Die Fairhandlerin
Wie lässt sich Kleidung so produzieren, dass die Näher*innen in den Fabriken besser behandelt werden? Diese Frage treibt Andrea Schill, Beraterin für unternehmerische Sorgfaltspflichten und Arbeitsbedingungen, an. Sie setzt sich dafür ein, dass der Handel mit Mode fairer wird. AufRuhr verrät sie außerdem Tipps, wie wir alle etwas dazu beitragen können.
Eine klare Stimme, der man die Herkunft aus Freiburg nicht anhört, halblange Haare und stylishe Klamotten in gedeckten Farben: Andrea Schill wirkt aufgeräumt und strukturiert – und damit, auf den ersten Blick, nicht wie eine, die dem Zufall in ihrem Leben allzu viel Platz einräumt. Und dennoch: „Wenn man mich während des Abiturs gefragt hätte, was ich auf keinen Fall hätte studieren wollen, hätte ich ,Politik!‘ geantwortet. Aber genau das habe ich schließlich gemacht“, sagt sie und lacht. „Denn ich hatte zu Beginn meines ‚European Studies‘-Studiums in Passau eine Freundin zu einer Politik-Einführungsveranstaltung begleitet – einfach weil ich in dem Moment Zeit hatte. Und ich fand den Vortrag so inspirierend, dass ich dachte, ich wechsle meinen Studienschwerpunkt und mache mit Politik anstatt mit Kunstgeschichte weiter.“
Der nächste wichtige Zufall in ihrem Leben hing mit einem Praktikum bei der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin zusammen, um das Andrea Schill sich eher spontan beworben hatte. Sie landete im Asien-Referat der Organisation und kam mit dem Textilsektor in Berührung. Und damit mit einem Ereignis, an das sie sich noch sehr gut erinnern konnte. Denn ein Jahr zuvor war der achtstöckige Fabrikkomplex Rana Plaza in Bangladesch zusammengekracht. Mehr als 1.100 Menschen starben, über 2.400 wurden schwer verletzt. Es war der wohl schwerste Unfall in der Geschichte der internationalen Modeindustrie, und besonders unerträglich machte ihn, dass von den Verantwortlichen lange ignorierte Risse im Gemäuer schuld an dem Unglück waren.
„Das hat mich wirklich sehr berührt“, erinnert sich Andrea Schill. „Zumal ich jemand bin, der gerne Kleidung kauft und damals sogar im Verkauf der Modekette Esprit gejobbt hatte. Zu hören, unter welchen Bedingungen Mode hergestellt wird, hat mich richtig geschockt. Nach diesem Ereignis stand für mich fest, dass ich mich weiter mit der Frage beschäftigen möchte, wie man dafür sorgen kann, dass die Modewelt fairer wird.“
Wie wird die Modewelt fairer?
Andrea Schill hatte nach dem Praktikum bei der Friedrich-Ebert-Stiftung noch ein Jahr bis zu ihrem Abschluss vor sich. Und damit zu wenig Zeit, um Praktika in den Produktionsländern zu absolvieren, wie es für eine Karriere als Beraterin für unternehmerische Sorgfaltspflichten und Arbeitsbedingungen in der internationalen Modebranche oder der Entwicklungszusammenarbeit nötig gewesen wäre.
Deshalb suchte sie nach anderen Wegen und bewarb sich ein Jahr nach ihrem Berufseinstieg auf eine Förderung des Mercator Kollegs. Auf diesem Weg wollte sie herausfinden, wie sich die Arbeitsbedingungen im Textil- und Bekleidungssektor langfristig verbessern lassen. „Kündigungsschutz, Mindestlohn, Sicherheit am Arbeitsplatz und bezahlter Urlaub – was brauchen die Menschen vor Ort, und mit welchen Akteur*innen in der Branche lässt sich das umsetzen? Darum ging es mir. Mein Projekt ‚Ansätze zur Verbesserung von Arbeitsbedingungen im Textil- und Bekleidungssektor‘ war dann letztlich der Schlüssel für alle weiteren Türen auf meinem Weg.“
Andrea Schill flog zunächst nach Myanmar, dann nach Kambodscha. In Kambodscha besuchte sie mehrere Fabriken an der Seite von Fabrik-Auditor*innen der International Labour Organisation (ILO), die unangekündigt überprüfen sollen, ob die Betriebe die lokalen Arbeitsgesetze, aber auch internationale Anforderungen an gute Arbeitsbedingungen einhielten, ob sie etwa über ausreichend unverschlossene Notausgänge verfügten. „In manchen Fabriken fiel es mir wirklich schwer, die Auditor*innen der ILO zu begleiten“, erzählt sie. „Denn die Hallen mit den Nähmaschinen waren kein Ort, an dem man sich gern aufhält. Es war dunkel, stickig, und überall wuselten Arbeiter*innen herum. Sie müssen teils 14 Stunden auf zu kleinen Holzhockern sitzen und nähen immer wieder die gleiche Naht. Und das für einen Lohn, der kaum zum Leben reicht. Zu sehen, dass die Menschen unter solchen schrecklichen Bedingungen arbeiten müssen, hat mich belastet – und beschäftigt mich noch immer stark. Vor allem, wenn man weiß, dass es durch herumfliegende Stoffreste in Verbindung mit Funken häufig zu Fabrikbränden kommt. Die Menschen sind also einer ständigen Gefahr ausgesetzt.“
„Besser“ ist noch immer „nicht gut“
In Myanmar, einem Land, das im Westen vor allem für seine Königsstädte und goldenen Pagodenwälder bekannt ist, war Andrea Schill überwiegend in Vorzeigefabriken unterwegs, die eng mit den auftraggebenden Modemarken zusammenarbeiten. Hier sah es zwar vergleichsweise gut aus, trotzdem war es laut und anstrengend. Schill begleitete verschiedene Trainings, in denen die Näher*innen von lokalen Gewerkschafter*innen zu ihren Arbeitsrechten in den Fabriken aufgeklärt wurden oder den Dialog über Missstände mit dem Management übten. Ganz besonders in Erinnerung blieb ihr die Informationsveranstaltung an einem Wochenende, die vor allem Gewerkschafter*innen an ihrem einzigen freien Tag in der Woche organisiert hatten, um anderen Arbeiter*innen klarzumachen, dass es sich lohnt, für die eigenen Rechte im Job zu kämpfen. „Ich habe mich immer gefragt, ob ich mich ebenfalls so einsetzen würde, wenn ich so wenig Freizeit hätte – und, ganz ehrlich: Ich weiß es nicht. Andererseits sind die Arbeitsbedingungen teilweise so schlimm, dass es den Einsatz der Gewerkschafter*innen erfordert, damit sich längerfristig etwas ändert.“
Bis sich tatsächlich etwas ändert, dauert es. Viel Geduld ist vonnöten, auch davon erzählt Andrea Schill. Wie schafft sie es, mit diesem Gefühl von Ungerechtigkeit umzugehen, das wohl jeden überkommt, der an die schicken Boutiquen in Hamburg, London und Paris mit ihrem Überangebot an schnelllebiger Fashion denkt – und gleichzeitig an die ausgebeuteten Menschen in Dhaka, Yangon oder Delhi, die kaum genug Geld verdienen, um ihre Kinder zu ernähren.
Andrea Schill wählt ihre Worte mit Bedacht und Sorgfalt, da ist sie ganz Wissenschaftlerin, die um die Komplexität der Dinge weiß. „Ich entscheide danach, dass man niemanden behandeln sollte, wie man nicht selbst behandelt werden möchte“, sagt sie. „Und obwohl die meisten dieser Prämisse wohl zustimmen würden, gibt es noch immer viele Widerstände von Regierungen oder auch Modemarken gegen bessere Arbeitsbedingungen in Textilfabriken auf der ganzen Welt. Das ist schon etwas, was mich umtreibt. Ein bisschen hilft vielleicht, zu sehen, dass es viele Menschen gibt, die etwas bewegen möchten. Und dass viele auch bereit sind, etwas mehr Geld für nachhaltige Kleidung auszugeben.“
Jede*r kann etwas tun
Direkt nach dem Praktikum bei der Friedrich-Ebert-Stiftung begann Andrea Schill, ihren eigenen Modekonsum zu überdenken. Zunächst schrieb sie dafür in einem Selbstversuch auf, wie viele Blusen, Pullover und Jeans sie in einem Jahr gekauft hatte. „Denn im Durchschnitt legt sich jede*r Deutsche ungefähr 60 Kleidungsstücke im Jahr zu – und ich wollte wissen, wo ich stehe“, sagt sie und zieht Bilanz: „Die Hälfte meines Kleiderschranks besteht inzwischen aus Secondhandmode, für die ich in entsprechenden Ländern gern vor Ort einkaufe oder online auf der Plattform „Vinted.de“. Der Rest stammt von nachhaltigen Labels. Und dann gibt es immer mal wieder Teile, bei denen ich zwar stundenlang nach einer fairen Alternative suche und trotzdem nichts finde. Im Moment stehen ein schwarzer Blazer für den Job und eine Sporthose auf meiner Liste. Wenn ich wirklich mal etwas kaufe, das weniger nachhaltig produziert ist, ist das eine echte Ausnahme.“
Im Durchschnitt legt sich jede*r Deutsche ungefähr 60 Kleidungsstücke im Jahr zu.
Und was sagt sie Freund*innen und Bekannten, die wissen möchten, wie sie am besten mit gutem Gewissen shoppen? Andrea Schill lacht. „Das ist wirklich eine Frage, die mir oft gestellt wird“, sagt sie. „Und zum Glück hab ich eine gute Antwort: Da ist zum einen die ,Good On You‘-App, die verschiedene Modemarken im Hinblick auf Umwelt- und Arbeitsschutzbedingungen bewertet. Außerdem kann man sich auf Seiten wie dem ,Avocadostore‘ umschauen, der letztlich wie ,Zalando‘ aufgebaut ist.“ Auch ihr Vater, ein Schreiner, achtet bei seiner Arbeitskleidung mittlerweile auf Menschenrechte und Umwelt. „Er war letztens ganz stolz, als er mir ein T-Shirt von einer Marke zeigen konnte, das das Logo der ,Fair Wear Foundation‘ trägt. Und ich war deshalb stolz auf ihn!“ Andrea Schill lächelt. Die Fair Wear Foundation ist eine unabhängige Stiftung mit Sitz in Amsterdam, die sich für verbesserte Arbeitsbedingungen in Textilfabriken einsetzt und die Unternehmen in Europa auf die Umsetzung ihrer Sorgfaltspflichten in der Lieferkette prüft.
„Grüne Beratung“ für Unternehmen
Andrea Schill hat sich nicht nur in Asien als Beraterin für unternehmerische Sorgfaltspflichten und Arbeitsbedingungen weitergebildet, sondern auch in Paris. Dort war sie, ebenfalls als Fellow der Stiftung Mercator, bei dem Modelabel Sézane, das bekannt ist für seinen Mix aus klassischen und romantischen Stücken. „Ich saß in einem Büro mit Leuten von der Qualitätssicherung und der Corporate Social Responsibility – es ging darum, mitzuerleben, wie ein Betrieb wirtschaftliches Handeln und Design mit Nachhaltigkeit verknüpft. Manchmal konnte ich bei der Arbeit aber auch neue Modelle Probe tragen“, schwärmt sie. „Viele Designer*innen denken natürlich erst mal nicht so viel darüber nach, welches Material welche Auswirkungen auf die Umwelt hat. Ich habe dann immer gesagt: ‚Du steckst so viel Liebe in deinen Entwurf. Dann willst du doch nicht, dass das Kleidungsstück im letzten Schritt unter schlechten Bedingungen hergestellt wird oder die Umwelt kaputtmacht.‘“
Seit bald zwei Jahren arbeitet Andrea Schill für die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ), konkret ist sie für die Weiterentwicklung des „Grünen Knopfs“ zuständig, ein staatliches Textilsiegel des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Hier hat sie etwa ein Schulungsprogramm für die Auditor*innen entwickelt, die die Umsetzung der unternehmerischen Sorgfaltspflichten des „Grünen Knopfs“ bei europäischen Unternehmen prüfen.
Andrea Schill blickt auf die Uhr. Es ist ein frischer Morgen im Spätherbst, um 10 Uhr beginnt ihr Arbeitstag im Berliner Homeoffice – mit jeder Menge „Zoom“-Meetings und Telefonaten. Das macht ihr Spaß.
„Aber längerfristig würde ich gerne wieder in Produktionsländern in Asien arbeiten – oder auf internationaler Ebene an Rahmenbedingungen zur effektiven Umsetzung von Sorgfaltspflichten in Unternehmen“, verrät sie. „Neben den Unternehmen sind für mich Gewerkschaften, zusammen im sozialen Dialog mit den Arbeitgeber*innen vor Ort, der größte Hebel, um die Branche voranzubringen. Aber egal, wo ich in Zukunft auch tätig sein werde: Wichtig ist für mich das Gefühl, etwas bewegen zu können. Denn ohne diese Energie, die ich daraus und aus der Zusammenarbeit mit anderen engagierten Menschen ziehe, könnte ich auch die zwangsläufigen Rückschläge und teils absurden Darstellungen von Unternehmen, wie sie ihren Sorgfaltspflichten nachkommen, gar nicht gut aushalten.“
Mercator Kolleg für internationale Aufgaben
Das „Mercator Kolleg für internationale Aufgaben“ fördert jährlich 25 engagierte deutschsprachige Hochschulabsolvent*innen und junge Berufstätige aller Fachrichtungen, die für unsere Welt von morgen Verantwortung übernehmen.
www.mercator-kolleg.de