Theater ums Spazierengehen
Bewegungsarmut und Einsamkeit schaden der Gesundheit. Vor allem ältere Menschen sitzen zu viel und haben zu wenig soziale Kontakte. Corona hat die Situation verschärft – besonders im von der Pandemie gebeutelten Norditalien. Dort hilft das kreative Projekt CareStories Senior*innen mittels Spaziergängen zurück in ein bewegtes Leben.
Ständiges Sitzen macht krank. Gehen tut gut. „Den Zusammenhang von Bewegung und Gesundheit auf der einen sowie vielem Sitzen und diversen Krankheiten auf der anderen Seite hat die Wissenschaft hinreichend belegt“, sagt der Arzt Claudio Tortone. Der 57-jährige Italiener arbeitet für das „Dors“ – das Dokumentationszentrum zur Förderung der Gesundheit in seiner Heimatregion Piemont. In Zusammenarbeit mit der lokalen Gesundheitsagentur A.S.L. (Azienda Sanitaria Locale) erheben Tortone und seine Kolleg*innen Daten zum Gesundheitszustand der Menschen in der Metropolregion Turin im Norden Italiens. Anhand ihrer Erkenntnisse schieben sie Kampagnen und Projekte an, die Problemen entgegenwirken sollen.
Wer zentral wohnt, lebt länger
Vor ein paar Jahren sahen die Gesundheitsexpert*innen vor allem in den Randgebieten der Metropole Handlungsbedarf. Die erhobenen Daten zeigten: Menschen dort haben eine deutlich geringere Lebenserwartung als jene in der Stadt. Tortone gibt ein Beispiel: „Ein heute 50-jähriger Mann, der in zentraler Lage in Turin lebt, wird im Durchschnitt dreieinhalb Jahre länger leben als eine gleichaltrige Person in der Peripherie. Das ist ein eklatanter Unterschied!“ Mit jeder Metrohaltestelle jenseits der Stadtgrenze verkürze sich die Lebenserwartung um ein halbes Jahr, fügt Tortone hinzu.
Die Erklärungen dafür sind vielschichtig; Bildung und Lebensstil spielen eine wichtige Rolle. In den Randgebieten der Metropolregion wohnt ein Großteil jener Menschen, die in den 1950er- und 1960er-Jahren aus Süditalien in den Norden kamen, um bei Fiat oder anderen Industrieunternehmen zu arbeiten. „Vielen von ihnen fehlt schlichtweg das Wissen, was gesunde Ernährung ist und was man auch als Senior*in tun kann, um gesund oder zumindest weniger krank zu sein“, erklärt Tortone.
Wie gehe ich richtig, wie sollte mein Rucksack sitzen?
Alarmiert durch die Daten des Dors hat der lokale Gesundheitsdienst A.S.L. in Giaveno, einer Gemeinde mit 16.000 Einwohner*innen in der Metropolitanstadt Turin, 2016 das „Spaziergänger*innen“-Projekt auf den Weg gebracht. Mehrmals pro Woche lud die Gemeinde zu geführten Mini-Ausflügen ein. Eine bis zweieinhalb Stunden dauerten die Spaziergänge durch die Natur. Die Begleiter*innen vom Gesundheitsdienst zeigten den Spazierenden, wie man „richtig“ geht, welche Schuhe geeignet sind, wie man seinen kleinen Rucksack rückenschonend trägt. „Nach einer Anlaufphase hat das Projekt durch Mund-zu-Mund-Propaganda einen regelrechten Boom erlebt“, sagt Alessandra Maritano von der Gemeindeverwaltung in Giaveno. „2019 hatten wir mehr als 90 regelmäßig Teilnehmende. Endfünfziger*innen, etliche aus der Altersgruppe 65 plus, Frauen und Männer im Alter zwischen 70 und 80 Jahren und noch ältere waren dabei.“
Für viele von ihnen war der wöchentliche Spaziergang die einzige Gelegenheit, außerhalb der Familie Menschen zu treffen und sich auszutauschen. Insbesondere in den Randgebieten der Millionenstadt leiden die Älteren unter mangelnden sozialen Kontakten, weiß auch Tortone. „Rund 60 Prozent der über 65-Jährigen haben nicht die Möglichkeit, in irgendeinem Kontext regelmäßig mit anderen zu interagieren“, zitiert der Mediziner aus den gesammelten Daten. Einsamkeit wirke sich negativ auf Wohlbefinden und Gesundheit aus. In der Peripherie fehle es jedoch an Einrichtungen und Angeboten, die Abhilfe schaffen. Der Umstand, dass die Bewohner*innen der unterprivilegierten urbanen Randzonen ein Leben lang viel geschuftet, aber nie gelernt haben, Kultureinrichtungen für sich zu nutzen, verstärke das Problem.
Rausgehen und sich unter Leute begeben
Mit Corona kam zunächst das Aus für das Cammini-Projekt. Jetzt, nach eineinhalb von harten Lockdowns und rigorosen Ausgangssperren geprägten Jahren, sei der Handlungsbedarf in Sachen Gesundheitsförderung größer denn je, mahnt der Experte für Gesundheitsdaten. In seinem Dokumentationszentrum kenne man die Hilferufe aus den Arztpraxen nur zu gut. „Neben vielen anderen Krankheiten haben Depressionen, Ängste und suizidale Gedanken stark zugenommen – vor allem bei den ganz Jungen und bei den Älteren“, sagt Tortone. Die der Pandemie geschuldete Isolation habe gerade bei ihnen zu einer regelrechten Sozialphobie geführt. Senior*innen, die monatelang kaum vor die Haustür gekommen sind und die – abgesehen von den Angehörigen, die ihnen Lebensmittel brachten – keine Kontakte gehabt haben, müssen erst wieder lernen, rauszugehen und sich unter Leute zu begeben.
Hier kommt CareStories ins Spiel. „Im Rahmen dieses Projekts wird es nicht nur eine Neuauflage der Spaziergänge geben“, kündigt Tortone an. „Wir werden das Angebot um eine Dimension erweitern, die das Miteinander noch intensiver macht.“ Dafür hat sich die Gesundheitsagentur A.S.L. einen Partner ins Boot geholt: das Turiner Social and Community Theatre Centre. Theater-Profis und Gesundheitsexpert*innen wollen aus den gemeinsamen Spaziergängen Kulturerlebnisse machen. Die European Cultural Foundation fördert dieses Projekt über den dafür eingerichteten Fonds für Kultur der Solidarität.
Orte zum Sprechen bringen
Wie das aussehen soll, erläutert Alessandra Rossi Ghiglione, Direktorin des Theaters. „Mit den vielfältigen Möglichkeiten, die das Theater bietet, wollen wir Menschen miteinander, aber auch mit ihrer Umgebung in Beziehung bringen“, sagt die 55-jährige Dramaturgin, die sich von Anfang an dem alternativen Theater verschrieben hat – einer Regie, die kein festes Drehbuch kennt, die Schauspieler*innen in die Entwicklung des erzählten Stoffes nicht nur einbezieht, sondern sie zu Mitautor*innen des Bühnenstücks macht.
Für das CareStories-Projekt wollen Rossi Ghiglione und ihre Mitstreiter*innen Orte „zum Sprechen“ bringen. Derzeit sind die Theaterleute in der Umgebung von Giaveno unterwegs, um entlang der geplanten Spazierstrecken Geschichten aufzuspüren. „Das können Geschichten von Bauwerken, Plätzen, Wegen, Orten im Wald sein, aber auch Geschichten von Menschen, die in dieser Gegend leben oder früher einmal gelebt haben. Uns interessiert die persönliche Lebenserfahrung, die sich mit dem Ort verbindet.“ An Erzählstoff dürfte es nicht mangeln. Das Umland von Turin war im Zweiten Weltkrieg Rückzugsgebiet der Partisan*innen. Auf den Hügeln des Alpenvorgebirges und in den „Borghi“, den kleinen, heute teils verlassenen Dörfern, haben sich italienische Widerständler*innen und deutsche Wehrmachtssoldaten erbitterte Gefechte geliefert.
In welcher Form die kleinen und großen Geschichten an die Spazierenden weitergegeben werden, steht noch nicht fest. Möglicherweise werden Menschen an den Orten entlang der Cammini die eigenen Lebens- und Familiengeschichten erzählen. Aber auch Schauspieler*innen könnten dort Erzähltes in Szene setzen.
Theater als Kaleidoskop der Perspektiven
Rossi Ghiglione kann sich vieles vorstellen, hat sie doch im Laufe ihres Theaterlebens schon mit verschiedenen Kompanien in unterschiedlichsten Ländern Theaterprojekte realisiert. Manchmal im Auftrag von UN-Organisationen, immer unter Einbeziehung unterschiedlichster Player*innen vor Ort. „Egal, ob wir auf den Hochebenen Äthiopiens, in der Peripherie von Turin, in einem Flüchtlingscamp in Libyen, in einem multiethnischen Wohnviertel Amsterdams oder an anderen Orten der Welt gespielt haben – wir nutzen das Theater, um in einem von Konflikten geprägten Umfeld gemeinsam mit den Menschen, die dort leben, Vorstellungen von einer künftigen Form des Miteinanders zu entwickeln.“ Gelingen könne das nur, wenn sich alle – mit ihren Ängsten, Verletzungen und Bedürfnissen – einbringen, wenn sich Theater nicht als Welterklärer oder Sprachrohr der einen Seite versteht, sondern als ein Kaleidoskop der Perspektiven.
Derart motiviertes Theater, da ist sich die Dramaturgin aus Turin sicher, kann auch am Ende des beispiellosen Covid-19-Ausnahmezustands helfen, Menschen wieder miteinander in Kontakt zu bringen. „Dennoch ist das CareStories-Projekt etwas vollkommen Neues für uns, weil es Kunst und Gesundheitsprävention zusammenbringt.“ Mit Interesse verfolgt Rossi Ghiglione das Schaffen ihrer Kolleg*innen in Polen und auf der griechischen Insel Kreta. Auch dort sieht man sich mit ähnlichen Problemen konfrontiert, auch dort sollen CareStories helfen und den Weg in ein gesundes Leben nach der Pandemie ebnen. Bei aller pragmatischen Zielsetzung werde auch dieses Mal „etwas Schönes“ entstehen, sagt Rossi Ghiglione. Die Begeisterung für ihre Arbeit ist ihr ins Gesicht geschrieben. „Auch wenn sich Theater mit einer sozialen Problematik auseinandersetzt, ist es doch immer eine Form der Kunst – eine ästhetische Erfahrung, die Freude bringt und die Seele nährt.“
Fonds für Kultur der Solidarität
Die European Cultural Foundation fördert das Projekt CareStories über den dafür eingerichteten Fonds für Kultur der Solidarität, der von der Stiftung Mercator und der Fondazione CRT mitfinanziert wird. Der Fonds unterstützt kulturelle Initiativen, die innovative, langfristige und zukunftsgerichtete Antworten auf durch die Coronapandemie entstandene Herausforderungen geben und dadurch die Solidarität in Europa und das Zusammengehörigkeitsgefühl unter Europäer*innen stärken.
https://culturalfoundation.eu/initiatives/culture-of-solidarity-fund