„Rechtlich sind die Möglichkeiten der EU sehr beschränkt“
Ungarns Regierung unter Ministerpräsident Viktor Orbán hat Mitte Juni eine Gesetzesänderung beschlossen. Im Kern geht es darum, LGBTQI+-Identitäten aus der Öffentlichkeit zu verbannen. Wie verhält sich die Europäische Union dazu? Jakub Jaraczewski von Democracy Reporting International im Interview.
Die Paragrafen, um die es geht, wurden in ein Gesetz gegen sexualisierte Gewalt gegen Kinder verpackt. De facto bedeutet die Gesetzesänderung aber die Zensur von LGBTQI+-Identitäten. So müssen in Schulen künftig alle Partnerschaftsformen außer der heterosexuellen verschwiegen werden. Bücher, Filme und jegliche weitere „Inhalte“, die sich an Kinder und Jugendliche wenden und in denen Sexualität nicht als rein heterosexuell dargestellt ist, werden verboten. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen nannte das Gesetz eine Schande. Es diskriminiere Menschen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung und verstoße damit gegen fundamentale Werte der Europäischen Union. Mitte Juli eröffnete die EU ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn und im gleichen Zuge auch gegen Polen. Die zwei Mitgliedstaaten haben jetzt zwei Monate Zeit, um auf die Argumente der Kommission zu reagieren. Jakub Jaraczewski von Democracy Reporting International erklärt, warum der EU rein rechtlich die Hände weitgehend gebunden sind – und welche Spielräume die Union dennoch ausschöpfen kann.
Jakub Jaraczewski
ist Forschungskoordinator Rechtsstaatlichkeit bei Democracy Reporting International.
Herr Jaraczewski, die Regierung Orbáns verteidigt das neue Gesetz als Kinderschutzmaßnahme. Ist diese Argumentation stimmig?
Jakub Jaraczewski: Nein, die Regierung Orbáns nennt das Gesetz zwar eines zum Schutz von Kindern und Minderjährigen vor Pädophilie, in Wirklichkeit zielt das Gesetz aber ganz eindeutig auf die Diskriminierung von LGBTQI+-Menschen ab. Auch wenn das Gesetz de jure nur Minderjährige vor LGBTQI+-Identitäten abschotten will, macht es de facto jeglichen öffentlichen Ausdruck von LGBTQI+-Identitäten potenziell illegal. Man kann ja einfach argumentieren, dass alles von Kindern gesehen werden kann: seien es Poster, Flugblätter, Webseiten … Dieses Gesetz ähnelt stark dem russischen Vorbild. Das Gesetz greift ganz eindeutig eine gesellschaftliche Minderheit an und diskriminiert sie. Damit verstößt es sowohl gegen die ungarische Verfassung als auch gegen die Grundrechtecharta der Europäischen Union, der sich Budapest verpflichtet hat.
Klingt nach einem klaren Fall für den Europäischen Gerichtshof, oder?
Jaraczewski: Hier wird es kompliziert. Die EU hat in diesem Feld wenig rechtliche Möglichkeiten. Die Grundrechtecharta der Europäischen Union greift hier nicht. Denn: Sie greift – und nur dann –, wenn Organe und Institutionen der Europäischen Union involviert sind oder es um die Umsetzung von europäischem in nationalstaatliches Recht geht. Weder das eine noch das andere ist der Fall. Die EU hat darüber hinaus in ihrem Vertragswerk noch weitere Schutzbestimmungen von LGBTQI+-Menschen vor Diskriminierung. Diese Direktiven greifen aber im Arbeitsrecht.
Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn erwartet eine klare Antwort der Europäischen Union, man müsse Orbán die Grenzen aufzeigen. Warum passiert das bislang nicht?
Jaraczewski: Seit mehreren Jahren verfolgt die EU das Verfahren gegen Ungarn nach Artikel 7 der EU-Verträge, das Rechtsstaatlichkeitsbrüche beinhaltet und zum Entzug von Stimmrechten von Budapest führen könnte. Doch dieser Prozess stockt. Denn zum einen ist der Mitgliedstaat federführend, der die EU-Ratspräsidentschaft innehat, und das ist momentan Portugal. Das hat allerdings wenig zur Rechtsstaatlichkeit gemacht. Auch für die kommende slowenische Präsidentschaft im zweiten Halbjahr 2021 scheint das Thema nicht ganz oben auf der Agenda zu stehen. Und nicht nur das: Alle restlichen EU-Staaten müssen am Ende des Artikel-7-Prozesses gegen Ungarn stimmen – und zwar einstimmig. Das aber verhindert Polen. Und umgekehrt kann Ungarn ein Eingreifen des Rates gegen Polen verhindern.
Ein neuer Rechtsstaatsmechanismus im EU-Haushaltsrecht wird ebenfalls noch nicht angewandt. Warum?
Jaraczewski: Der sogenannte Konditionalitätsmechanismus, der im vergangenen Jahr beschlossen wurde, knüpft die Auszahlung von EU-Geldern an die Rechtsstaatlichkeit. Ungarn und Polen haben beim Europäischen Gerichtshof Klage gegen die Verordnung eingereicht. Viel Kritik gab es aus Wissenschaft, Medien und aus dem Europäischen Parlament daran, dass die Kommission noch auf die Entscheidung des EuGHs wartet. Aber wie man sieht: Rechtlich sind die Möglichkeiten der EU sehr beschränkt.
Teilen Sie die Kritik, dass sich die EU hier zu viel Zeit gelassen hat?
Jaraczewski: Ja, hier sehen wir, dass die EU schon früher hätte eingreifen müssen. Denn Orbán hat die Judikative, insbesondere das Verfassungsgericht, schon entmachtet. In Brüssel kann man also nicht mehr darauf vertrauen, dass ein Gesetz wie eben jenes gegen LGBTQI+-Identitäten vom nationalen Verfassungsgericht gekippt wird. Wir sehen hier einen Schneeballeffekt: Das Problem wurde ignoriert, jetzt ist die Gewaltenteilung untergraben – und kein nationalstaatliches Instrument in Ungarn kann dieses Gesetz noch verhindern. Dabei hätte die EU bei der Entmachtung der Verfassungsgerichte in Ungarn, aber auch in Polen, aus rechtlicher Sicht auch noch viel einfacher eingreifen können als jetzt bei den Anti-LGBTQI+-Gesetzen.
Welche Möglichkeiten gibt es denn?
Jaraczewski: Manche haben einen Vorstoß der Europäischen Union gemäß Artikel 2 gefordert, wonach Ungarn gegen die Werte, auf denen sich die Union gründet, verstößt. Also Gleichheit und der Schutz von Minderheiten. Ich glaube aber nicht, dass es so weit kommen wird, denn das würde eine starke Ausweitung der Kompetenzen zugunsten der europäischen Ebene bedeuten. Auch in pro-europäischen Staaten wie Deutschland und Italien haben die Verfassungsgerichte klare Grenzen abgesteckt, wo europäisches Recht greift und wo nationalstaatliches anfängt. Daher: Auch wenn EU-Mitgliedstaaten Ungarn für die Anti-LGBTQI+-Gesetze kritisieren, heißt es noch nicht, dass sie auch zulassen werden, dass die EU hier aufgrund von Artikel 2 tätig wird. Daher muss die EU in solchen juristischen Feldern aktiv werden, in denen sie klare rechtliche Vorgaben hat. Die EU kann auch auf der regionalen Ebene prüfen, welche Programme und Finanzierungen es in Ungarn gibt, und hier jeweils schauen, ob die Nichtdiskriminierungsklauseln greifen.
Was denken Sie über die Forderung, Ungarn aus der EU auszuschließen?
Jaraczewski: Schon ein Verlust des Stimmrechts nach Artikel 7 wäre ein politisches Erdbeben, wie es noch nie vorgekommen ist. Zudem ist die EU nach ihrem Selbstverständnis eine Union der Völker, nicht der Regierungen. Man könnte nun sagen, dass die Regierung mit ihrem Anti-LGBTQI+-Gesetz von der Mehrheit des Volkes gewählt wurde. Dabei vergisst man aber, dass viele Menschen den Konflikt mit der EU sicher nicht im Sinn hatten, als sie die Partei Fidesz wählten. Die ungarische Gesellschaft macht immer noch den Übergang vom kommunistischen zum kapitalistischen System durch. Erst kürzlich haben diese Menschen die Vorzüge und Freiheiten der EU kennengelernt – Vorzüge, die die Menschen im Westen schon seit langer Zeit haben. Politische Entscheidungen sind oftmals wirtschaftlich motiviert. Fidesz und Orbán hat dieser wirtschaftliche Aufschwung genutzt. Jetzt müssen die Wähler*innen in Ungarn auch sehen, was die anderen Konsequenzen ihrer Wahl sind, nämlich der Konflikt mit der EU, den viele wahrscheinlich nicht wollten. Außerdem bin ich überzeugt, dass Orbán die LGBTQI+-Debatte als Deckmantel benutzt. Der erwartete Aufschrei im Westen und in den Medien soll offenbar von den vielen anderen Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit ablenken.
Geht die Strategie denn auf?
Jaraczewski: Auch wir reden über dieses Gesetz, und das ist natürlich wichtig. Wir sollten dabei aber ebenfalls im Auge behalten, was zeitgleich passiert: die Aushöhlung der Gewaltenteilung, Änderungen im Wahlrecht zugunsten von Orbáns Fidesz, Korruption, Vetternwirtschaft, eine Bereicherung der Führungsriege von Fidesz, oftmals über EU-Mittel. Orbán zettelt einen kulturellen Kampf an, um davon abzulenken. Denn Ungarn ist das EU-Land, in dem wohl die meisten EU-Gelder versickern. Es sind keine großen Sachen, sondern eine Fülle kleiner. Der Neffe von jemandem bekommt diesen Staatsauftrag, andere bauen Privathäuser, die als historische Renovierung deklariert werden. Für Orbán war das eine zynische Ablenkung, doch hoffentlich hat er sich diesmal verkalkuliert.
re:constitution – Exchange and Analysis on Democracy and the Rule of Law in Europe
Democracy Reporting International und das Forum Transregionale Studien leiten das von der Stiftung Mercator geförderte Programm re:constitution. Es trägt dazu bei, ein Netzwerk aufzubauen, das sich mit europäischen Verfassungsfragen, dem Spannungsfeld zwischen pluralistischen Auslegungen von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sowie der Zusammenarbeit innerhalb der EU befasst.
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