da ist sie ganz Wissenschaftlerin, die um die Komplexität der Dinge weiß. „Ich entscheide danach, dass man niemanden behandeln sollte, wie man nicht selbst behandelt werden möchte“, sagt sie. „Und obwohl die meisten dieser Prämisse wohl zustimmen würden, gibt es noch immer viele Widerstände von Regierungen oder auch Modemarken gegen bessere Arbeits­bedingungen in Textil­fabriken auf der ganzen Welt. Das ist schon etwas, was mich umtreibt. Ein bisschen hilft vielleicht, zu sehen, dass es viele Menschen gibt, die etwas bewegen möchten. Und dass viele auch bereit sind, etwas mehr Geld für nach­haltige Kleidung aus­zu­geben.“

Kaffeetasse
Pausen und Me-Time sind besonders in Zeiten der Pandemie wichtig. © Reinaldo Coddou
In hübschen Berliner Cafés geht das ganz gut. Um dann mit neuem Schwung weiterzumachen. © Reinaldo Coddou

Jede*r kann etwas tun

Direkt nach dem Praktikum bei der Friedrich-Ebert-Stiftung begann Andrea Schill, ihren eigenen Mode­konsum zu über­denken. Zunächst schrieb sie dafür in einem Selbst­versuch auf, wie viele Blusen, Pullover und Jeans sie in einem Jahr gekauft hatte. „Denn im Durch­schnitt legt sich jede*r Deutsche ungefähr 60 Kleidungs­stücke im Jahr zu – und ich wollte wissen, wo ich stehe“, sagt sie und zieht Bilanz: „Die Hälfte meines Kleider­schranks besteht inzwischen aus Second­hand­mode, für die ich in entsprechenden Ländern gern vor Ort einkaufe oder online auf der Plattform „Vinted.de“. Der Rest stammt von nachhaltigen Labels. Und dann gibt es immer mal wieder Teile, bei denen ich zwar stundenlang nach einer fairen Alternative suche und trotzdem nichts finde. Im Moment stehen ein schwarzer Blazer für den Job und eine Sporthose auf meiner Liste. Wenn ich wirklich mal etwas kaufe, das weniger nach­haltig produziert ist, ist das eine echte Ausnahme.“

Im Durch­schnitt legt sich jede*r Deutsche ungefähr 60 Kleidungs­stücke im Jahr zu.

Und was sagt sie Freund*innen und Bekannten, die wissen möchten, wie sie am besten mit gutem Gewissen shoppen? Andrea Schill lacht. „Das ist wirklich eine Frage, die mir oft gestellt wird“, sagt sie. „Und zum Glück hab ich eine gute Antwort: Da ist zum einen die ,Good On You‘-App, die verschiedene Modemarken im Hinblick auf Umwelt- und Arbeits­schutz­bedingungen bewertet. Außerdem kann man sich auf Seiten wie dem ,Avocado­store‘ umschauen, der letztlich wie ,Zalando‘ aufgebaut ist.“ Auch ihr Vater, ein Schreiner, achtet bei seiner Arbeits­kleidung mittler­weile auf Menschen­rechte und Umwelt. „Er war letztens ganz stolz, als er mir ein T-Shirt von einer Marke zeigen konnte, das das Logo der ,Fair Wear Foundation‘ trägt. Und ich war deshalb stolz auf ihn!“ Andrea Schill lächelt. Die Fair Wear Foundation ist eine unabhängige Stiftung mit Sitz in Amsterdam, die sich für verbesserte Arbeits­bedingungen in Textilfabriken einsetzt und die Unternehmen in Europa auf die Umsetzung ihrer Sorgfalts­pflichten in der Liefer­kette prüft.

Andrea Schill
Andrea Schill freut sich auf das Jahr 2022 und die vielen spannenden Herausforderungen, die ihr Job mit sich bringt. © Reinaldo Coddou

„Grüne Beratung“ für Unternehmen

Andrea Schill hat sich nicht nur in Asien als Beraterin für unternehmerische Sorg­falts­pflichten und Arbeits­bedingungen weiter­gebildet, sondern auch in Paris. Dort war sie, ebenfalls als Fellow der Stiftung Mercator, bei dem Modelabel Sézane, das bekannt ist für seinen Mix aus klassischen und romantischen Stücken. „Ich saß in einem Büro mit Leuten von der Qualitäts­sicherung und der Corporate Social Responsibility – es ging darum, mit­zu­erleben, wie ein Betrieb wirtschaftliches Handeln und Design mit Nachhaltigkeit verknüpft. Manchmal konnte ich bei der Arbeit aber auch neue Modelle Probe tragen“, schwärmt sie. „Viele Designer*innen denken natürlich erst mal nicht so viel darüber nach, welches Material welche Auswirkungen auf die Umwelt hat. Ich habe dann immer gesagt: ‚Du steckst so viel Liebe in deinen Entwurf. Dann willst du doch nicht, dass das Kleidungs­stück im letzten Schritt unter schlechten Bedingungen hergestellt wird oder die Umwelt kaputtmacht.‘“

Seit bald zwei Jahren arbeitet Andrea Schill für die Deutsche Gesellschaft für Inter­nationale Zusammen­arbeit (GIZ), konkret ist sie für die Weiter­entwicklung des „Grünen Knopfs“ zuständig, ein staatliches Textil­siegel des Bundes­ministeriums für wirtschaftliche Zusammen­arbeit und Entwicklung. Hier hat sie etwa ein Schulungs­programm für die Auditor*innen entwickelt, die die Umsetzung der unternehmerischen Sorgfalts­pflichten des „Grünen Knopfs“ bei europäischen Unternehmen prüfen.

Andrea Schill blickt auf die Uhr. Es ist ein frischer Morgen im Spätherbst, um 10 Uhr beginnt ihr Arbeitstag im Berliner Homeoffice – mit jeder Menge „Zoom“-Meetings und Telefonaten. Das macht ihr Spaß.

„Aber längerfristig würde ich gerne wieder in Produktions­ländern in Asien arbeiten – oder auf inter­nationaler Ebene an Rahmen­bedingungen zur effektiven Umsetzung von Sorgfalts­pflichten in Unternehmen“, verrät sie. „Neben den Unternehmen sind für mich Gewerkschaften, zusammen im sozialen Dialog mit den Arbeitgeber*innen vor Ort, der größte Hebel, um die Branche voran­zu­bringen. Aber egal, wo ich in Zukunft auch tätig sein werde: Wichtig ist für mich das Gefühl, etwas bewegen zu können. Denn ohne diese Energie, die ich daraus und aus der Zusammen­arbeit mit anderen engagierten Menschen ziehe, könnte ich auch die zwangs­läufigen Rückschläge und teils absurden Darstellungen von Unternehmen, wie sie ihren Sorgfalts­pflichten nachkommen, gar nicht gut aushalten.“

Mercator Kolleg für internationale Aufgaben

Das „Mercator Kolleg für inter­nationale Aufgaben“ fördert jährlich 25 engagierte deutsch­sprachige Hoch­schul­absolvent*innen und junge Berufs­tätige aller Fach­richtungen, die für unsere Welt von morgen Verantwortung über­nehmen.
www.mercator-kolleg.de