„Die Geschichte dreht sich nicht ausschließlich um Europas Sorgen“
Warum müssen wir über die digitale Weltordnung sprechen? Wieso verfügen besonders die Staaten rund um den Pazifik über ein ungeheures Potenzial, und wie hängt das mit Europa zusammen? Um Antworten auf diese Fragen zu finden, hat das International Institute for Strategic Studies (IISS) Anfang Mai in Singapur und Berlin 30 europäische und indopazifische Entscheidungsträger*innen aus Politik und Verwaltung zusammengebracht. AufRuhr hat über das indopazifisch-europäische Dialogforum zur Zukunft der internationalen digitalen Sicherheitsordnung mit Teilnehmerin Meia Nouwens, Senior Fellow beim IISS für chinesische Sicherheits- und Verteidigungspolitik, gesprochen.
Meia Nouwens, Sie haben als Indopazifik-Expertin des IISS am Dialogforum teilgenommen. Vielleicht erläutern Sie zunächst, welche Staaten dabei waren. Wie ist also der indopazifische Raum definiert?
Meia Nouwens: Der Indopazifik wird allgemein als die Küstenländer definiert, die an den Indischen und den Pazifischen Ozean grenzen. In seiner größten Ausdehnung reicht der Indopazifik von der Ostküste Afrikas bis zur Westküste Amerikas. Am Workshop nahmen Teilnehmer*innen aus ganz Europa, Südost- und Ostasien sowie aus den USA teil.
Meia Nouwens’ Expertise liegt in der Analyse der chinesischen Verteidigung, von Chinas Verteidigungsindustrie und Innovation sowie Chinas regionalen strategischen Angelegenheiten und internationalen Beziehungen. Sie leitet die IISS-Forschung zu Chinas digitaler Seidenstraße und die abteilungsübergreifende China-Arbeit des britischen Instituts. Nouwens hat einen BA Hons in Internationale Beziehungen und Politikwissenschaften von der Macquarie University, einen Master in Internationale Beziehungen und Diplomatie von der Leiden University in Zusammenarbeit mit dem Clingendael Institute und einen MPhil in moderne chinesische Studien von der University of Oxford und der Peking University.
Der Austausch war vertraulich. Können Sie dennoch erklären, wie indopazifische und europäische Staaten besser zusammenarbeiten könnten, um die internationale digitale Sicherheitsordnung zu stärken?
Indopazifische und europäische Staaten müssen sich zunächst darauf einigen, was die digitale Weltordnung ist. Hier spielen viele Themen eine Rolle: der Schutz kritischer Infrastrukturen, zum Beispiel die Datensicherheit, nationale Strategien für den Umgang mit Künstlicher Intelligenz, die Bekämpfung von Desinformation im Internet, nationale Telekommunikationsnetze – im weiteren Sinne alles, was für das Funktionieren eines Landes notwendig ist. Es geht auch um Governance, also die Steuerung sowie Planung etwa nationaler KI-Strategien und der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit bei der Festlegung von Standards.
Die Widerstandsfähigkeit eines Landes muss daher auf all diesen Ebenen berücksichtigt werden. Schließlich sind Länder daran interessiert, nationale digitale Kapazitäten aufzubauen, Innovationen zu schaffen und diese jeweils zu schützen. Regierungen und Bürger*innen sind gleichermaßen daran interessiert, aber die Prioritäten sind natürlich von Land zu Land und von Interessengruppe zu Interessengruppe unterschiedlich.
Im Moment besteht noch keine Einigkeit darüber, wie diese Ordnung definiert werden soll, wer darüber bestimmt und ihre Regeln festlegt. Schließlich sind sich die Länder uneins darüber, was die wichtigsten Herausforderungen für diese Ordnung sind und wie sie angegangen werden sollen. Einige Länder priorisieren dabei ihre wirtschaftliche Entwicklung, während andere stärker einen sicherheitsorientierten Ansatz verfolgen. Und eine dritte Gruppe sieht die beiden Ansätze als untrennbar miteinander verbunden.
Wie sehen die Länder des Indopazifik die digitale Governance in Europa?
Die indopazifischen Länder betrachten Europas Ansatz der digitalen Governance als einen, der auf den Wettbewerb zwischen den Großmächten ausgerichtet ist. Das ist bis zu einem gewissen Grad richtig, aber die Geschichte dreht sich nicht ausschließlich um Europas Sorgen bezüglich China und den Wettbewerb der Großmächte. Die Länder in Europa sind zutiefst besorgt über ihre nationale Wettbewerbsfähigkeit und die aus der Pandemie gezogenen Lehren – welche auch zu einer Politik beitragen, die sich auf die wirtschaftliche Sicherheit und den Schutz nationaler strategischer Industrien konzentriert. Kleinere Mächte im indopazifischen Raum glauben auch nicht, dass in den europäischen Hauptstädten verstanden wird, wie wichtig digitale Governance und Technologien den Ländern in dieser fernen Weltregion sind.
Der Indopazifik gilt auf absehbare Zeit als Motor des globalen Wirtschaftswachstums.
Warum hat die indopazifische Region so viel Potenzial? Und wie relevant ist das für Europa?
Der Indopazifik gilt auf absehbare Zeit als Motor des globalen Wirtschaftswachstums: Er beherbergt mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung, erwirtschaftet fast 60 Prozent des globalen BIP und wird in naher Zukunft wahrscheinlich zwei Drittel des globalen Wirtschaftswachstums ausmachen. Er umfasst 65 Prozent der Weltmeere und 25 Prozent der Landflächen der Welt. Neue Technologien werden dort nicht nur in den Metropolen, sondern auch in ländlichen Regionen mit hoher Geschwindigkeit entwickelt und angewendet. Indopazifische Länder sind die Heimat wettbewerbsfähiger Märkte für europäische Technologien und haben viele einheimische Tech-Unicorns zu bieten, also Start-ups, deren Wert vor dem Börsengang oder einem Exit der Investoren auf mindestens eine Milliarde US-Dollar geschätzt wird.
In der gesamten Region beteiligen sich die Regierungen an Programmen zur Beschleunigung des technischen Fortschritts. Es werden erhebliche Investitionen in Technologieparks und -cluster getätigt, die Verbreitung von Smartphones und Internet ist hoch, und die Bevölkerung ist im Allgemeinen bereit und willens, neue Technologien zu übernehmen. Die Frage ist, wie eine Region, die eine Fast-Tech-Anwender ist, auch an der globalen Standardsetzung und der globalen Governance teilnimmt. Und ob ihre Präferenzen und Praktiken mit denen Europas vereinbar sind.
Warum ist die europäische Sicherheitspolitik eng mit der Zukunft der digitalen internationalen Ordnung verknüpft?
Wir befinden uns gerade mitten in einer Diskussion über die bestehende Weltordnung. Hier stellt sich die Frage, wie sich die beiden Regionen an der Organisation der aktuellen Ordnung beteiligen. Dabei geht es auch um die Art und Weise, wie sich die teils ähnlichen und teils unterschiedlichen Interessen anpassen lassen. Europa als Technologieregulator sieht sich in einer anderen Rolle als die Vereinigten Staaten von Amerika oder die Volksrepublik China. In anderen Bereichen wie der Datenschutz-Grundverordnung DSGVO hat die Europäische Union aber auch gezeigt, dass sie Standards setzen kann, die andere Länder als eine gemeinsame Basis anerkennen.
Welche Bündnisse sind notwendig, um deutsche und europäische Interessen wirksam durchzusetzen?
Die Europäer*innen müssen enger mit den Mittelmächten im indopazifischen Raum zusammenarbeiten. Mittelmächte sind Länder, die keine Groß- oder Supermächte sind, aber dennoch groß genug, um auf regionaler oder internationaler Ebene Einfluss zu haben. Mittelmächte suchen sich in der Regel eine Nische und fokussieren ihren Einfluss auf bestimmte Interessensthemen. Die Niederlande haben sich zum Beispiel auf internationales Recht spezialisiert. Japan hat sich auf das Konzept des freien und offenen Indopazifik (FOIP) spezialisiert und spielt dabei eine führende Rolle. Die EU und Japan beispielsweise arbeiten bereits bei digitalen Fragen zusammen. Aber die Europäer*innen sollten Fragen der digitalen Governance stärker mit Ländern in Südostasien diskutieren, die derzeit vor ähnlichen Herausforderungen stehen – und fürchten, dass ihre Perspektiven möglicherweise nicht berücksichtigt werden.
Wo macht mehr Zusammenarbeit im Kleinen Sinn?
Kleinere Gruppierungen können in manchen Bereichen sinnvoll sein, um schnell voranzukommen. Zum Beispiel haben gleichgesinnte Länder ähnliche Ansätze zur Sicherung nationaler kritischer Infrastrukturen verfolgt – und zwar mit dem Ziel, die gemeinsamen Interessen und Kooperationen zu schützen. Wenn es jedoch etwa um die Festlegung von Standards wie die EU-AI-Act-Regulierung geht, würde dies eine breitere Übernahme ähnlicher Standards erfordern.
Die Festlegung von Normen erfolgt sowohl durch Regierungen als auch durch Vertreter*innen der Industrie und der Unternehmen. Dabei handelt es sich jedoch um große Organisationen, von denen einige einen konsensorientierten Ansatz verfolgen. Während westliche Regierungen und insbesondere westliche Technologieunternehmen in der Vergangenheit einige dieser Institutionen dominiert haben, hat die chinesische Vertretung – ob Regierung oder Industrie – in einigen dieser Institutionen in den letzten Jahrzehnten deutlich zugenommen. Dies ist bis zu einem gewissen Grad normal und zu erwarten, da chinesische Unternehmen globale Märkte bedienen sowie chinesische Technologien fortschrittlicher und chinesische Unternehmen international erfolgreich geworden sind.
Dennoch sind einige westliche Regierungen besorgt, dass dies dazu führen könnte, dass chinesische Unternehmen Standards setzen und dass chinesische Normen, die sich von denen des Westens unterscheiden, in internationale Technologiestandards einfließen könnten. Daher werden ein Multi-Stakeholder-Ansatz und ein multinationaler Ansatz unvermeidlich sein. Es gibt zwei Ansätze für die Festlegung von Normen: Multi-Stakeholder oder multinational. Ein Multi-Stakeholder-Ansatz bedeutet, dass nicht nur Regierungen, sondern auch andere Interessengruppen, zum Beispiel Vertreter*innen von Technologieunternehmen oder Branchen, in den Normsetzungsprozess einbezogen werden sollten. Multinational bedeutet, dass Normen gemeinsam mit den Regierungen anderer Länder festgelegt werden.
Wie kann die Politik vorausschauender agieren und mehr internationale Perspektiven einbeziehen?
Länder und Regierungen müssen letztlich ihr aktuelles Verständnis der Herausforderungen in den beiden Regionen neu definieren. Dies muss eine gesamtgesellschaftliche Betrachtung sein, die nicht nur die Regierungen, sondern auch die Zivilgesellschaft und die Akteur*innen der Industrie einbezieht. Ebenso müssen die Länder nicht nur über aktuelle Herausforderungen nachdenken, sondern auch darüber, welche Antworten sie entwickeln könnten und welche unerwarteten Folgen dies haben könnte.
Wenn Regierungen beispielsweise darüber nachdenken, wie sie Künstliche Intelligenz steuern und nationale KI-Strategien entwickeln können, haben sie dann über unerwartete Folgen der Integration von KI in die Volkswirtschaften nachgedacht? Die Pandemie hat gezeigt, dass die Widerstandsfähigkeit der Lieferketten und die nationale technologische, wirtschaftliche und innovative Wettbewerbsfähigkeit der Schlüssel zur Aufrechterhaltung des nationalen Wohlstandes und der Sicherheit sind. Die Regierungen erkennen zwar die Vorteile der Globalisierung und der gegenseitigen Vernetzung an, machen sich aber gleichzeitig Gedanken über ihre Schwachstellen. Eine Möglichkeit, mit der Regierungen wie die der USA und Europas versuchen, ihre Widerstandsfähigkeit zu stärken und ihre nationale Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten, ist die Einführung oder Stärkung von Mechanismen zur Kontrolle ausländischer Direktinvestitionen in ihren Ländern. Auf diese Weise sollen kritische Infrastrukturen und Wirtschaftsbereiche geschützt werden, die als wichtig für die nationale Sicherheit oder den Wohlstand angesehen werden.
Denken wir beispielsweise an die Entscheidungen bestimmter Regierungen, den Aufbau ihrer nationalen 5G-Telekommunikationsnetze einzuschränken, oder daran, ob wir es einem ausländischen Unternehmen erlauben, ein als strategisch wichtig erachtetes Unternehmen zu erwerben oder in dieses in erheblichem Umfang zu investieren oder nicht. In Deutschland hat die Übernahme des Robotikunternehmens Kuka durch das chinesische Unternehmen Midea dazu geführt, dass ausländische Investitionen in bestimmten Bereichen der Industrie neu überdacht werden. Die Sorge ist groß, dass ausländische Unternehmen den deutschen Markt bestimmen.
Schließlich müssen die Länder entscheiden, ob sie in Bezug auf Technologie und digitale Governance einen horizontalen oder einen vertikalen Ansatz für die Regulierungspolitik verfolgen. Die horizontale Regulierung gilt für alle Anwendungen einer Technologie in allen Sektoren, wobei die Entscheidungskontrolle in der Regel in den Händen der Regierung liegt. Ein Bespiel dafür die der AI Act der EU. Eine vertikale Regulierung gilt nur für eine bestimmte Anwendung einer Technologie oder einen bestimmten Sektor und muss nicht unbedingt von einer Regierung, sondern kann auch von einem Branchenverband geleitet werden.
Die Fragen, die sich daraus ergeben, lauten: Sollte dieser Ansatz länderunabhängig sein? Ist die Regulierungspolitik breit genug, um alle Bereiche aktueller und zukünftiger Technologieentwicklungen und -bedenken abzudecken? Und: Lassen sich die politischen Prozesse an den stetig wachsenden Kenntnisstand flexibel anpassen?
IISS
Das International Institute for Strategic Studies (IISS) ist ein 1958 vom britischen Militärhistoriker Michael Howard gegründetes Forschungsinstitut für Internationale Beziehungen und strategische Studien. Die Denkfabrik mit Sitz in London gilt als weltweit führend in der Militärpolitik und in politisch-militärischen Konflikten. Das IISS-Europe Büro in Berlin fungiert als zentraler Hub für den Austausch des Instituts mit europäischen Mächten, die die Sicherheits- und Verteidigungspolitik Deutschlands und Europas aktiv mitgestalten.
www.iiss.org