„Die Geschichte dreht sich nicht ausschließlich um Europas Sorgen“

„Die Geschichte dreht sich nicht ausschließlich um Europas Sorgen“
Autor: Alexander Görlach Illustrationen: Jochen Schievink 20.06.2023

Warum müssen wir über die digitale Welt­ordnung sprechen? Wieso verfügen besonders die Staaten rund um den Pazifik über ein ungeheures Potenzial, und wie hängt das mit Europa zusammen? Um Antworten auf diese Fragen zu finden, hat das International Institute for Strategic Studies (IISS) Anfang Mai in Singapur und Berlin 30 europäische und indo­pazifische Entscheidungs­träger*innen aus Politik und Verwaltung zusammen­gebracht. AufRuhr hat über das indopazifisch-europäische Dialogforum zur Zukunft der inter­nationalen digitalen Sicher­heits­ordnung mit Teilnehmerin Meia Nouwens, Senior Fellow beim IISS für chinesische Sicherheits- und Verteidigungs­politik, gesprochen.

Meia Nouwens, Sie haben als Indopazifik-Expertin des IISS am Dialog­forum teil­genommen. Vielleicht erläutern Sie zunächst, welche Staaten dabei waren. Wie ist also der indo­pazifische Raum definiert?

Meia Nouwens: Der Indopazifik wird allgemein als die Küsten­länder definiert, die an den Indischen und den Pazifischen Ozean grenzen. In seiner größten Ausdehnung reicht der Indo­pazifik von der Ostküste Afrikas bis zur Westküste Amerikas. Am Workshop nahmen Teilnehmer*innen aus ganz Europa, Südost- und Ostasien sowie aus den USA teil.

Meia Nouwens
© IISS

Meia Nouwens’ Expertise liegt in der Analyse der chinesischen Verteidigung, von Chinas Verteidigungs­industrie und Innovation sowie Chinas regionalen strategischen Angelegenheiten und inter­nationalen Beziehungen. Sie leitet die IISS-Forschung zu Chinas digitaler Seiden­straße und die abteilungs­über­greifende China-Arbeit des britischen Instituts. Nouwens hat einen BA Hons in Inter­nationale Beziehungen und Politik­wissenschaften von der Macquarie University, einen Master in Inter­nationale Beziehungen und Diplomatie von der Leiden University in Zusammen­arbeit mit dem Clingendael Institute und einen MPhil in moderne chinesische Studien von der University of Oxford und der Peking University.

Der Austausch war vertraulich. Können Sie dennoch erklären, wie indo­pazifische und europäische Staaten besser zusammen­arbeiten könnten, um die inter­nationale digitale Sicherheits­ordnung zu stärken?

Indopazifische und europäische Staaten müssen sich zunächst darauf einigen, was die digitale Welt­ordnung ist. Hier spielen viele Themen eine Rolle: der Schutz kritischer Infra­strukturen, zum Beispiel die Daten­sicherheit, nationale Strategien für den Umgang mit Künstlicher Intelligenz, die Bekämpfung von Desinformation im Internet, nationale Tele­kommunikations­netze – im weiteren Sinne alles, was für das Funktionieren eines Landes notwendig ist. Es geht auch um Governance, also die Steuerung sowie Planung etwa nationaler KI-Strategien und der grenz­über­schreitenden Zusammen­arbeit bei der Fest­legung von Standards.

Die Widerstandsfähigkeit eines Landes muss daher auf all diesen Ebenen berücksichtigt werden. Schließlich sind Länder daran interessiert, nationale digitale Kapazitäten aufzubauen, Innovationen zu schaffen und diese jeweils zu schützen. Regierungen und Bürger*innen sind gleicher­maßen daran interessiert, aber die Prioritäten sind natürlich von Land zu Land und von Interessen­gruppe zu Interessen­gruppe unterschiedlich.

Im Moment besteht noch keine Einigkeit darüber, wie diese Ordnung definiert werden soll, wer darüber bestimmt und ihre Regeln festlegt. Schließlich sind sich die Länder uneins darüber, was die wichtigsten Heraus­forderungen für diese Ordnung sind und wie sie angegangen werden sollen. Einige Länder priorisieren dabei ihre wirtschaftliche Entwicklung, während andere stärker einen sicher­heits­orientierten Ansatz verfolgen. Und eine dritte Gruppe sieht die beiden Ansätze als untrennbar miteinander verbunden.

Wie sehen die Länder des Indo­pazifik die digitale Governance in Europa?

Die indopazifischen Länder betrachten Europas Ansatz der digitalen Governance als einen, der auf den Wettbewerb zwischen den Großmächten ausgerichtet ist. Das ist bis zu einem gewissen Grad richtig, aber die Geschichte dreht sich nicht ausschließlich um Europas Sorgen bezüglich China und den Wettbewerb der Groß­mächte. Die Länder in Europa sind zutiefst besorgt über ihre nationale Wettbewerbs­fähigkeit und die aus der Pandemie gezogenen Lehren – welche auch zu einer Politik beitragen, die sich auf die wirtschaftliche Sicherheit und den Schutz nationaler strategischer Industrien konzentriert. Kleinere Mächte im indopazifischen Raum glauben auch nicht, dass in den europäischen Haupt­städten verstanden wird, wie wichtig digitale Governance und Technologien den Ländern in dieser fernen Weltregion sind.

Der Indopazifik gilt auf absehbare Zeit als Motor des globalen Wirtschafts­wachstums.

Meia Nouwens

Warum hat die indopazifische Region so viel Potenzial? Und wie relevant ist das für Europa?

Der Indopazifik gilt auf absehbare Zeit als Motor des globalen Wirtschafts­wachstums: Er beherbergt mehr als die Hälfte der Welt­bevölkerung, erwirtschaftet fast 60 Prozent des globalen BIP und wird in naher Zukunft wahrscheinlich zwei Drittel des globalen Wirtschafts­wachstums ausmachen. Er umfasst 65 Prozent der Weltmeere und 25 Prozent der Landflächen der Welt. Neue Technologien werden dort nicht nur in den Metropolen, sondern auch in ländlichen Regionen mit hoher Geschwindigkeit entwickelt und angewendet. Indo­pazifische Länder sind die Heimat wettbewerbs­fähiger Märkte für europäische Technologien und haben viele einheimische Tech-Unicorns zu bieten, also Start-ups, deren Wert vor dem Börsengang oder einem Exit der Investoren auf mindestens eine Milliarde US-Dollar geschätzt wird.

In der gesamten Region beteiligen sich die Regierungen an Programmen zur Beschleunigung des technischen Fortschritts. Es werden erhebliche Investitionen in Technologie­parks und -cluster getätigt, die Verbreitung von Smartphones und Internet ist hoch, und die Bevölkerung ist im Allgemeinen bereit und willens, neue Technologien zu übernehmen. Die Frage ist, wie eine Region, die eine Fast-Tech-Anwender ist, auch an der globalen Standard­setzung und der globalen Governance teilnimmt. Und ob ihre Präferenzen und Praktiken mit denen Europas vereinbar sind.

Warum ist die europäische Sicherheits­politik eng mit der Zukunft der digitalen inter­nationalen Ordnung verknüpft?

Wir befinden uns gerade mitten in einer Diskussion über die bestehende Weltordnung. Hier stellt sich die Frage, wie sich die beiden Regionen an der Organisation der aktuellen Ordnung beteiligen. Dabei geht es auch um die Art und Weise, wie sich die teils ähnlichen und teils unter­schiedlichen Interessen anpassen lassen. Europa als Technologie­regulator sieht sich in einer anderen Rolle als die Vereinigten Staaten von Amerika oder die Volksrepublik China. In anderen Bereichen wie der Daten­schutz-Grund­verordnung DSGVO hat die Europäische Union aber auch gezeigt, dass sie Standards setzen kann, die andere Länder als eine gemeinsame Basis anerkennen.

© Jochen Schievink

Welche Bündnisse sind notwendig, um deutsche und europäische Interessen wirksam durch­zu­setzen?

Die Europäer*innen müssen enger mit den Mittelmächten im indopazifischen Raum zusammen­arbeiten. Mittel­mächte sind Länder, die keine Groß- oder Supermächte sind, aber dennoch groß genug, um auf regionaler oder inter­nationaler Ebene Einfluss zu haben. Mittel­mächte suchen sich in der Regel eine Nische und fokussieren ihren Einfluss auf bestimmte Interessens­themen. Die Niederlande haben sich zum Beispiel auf inter­nationales Recht spezialisiert. Japan hat sich auf das Konzept des freien und offenen Indopazifik (FOIP) spezialisiert und spielt dabei eine führende Rolle. Die EU und Japan beispiels­weise arbeiten bereits bei digitalen Fragen zusammen. Aber die Europäer*innen sollten Fragen der digitalen Governance stärker mit Ländern in Süd­ost­asien diskutieren, die derzeit vor ähnlichen Heraus­forderungen stehen – und fürchten, dass ihre Perspektiven möglicher­weise nicht berücksichtigt werden.

© Jochen Schievink

Wo macht mehr Zusammen­arbeit im Kleinen Sinn?

Kleinere Gruppierungen können in manchen Bereichen sinnvoll sein, um schnell voranzukommen. Zum Beispiel haben gleich­gesinnte Länder ähnliche Ansätze zur Sicherung nationaler kritischer Infra­strukturen verfolgt – und zwar mit dem Ziel, die gemeinsamen Interessen und Kooperationen zu schützen. Wenn es jedoch etwa um die Festlegung von Standards wie die EU-AI-Act-Regulierung geht, würde dies eine breitere Übernahme ähnlicher Standards erfordern.

Die Festlegung von Normen erfolgt sowohl durch Regierungen als auch durch Vertreter*innen der Industrie und der Unternehmen. Dabei handelt es sich jedoch um große Organisationen, von denen einige einen konsens­orientierten Ansatz verfolgen. Während westliche Regierungen und insbesondere westliche Technologie­unternehmen in der Vergangenheit einige dieser Institutionen dominiert haben, hat die chinesische Vertretung – ob Regierung oder Industrie – in einigen dieser Institutionen in den letzten Jahr­zehnten deutlich zugenommen. Dies ist bis zu einem gewissen Grad normal und zu erwarten, da chinesische Unternehmen globale Märkte bedienen sowie chinesische Technologien fort­schrittlicher und chinesische Unternehmen inter­national erfolgreich geworden sind.

Dennoch sind einige westliche Regierungen besorgt, dass dies dazu führen könnte, dass chinesische Unternehmen Standards setzen und dass chinesische Normen, die sich von denen des Westens unterscheiden, in internationale Technologie­standards einfließen könnten. Daher werden ein Multi-Stakeholder-Ansatz und ein multi­nationaler Ansatz unvermeidlich sein. Es gibt zwei Ansätze für die Festlegung von Normen: Multi-Stakeholder oder multi­national. Ein Multi-Stakeholder-Ansatz bedeutet, dass nicht nur Regierungen, sondern auch andere Interessen­gruppen, zum Beispiel Vertreter*innen von Technologie­unternehmen oder Branchen, in den Norm­setzungs­prozess einbezogen werden sollten. Multi­national bedeutet, dass Normen gemeinsam mit den Regierungen anderer Länder festgelegt werden.

© Jochen Schievink

Wie kann die Politik voraus­schauender agieren und mehr internationale Perspektiven einbeziehen?

Länder und Regierungen müssen letztlich ihr aktuelles Verständnis der Herausforderungen in den beiden Regionen neu definieren. Dies muss eine gesamt­gesellschaftliche Betrachtung sein, die nicht nur die Regierungen, sondern auch die Zivil­gesellschaft und die Akteur*innen der Industrie einbezieht. Ebenso müssen die Länder nicht nur über aktuelle Heraus­forderungen nachdenken, sondern auch darüber, welche Antworten sie entwickeln könnten und welche unerwarteten Folgen dies haben könnte.

Wenn Regierungen beispielsweise darüber nachdenken, wie sie Künstliche Intelligenz steuern und nationale KI-Strategien entwickeln können, haben sie dann über unerwartete Folgen der Integration von KI in die Volks­wirtschaften nach­gedacht? Die Pandemie hat gezeigt, dass die Wider­stands­fähigkeit der Liefer­ketten und die nationale technologische, wirtschaftliche und innovative Wettbewerbs­fähigkeit der Schlüssel zur Aufrechterhaltung des nationalen Wohlstandes und der Sicherheit sind. Die Regierungen erkennen zwar die Vorteile der Globalisierung und der gegen­seitigen Vernetzung an, machen sich aber gleich­zeitig Gedanken über ihre Schwach­stellen. Eine Möglichkeit, mit der Regierungen wie die der USA und Europas versuchen, ihre Widerstandsfähigkeit zu stärken und ihre nationale Wettbewerbs­fähigkeit zu erhalten, ist die Einführung oder Stärkung von Mechanismen zur Kontrolle ausländischer Direkt­investitionen in ihren Ländern. Auf diese Weise sollen kritische Infra­strukturen und Wirtschafts­bereiche geschützt werden, die als wichtig für die nationale Sicherheit oder den Wohlstand angesehen werden.

Denken wir beispielsweise an die Entscheidungen bestimmter Regierungen, den Aufbau ihrer nationalen 5G-Tele­kommunikations­netze ein­zu­schränken, oder daran, ob wir es einem ausländischen Unternehmen erlauben, ein als strategisch wichtig erachtetes Unternehmen zu erwerben oder in dieses in erheblichem Umfang zu investieren oder nicht. In Deutschland hat die Übernahme des Robotik­unternehmens Kuka durch das chinesische Unternehmen Midea dazu geführt, dass ausländische Investitionen in bestimmten Bereichen der Industrie neu überdacht werden. Die Sorge ist groß, dass ausländische Unternehmen den deutschen Markt bestimmen.

Schließlich müssen die Länder entscheiden, ob sie in Bezug auf Technologie und digitale Governance einen horizontalen oder einen vertikalen Ansatz für die Regulierungs­politik verfolgen. Die horizontale Regulierung gilt für alle Anwendungen einer Technologie in allen Sektoren, wobei die Entscheidungs­kontrolle in der Regel in den Händen der Regierung liegt. Ein Bespiel dafür die der AI Act der EU. Eine vertikale Regulierung gilt nur für eine bestimmte Anwendung einer Technologie oder einen bestimmten Sektor und muss nicht unbedingt von einer Regierung, sondern kann auch von einem Branchen­verband geleitet werden.

Die Fragen, die sich daraus ergeben, lauten: Sollte dieser Ansatz länder­unabhängig sein? Ist die Regulierungs­politik breit genug, um alle Bereiche aktueller und zukünftiger Technologie­entwicklungen und -bedenken abzudecken? Und: Lassen sich die politischen Prozesse an den stetig wachsenden Kenntnis­stand flexibel anpassen?


IISS

Das International Institute for Strategic Studies (IISS) ist ein 1958 vom britischen Militär­historiker Michael Howard gegründetes Forschungs­institut für Inter­nationale Beziehungen und strategische Studien. Die Denk­fabrik mit Sitz in London gilt als weltweit führend in der Militär­politik und in politisch-militärischen Konflikten. Das IISS-Europe Büro in Berlin fungiert als zentraler Hub für den Austausch des Instituts mit europäischen Mächten, die die Sicherheits- und Verteidigungs­politik Deutschlands und Europas aktiv mitgestalten.
www.iiss.org