„Ukraine Zusammenarbeit: Klare Kante gegen Russlands Aggression zeigen“
Seit Beginn des flächendeckenden russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine kamen mehr als eine Million Menschen aus der Ukraine nach Deutschland und müssen in der Fremde eine neue Sprache lernen, Wohnungen und Jobs finden. Menschen wie Anastasia Sudzilovskaya vom Bundesverband russischsprachiger Eltern helfen.
Frau Sudzilovskaya, wie ging es Ihnen, als Sie vom flächendeckenden Angriff Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 erfahren haben?
Anastasia Sudzilovskaya: Ich stamme aus Russland und habe in Moskau studiert. Inzwischen bin ich in Berlin stellvertretende Geschäftsführerin des Bundesverbandes russischsprachiger Eltern im Kompetenznetzwerk für das Zusammenleben in der Migrationsgesellschaft. Ich war geschockt. Ich habe Familie, Verwandte und Freund*innen in der Ukraine wie fast alle Mitglieder unserer Community. Entsprechend ist der Krieg eine sehr persönliche Tragödie. Unsere Dachorganisation für bundesweit mehr als 52 gemeinnützige Vereine hat sofort angefangen, geflüchtete Menschen durch soziale und kulturelle Angebote zu unterstützen. Viele von uns arbeiten ehrenamtlich. Es ist eine Herzensangelegenheit.
Wie helfen Sie den Menschen konkret?
Sudzilovskaya: Unsere Mitgliedsorganisationen unterstützen geflüchtete Menschen bei der Suche nach Wohnungen und Jobs, bieten Sprachkurse an und leisten psychologische Unterstützung. Genauso haben sie Freizeitangebote für fast alle Altersklassen im Angebot. So arbeiten einige Vereine schwerpunktmäßig mit Senior*innen, andere mit Frauen oder Kindern.
Anastasia Sudzilovskaya hat European Studies an der Universität Hamburg studiert und ist stellvertretende Geschäftsführerin des Bundesverbandes russischsprachiger Eltern/BVRE e. V, der Teil der Bundeskonferenz der Migrantenorganisationen (BKMO) ist. Sudzilovskaya leitet das Projekt „Kompetenznetzwerk für das Zusammenleben in der Migrationsgesellschaft“ und vertritt das Berliner Büro des Verbandes.
Reicht das Angebot aus für eine europäische Integration der Menschen aus der Ukraine?
Sudzilovskaya: Wohnungen sind schwierig zu finden – einfach weil es nicht genug bezahlbaren Wohnraum gibt. Auch die Wartelisten von Schulen und Kitas sind lang. Außerdem gibt es, je nach Bundesland, nicht genügend Sprachmittler*innen für Behördengänge. Da ist in der Tat also noch Luft nach oben.
Die Willkommenskultur ist in Deutschland 2015/16 eingebrochen. Erleben Sie über ein Jahr nach Beginn des flächendeckenden russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine ebenfalls eine Veränderung in der Bereitschaft, zu helfen?
Sudzilovskaya: Ich habe mich 2015 als Sprachmittlerin in der Flüchtlingshilfe engagiert, und in meiner Wahrnehmung läuft jetzt vieles unkomplizierter und besser als damals. Die Ämter reagieren schneller, es gab rasch Informationen in ukrainischer Sprache bei den Behörden und auf Internetseiten oder Deutschkurse für Ukrainer*innen. Aber natürlich ist ein Unterschied in der Behandlung von geflüchteten Menschen wahrnehmbar. Die Ukrainer*innen werden als Europäer*innen besser akzeptiert als Menschen aus muslimisch geprägten Herkunftsstaaten oder Menschen afrikanischer Herkunft. Sie haben es dadurch wohl etwas leichter, Fuß zu fassen. Unser Verband arbeitet aber diasporaübergreifend mit anderen migrantischen Verbänden zusammen. Insofern ist es für uns wichtig, diese Ungleichheit zu thematisieren – sowohl im Hinblick auf unsere Lobbyarbeit als auch in den Angeboten der politischen Bildung.
Wie wichtig ist es für den Bundesverband russischsprachiger Eltern, dass er sich politisch positioniert?
Sudzilovskaya: Sehr wichtig. Wir nennen von Anfang an den Aggressor Russland beim Namen und sagen, dass wir die Ukraine unterstützen. So soll allen klar werden, dass es nicht nur ein Krieg gegen die Ukraine ist, sondern ein Krieg gegen demokratische Werte.
Wir nennen von Anfang an den Aggressor Russland beim Namen und sagen, dass wir die Ukraine unterstützen.
Ziehen alle Mitgliedsverbände politisch an einem Strang?
Sudzilovskaya: Mehrheitlich schon. Es gab aber anfangs durchaus Vereine, die sich zunächst nicht von Russland distanzieren wollten, vielleicht weil sie zu stark von der Medienpropaganda Putins beeinflusst waren.
Wie reagiert Ihr Dachverband darauf?
Sudzilovskaya: Wir können von unserer Forderung, klare Kante gegen russländische* Aggression zu zeigen, nicht abrücken – auch dann nicht, wenn das im Einzelfall für Probleme sorgt. Aber es ist ohnehin kein Konflikt, der mehrere Vereine betrifft.
Zwischen 1950 und 2020 wanderten 4,5 Millionen Menschen aus Staaten der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland ein – davon zwei Millionen allein in den Jahren 1990 bis 1999. Verfängt die russische Propaganda bei vielen von ihnen?
Sudzilovskaya: Es ist auf jeden Fall ein Problem mit Spaltungspotenzial. Vielleicht nehmen ältere Menschen, die sich an die Zeit in der ehemaligen Sowjetunion erinnern, den Krieg auch anders wahr als die Mehrzahl der Europäer*innen. Wir versuchen allgemein stark zu vermitteln und mit Menschen, die nicht von der Schuld Russlands als Aggressor überzeugt sind, zu sprechen und Reflexionsräume zu schaffen. Wir beschäftigen uns etwa mit Themen wie Erinnerungskultur und Dekolonisation des postsowjetischen Raumes und bieten neue Austauschformate an. Einige unserer Projekte sind auch auf die politische und gesellschaftliche Partizipation von Geflüchteten ausgerichtet. Natürlich haben wir inzwischen verstärkt Veranstaltungen in ukrainischer Sprache im Angebot.
Haben Sie oder Ihre Mitgliedsorganisationen infolge des Krieges Vorbehalte oder Distanzierungen erlebt?
Sudzilovskaya: Unsere Organisation hat bisher in diesem Zusammenhang keine Diskriminierung erfahren. Aber natürlich erleben Menschen aus dem postsowjetischen Raum Missverständnisse und Konflikte. Hier Ängste zu bekämpfen und Menschen zum Thema Diskriminierung aufzuklären, ist eine sehr wichtige Aufgabe politischer Bildung. Im Rahmen unserer Veranstaltungen sprechen wir daher über Diskriminierung – zum Beispiel in der Schule und im Alltag – und wie wir uns in solchen Situationen verhalten sollten. Darüber hinaus schaffen wir Räume, Dialogforen und -plattformen, in denen die Community offen über ihre Ängste sprechen kann. Mitglieder erhalten dort auch Unterstützung von Expert*innen, damit sie gegenseitiges Vertrauen aufbauen.
Was steht künftig auf Ihrer Agenda?
Sudzilovskaya: Wir müssen weiterhin Lobbyarbeit für unsere Organisation machen, damit die Stimmen der russischsprachigen Menschen in Deutschland gehört werden. Innerhalb der Community werden wir weiterhin im Bereich politischer Bildung aktiv sein und über den Krieg sprechen. Den Dialog zwischen Ukrainer*innen und russischsprachigen Menschen zu führen, ist sicher noch etwas zu früh, aber langfristig sehe ich da eine wichtige Aufgabe auf uns zukommen.
Bundeskonferenz der Migrantenorganisationen (BKMO)
Die Bundeskonferenz der Migrantenorganisationen ist ein integrationspolitisches Diskussionsforum, in dem über 70 Migrant*innenverbände in Deutschland selbstbestimmt und mit eigener Agenda zusammenkommen und sich vernetzten.
*Anmerkung der Redaktion: Russländisch (rossijskij) bezieht sich auf den offiziellen Staatsnamen Russlands – Россия (Rossija) – und bezeichnet alles, was zur Russischen Föderation gehört. Der Begriff dient damit der Differenzierung und verdeutlicht etwa im Zusammenhang mit dem Krieg, dass die Aggression nicht von Russisch sprechenden und/oder sich als Russ*innen identifizierenden Menschen ausgeht, sondern vom Staat Russland.