Leszek,
die Mobilität und Europa

Leszek,
die Mobilität und Europa
Autor: Martin Kahanec 16.06.2020

Warum wir Zuwanderung auch während COVID-19 brauchen: Mercator Fellow Martin Kahanec plädiert für Mobilität in Europa.

„Hallo!“ Leszek öffnete schwungvoll die Tür seines Taxis. Ich versuchte ihm, in gebrochenem Polnisch, den Weg durch die Essener Innenstadt zu erklären. Er versicherte mir in perfektem Deutsch, dass er mich rechtzeitig zu meinem Vortrag – auf einer wissenschaftlichen Konferenz der Stiftung Mercator – bringen wird.

Solche Szenen gehören vorerst der Vergangenheit an. Die COVID-19-Pandemie hat dafür gesorgt, dass Leszek in seiner polnischen Heimatstadt Lublin feststeckt. Und das Reiseverbot in Belgien macht es auch für mich fast unmöglich, von meiner temporären Heimat Brüssel nach Essen zu reisen.

Porträt von Martin Kahane, Professor an der Central European University in Budapest

Martin Kahanec

Martin Kahanec ist Mercator Fellow und Professor an der Central European University in Budapest.

Nichts geht mehr

Die COVID-19-Pandemie und die politische Reaktion darauf, wie das Reiseverbot mit internationalen öffentlichen Transportmitteln, Grenzkontrollen und Quarantänepflicht für Rückkehrer*innen, führten dazu, dass die grenzüberschreitende Mobilität in Europa praktisch zum Erliegen gekommen ist. Das Verbot öffentlicher Veranstaltungen und Versammlungen, Schulschließungen und andere Maßnahmen des Social Distancing führten dazu, dass die Menschen zu Hause saßen und weniger in Geschäfte, den öffentlichen Raum, in Freizeiteinrichtungen und an ihre Arbeitsplätze gingen.

Mithilfe der Kontaktbeschränkungen konnte die Verbreitung des Virus verlangsamt werden – doch die wirtschaftlichen Kosten sind immens. In den Branchen, die ganz zum Erliegen kamen, waren die Konsequenzen sofort spürbar. Dazu kommt, dass die Menschen weniger Güter und Dienstleistungen kauften und, dass die Arbeit im Homeoffice manchmal ineffizient war; beispielsweise, wenn Eltern parallel zur Arbeit ihre Kinder unterrichten mussten.

 

Keine Mobilität, keine Arbeitskräfte

Die verminderte grenzüberschreitende Mobilität von Arbeitskräften könnte die wirtschaftlichen Folgen innerhalb Europas noch verstärken. In den meisten Industrienationen altert die Gesellschaft, der Anteil an dynamischen, unternehmerisch aktiven und innovativen, jungen Menschen wird kleiner, das hat Folgen für die Nachhaltigkeit der öffentlichen Haushalte. Mobile Arbeitskräfte wie Leszek können möglicherweise dabei helfen, diese wirtschaftliche Verletzlichkeit zu mindern.

Leerer Bahnhof in Brüssel. © Getty Images

Unsere Forschung basiert auf der Analyse harter Daten. Sie zeigt, dass die Vorstellung unbegründet ist, dass Einwanderer*innen die Arbeitsplätze von Einheimischen wegnähmen, die Löhne drückten, oder Sozialleistungen ergaunerten.

Stattdessen zeigt unsere Untersuchung, dass Einwanderung den Handel fördert, langfristig Arbeitsplätze schafft, und dass Einwanderer*innen flexibler auf Arbeitskräftemangel reagieren als Einheimische. Das ist eine wichtige Erkenntnis. Die handwerklichen und intellektuellen Fähigkeiten von Einwanderer*innen werden genau in den Branchen, Berufen und Ländern eingebracht, in denen sie am meisten gebraucht werden.

Dort verdrängen sie nämlich nicht die einheimischen Arbeitskräfte. Stattdessen helfen sie, Engpässe zu überwinden und die Wirtschaft anzukurbeln. Das ist wahrscheinlich der Mechanismus, der nach unseren Erkenntnissen für die Erhöhung des Bruttoinlandsprodukts und die niedrigen Arbeitslosenzahlen verantwortlich ist, und der durch die drei Wellen der Ost-Erweiterung der EU (2004, 2007 und 2013) durch die Zuwanderung von Millionen von Migranten aus den neuen Mitgliedsstaaten in die westlichen Mitgliedsstaaten ausgelöst wurde.

Mobile Arbeitskräfte sind für die EU extrem wichtig, um den wirtschaftlichen Schock und die Personalknappheit im Gesundheitssystem während der Pandemie zu überwinden.

Schmerzlich vermisst

Arbeitskräfte aus Mittel- und Osteuropa werden schon jetzt schmerzlich vermisst – vor allem im Gesundheitswesen, in der Landwirtschaft und im hauswirtschaftlichen Bereich. Nur wenige Wochen nach Beginn der Pandemie gab es trotz der allgemeinen Regeln zum Social Distancing bereits mehrere Programme, um Arbeitskräfte aus osteuropäischen EU-Mitgliedsstaaten wieder nach Deutschland oder Großbritannien zu lassen. Mobile Arbeitskräfte sind für die EU extrem wichtig, um den wirtschaftlichen Schock und die Personalknappheit im Gesundheitssystem während der Pandemie zu überwinden.

Die Erfahrung hat allerdings gezeigt, dass Migration in Europa ein komplexes politisches Problem darstellt: Obwohl alles darauf hinweist, dass die Migration auf das empfangende Land insgesamt einen positiven Effekt hat, begegnen ihr viele Einheimische mit Abneigung oder Angst. Rassismus und Fremdenhass treiben eine Negativspirale an: Eine negative Einstellung der Wähler*innen führt zu ungünstigen politischen Entscheidungen, die wiederum dazu führen, dass die Integration nicht erfolgreich verläuft. Dies wiederum verstärkt wieder die negative Einstellung in der Bevölkerung.

 

Arbeitskräfte, Dienstleistungen und Einkommen fehlen

COVID-19 hat die Mobilität der Arbeitskräfte in der EU gestoppt und dafür gesorgt, dass wir in Europa zum ersten Mal seit vielen Jahren wieder innerhalb nationaler Grenzen leben. Und was wir dabei sehen, ist nicht schön. Arbeitgeber*innen müssen auf Arbeiter*innen verzichten, Kund*innen auf Dienstleistungen. Migrant*innen und deren Familien sind ohne Arbeit und Einkommen. In Zukunft werden wir das Fehlen von weiteren, weniger sichtbaren, Vorteilen der Mobilität von Arbeitskräften spüren.

COVID-19 stellt uns vor epidemiologische Herausforderungen, die wir erst in den Griff bekommen werden, wenn ein Impfstoff oder ein wirksames Medikament zur Verfügung steht. Da dies vermutlich noch einige Zeit dauern wird, dürfen wir mit der Wiederherstellung der Mobilität in der EU nicht so lange warten. In der Zwischenzeit müssen wir die Zahl der täglichen Neuansteckungen so niedrig wie möglich halten, so dass wir das Risiko innerhalb der EU einigermaßen gleichmäßig verteilen, und die im Kampf gegen die Pandemie geschlossenen Binnengrenzen zwischen Ländergruppen, die ähnlich niedrige COVID-19-Zahlen aufweisen, schrittweise wieder öffnen.

 

Unsere Politiker*innen sind gefordert

Ein gut funktionierender, effizienter und widerstandsfähiger europäischer Binnenarbeitsmarkt wird nach COVID-19 nicht weniger wichtig als in der Vergangenheit sein. Stattdessen wird er noch wichtiger sein als vorher. Die Mobilität von Arbeitskräften nutzte bereits in guten Zeiten ganz klar sowohl den Ursprungs- als auch den Empfängerländern der Migrant*innen. Dass dies in turbulenten Zeiten erst recht der Fall ist; ist allerdings nicht selbsterklärend.

Es ist deshalb Aufgabe der Politiker*innen, mit ihren Wähler*innen über die Vorteile und Chancen der Mobilität auf dem Arbeitsmarkt zu diskutieren und effektive Strategien für den Umgang mit gefühlten und realen Risiken zu finden.

Do widzenia, Leszek, auf hoffentlich bald!

Mercator Fellowship-Programm

Das Mercator Fellowship-Programm bietet seinen Stipendiat*innen den Freiraum, sich explorativ und ideenreich einem Forschungs- oder Praxisvorhaben zu widmen.

www.stiftung-mercator.de