Viel besser vorbereitet
Die zweite Corona-Welle bricht über Europa herein. Zeit zu fragen, welche Lehren wir aus den ersten sieben Monaten der Pandemie ziehen sollten. Die Denkfabrik ECFR hat Europas Reaktionen auf die Krise verfolgt – und zahlreiche Beispiele grenzüberschreitender Solidarität gefunden.
Da ist der Transfer zweier französischer Corona-Patienten zu einem Krankenhaus in Freiburg am 21. März. Da ist die von der EU initiierte Geberkonferenz am 27. Juni, bei der EU-Institutionen und -Mitgliedstaaten mehr als 5 Milliarden Euro mobilisierten, um einen gerechten Zugang zu Impfstoffen, Tests und Behandlungen gegen das Coronavirus zu gewährleisten. Die nun mehr als 1.200 Einträge des „European Solidarity Tracker“ zeichnen ein beeindruckendes Bild. In vielerlei Hinsicht bewiesen Europäer*innen, dass sie im Angesicht der Krise bereit sind, sich gegenseitig zu stützen. Betrachtet man dies in Verbindung mit den institutionellen Reformen der letzten Monate, wie dem gemeinsamen „rescEU“-Vorrat für medizinische Hilfsgüter, und dem EU-Wiederaufbaufonds mit seiner beispiellosen finanziellen Schlagkraft, ist Europa heute besser auf die zweite Welle vorbereitet, als im März auf die erste.
Zwei Erzählungen
Im Frühjahr beherrschten zwei Narrative den öffentlichen Diskurs in Europa: Erstens, dass die Europäische Union dabei versagt habe, ihre Bevölkerung vor dem Coronavirus zu schützen. Und zweitens, dass China großzügig in die Führungslücke getreten war. So wahr sich diese Erzählungen damals – inmitten von Berichten über einseitige Grenzschließungen und Flugzeugen voller Masken, die Europa aus China erreichten – auch anfühlten, lieferten sie doch kein besonders akkurates Bild der Lage. Allein für März und April, als Europa seine höchsten täglichen Todeszahlen vermeldete, listet der Solidarity Tracker 83 Fälle medizinischer Solidarität zwischen den EU-Mitgliedstaaten auf (von insgesamt 131 solcher Fälle). Dazu gehören Dutzende von Patiententransfers, Spenden wichtiger medizinischer Hilfsgüter und persönlicher Schutzausrüstung sowie die Entsendung von medizinischem Fachpersonal in die am schlimmsten betroffenen Regionen Europas.
Überraschend ist hingegen nicht, dass die meisten Lieferungen an medizinischen Gütern aus China kamen. Immerhin ist China der weltgrößte Produzent persönlicher Schutzausrüstung. Jedoch handelte es sich in den allermeisten Fällen weniger um humanitäre Spenden als vielmehr um kommerzielle Lieferungen. Obwohl ihre Bedeutung für die Überwindung der medizinischen Krise nicht unterschätzt werden sollte, produzierte Chinas „Maskendiplomatie“ vielfach falsche Eindrücke. Aus dem Solidarity Tracker geht hervor, dass ab Mitte Mai so gut wie keine chinesischen Spenden mehr in Europa eintrafen.
Gemeinsame Gesundheitspolitik
Schlussendlich bekam auch die Europäische Kommission die Situation mehr in den Griff: Nachdem Frankreich, Deutschland und einige andere Mitgliedstaaten nationale Exportverbote für bestimmte medizinische Güter verhängt hatten, bemühte sich die Kommission um eine gemeinsame europäische Lösung, die es ermöglichte, dringend benötigte Ausrüstung in die notleidenden Regionen Norditaliens zu liefern. Über dieses Provisorium hinaus suchte die Kommission auch nach dauerhaften Lösungen. Bis September verpflichteten sich zum Beispiel sechs Mitgliedstaaten strategische Vorräte medizinischer Güter anzulegen, die von der EU finanziert werden. Außerdem gewinnen Überlegungen zu einer gemeinsamen europäischen Gesundheitspolitik Rückenwind. Eine solche soll die Bereitschaft der Union für die nächste Pandemie erhöhen – sowohl die europäische Öffentlichkeit als auch Politikexperten sind der Meinung, dass es hier größerer Anstrengungen seitens der EU bedarf.
Rufe nach einer gemeinsamen europäischen Gesundheitspolitik könnte sich zum Dauerthema entwickeln, ganz so wie zuletzt bei der Klimapolitik. Der EU Coalition Explorer des ECFR veranschaulicht, dass zeitgleich mit den Klima-Protesten in ganz Europa auch die Klimapolitik seit 2018 stärker in den Fokus der Regierungen gerückt ist, und vom zehnten auf den dritten Platz auf der Prioritätenliste kletterte. Da Europa sich in den letzten Jahrzehnten kaum mit Gesundheitskrisen vom Ausmaß der Corona-Pandemie konfrontiert sah, hätte eine gemeinsame Gesundheitspolitik in der Vergangenheit zwar sicherlich eine gewisse Unterstützung der Bevölkerung bekommen, jedoch erschien die Bedrohungen den meisten wohl bis vor kurzem noch als zu diffus, als dass konkrete Forderungen an die Regierenden Europas hätten gestellt werden können.
Wenn es den Europäer*innen gelungen wäre, die Pandemie nach der ersten Welle einzudämmen, hätte sich die Aufmerksamkeit andererseits möglicherweise auch schon wieder auf einen anderen Bereich verlagert. Doch mit dem erneuten Anstieg der Zahlen wird auch der Ruf nach europäischer Solidarität erneut lauter werden.
Schwierige Hindernisse
Allem Anschein nach wird Europa die Fehler und nationalen Impulse, die die Reaktion auf die erste Welle prägten, wohl vermeiden können. Schon vor dem Herbst wurden Kontingente und Prozesse für die Verlegung von Patienten über Ländergrenzen hinweg vereinbart – erste Transfers fanden bereits statt. Ebenso erklärten europäische Politiker, allen voran Bundesaußenminister Heiko Maas, dass sie nicht wieder Grenzschließungen beschließen werden. Nachdem „rescEU“ die Arbeit aufgenommen hat, ist jetzt auch Europas Vorrat an medizinischen Hilfsgütern größer als im Frühjahr. Und da die Medizin und die Virologie in den letzten Monaten mehr über das Coronavirus gelernt haben und Behandlungen optimieren konnten, könnten jetzt mehr Erkrankte die Infektion überstehen – solange die Krankenhäuser nicht überfordert werden.
Am 30. September beendete der ECFR die Datenerhebung für den European Solidarity Tracker. Unser letzter Eintrag betrifft die Pläne Portugals für seine EU-Ratspräsidentschaft in der ersten Hälfte des nächsten Jahres. Zweifellos werden Corona und die Frage, wie die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie am besten bewältigt werden können, die Agenda von Lissabon sowie des Europäischen Parlaments und der Europäischen Kommission bestimmen. Die EU hat noch einige schwierige Hindernisse zu überwinden, einschließlich der finalen Einigung zum Wiederaufbaufonds. Solange Deutschland noch die Ratspräsidentschaft innehat, und darüber hinaus, braucht es dafür Führungsstärke aus Berlin. Die Europäer*innen haben jedenfalls schon jetzt bewiesen, dass sie in Krisenzeiten solidarisch handeln.
European Council on Foreign Relations
Der European Council on Foreign Relations (ECFR) ist ein pan-europäischer Think Tank. Er verfolgt das Ziel, europäische Sichtweisen in nationale politische Diskurse einzubringen, Perspektiven für eine gemeinsame europäische Außenpolitik aufzuzeigen und sich für die Weiterentwicklung des europäischen Integrationsprozesses einzusetzen.