Wie weiter nach dem Brexit?

Großbritannien verlässt die EU Brexit London Brüssel Puzzle
Wie weiter nach dem Brexit?
Autor*innen: Ulrike Franke, Rafael Loss 18.01.2021

Deal or No Deal – das war lange die heiß diskutierte Frage zwischen London und Brüssel. Nun ist das Vereinigte Königreich in letzter Minute doch noch mit einem Deal aus der EU ausgetreten. Wie sich dieser auf die Kooperation mit der EU auswirken wird.

Zuletzt stand nun doch ein Deal. Nach Jahren der Verhandlungen – zunächst eines Austrittsvertrages, dann eines Handels- und Kooperationsabkommens – endete zum 1. Januar 2021 die Übergangsfrist und das Vereinigte Königreich vollzog endgültig seinen Abschied aus der Europäischen Union. Zuletzt stellten Fischereirechte in den Gesprächen zwischen London und Brüssel eine scheinbar unüberwindbare Hürde dar, doch dank beidseitiger Zugeständnisse konnte das No-Deal-Szenario gerade noch verhindert werden.

Wie belastbar das Abkommen ist, das die Beziehungen zwischen der EU und Großbritannien bis auf Weiteres definieren wird, ist noch nicht abzusehen. Während das britische Parlament noch vor Jahresende den Vertragstext absegnete, nimmt sich das Europäische Parlament mehr Zeit, die über zwölfhundert Seiten zu prüfen. Folglich trat der Vertrag zunächst nur provisorisch in Kraft; ein Votum in Strasburg wird für Februar erwartet.

Enge Beziehungen zur EU als Ziel

Schon jetzt gibt es aber einige Verlierer: So wird Premierminister Boris Johnsons Entscheidung, aus dem Erasmus-Programm der EU auszusteigen, sowohl die Mobilität britischer wie auch europäischer Studierender schmählern, was mit erwartbar negativen Folgen für die sozialen Bindungen zwischen den Gesellschaften verbunden sein wird.

Die Frage stellt sich also, wie London und Brüssel über das Handelsabkommen hinaus zum beidseitigen Gewinn kooperieren können. Dass es daran durchaus Interesse gibt, verdeutlicht das UK-Spezial zum EU Coalition Explorer des European Council on Foreign Relations (ECFR). Auf die Frage, welche persönliche Präferenz die britischen Expert*innen für die zukünftige Rolle des Vereinigten Königreiches in der Welt haben, nahmen „enge Beziehungen zur EU“ bei Weitem den ersten Platz ein. Alternative Modelle, wie das im Verlaufe des Brexit-Prozesses beworbene „Singapur an der Themse“ oder eine „Erneuerung des Commonwealth“, trafen hingegen auf wenig Zustimmung.

Mehrwertpotenzial für Handel, Klima und Verteidigung

Nun spiegeln die Meinungen dieser Expert*innen – vor allem aus Ministerien, Denkfabriken, Universitäten und Medien – offensichtlich bisher in keiner Weise die Präferenzen der aktuellen britischen Regierung wider. Ein neues Strategiepapier zur Vision eines „globalen Großbritanniens“ nach dem Brexit steht nach mehreren Verschiebungen immer noch aus. Nichtsdestotrotz deuten sie auf ein anhaltend bestehendes Potenzial hin, in Zukunft wieder engere Beziehungen zu suchen und gemeinsame Politikprojekte zu verfolgen.

Vor allem in drei Politikfeldern könnten Koordinierung und Kooperation zwischen London, Brüssel und den EU-Mitgliedstaaten mittel- und langfristig beträchtlichen Mehrwert erzielen: Handel, Klima und Verteidigung. In den ersten beiden Fällen besteht laut der Umfrage großes, beidseitiges Interesse an Zusammenarbeit.

Zwar entstehen durch den Brexit gewaltige Hürden für den Waren- und Dienstleistungsverkehr, doch das kürzlich geschlossene Abkommen wird zumindest einen Teil davon reduzieren und Gremien schaffen, um zukünftige Streitigkeiten beizulegen. Auch über die bilateralen Wirtschaftsbeziehungen hinaus sollten London und Brüssel eng kooperieren: So haben beide Parteien Interesse bekundet, die Welthandelsorganisation zu reformieren und die regelbasierte internationale Ordnung zu stärken. Zusammen mit dem neu gewählten US-Präsidenten Joe Biden könnte eine erneuerte transatlantische Partnerschaft hier wichtige Impulse setzen.

Während fast alle EU-Mitgliedstaaten die Zusammenarbeit mit den Briten in Sachen Verteidigung als wichtig erachten, sind diese wiederum weniger enthusiastisch.

Auch beim Klimawandel ist Zusammenarbeit zwischen London und Brüssel dringend geboten. Die UN-Klimakonferenz COP26, die im November im schottischen Glasgow stattfinden wird, bietet für Großbritannien eine Gelegenheit, auf internationaler Bühne Führungsstärke zu beweisen und sich zusammen mit der EU und ihren Mitgliedstaaten sowie anderen Partnerländern für spezifische und ambitionierte Klimaziele einzusetzen. So sollten London und Brüssel dafür kämpfen, den globalen Konsens weiter in Richtung des 1,5-Grad-Ziels zu bewegen, um unkontrollierbare Kettenreaktionen im Weltklima zu verhindern. Gerade für die EU wird es nicht einfach werden, hier mit einer geeinten Stimme aufzutreten, wie die schwierigen Verhandlungen um den europäischen Wiederaufbaufonds gezeigt haben.

In Sachen Verteidigung ist der Wunsch nach Kooperation eher einseitig. Während fast alle EU-Mitgliedstaaten die Zusammenarbeit mit den Briten hier als wichtig erachten, sind diese wiederum weniger enthusiastisch. Wenn es allerdings um Verteidigungskooperation außerhalb des EU-Rahmens geht, gibt es – anders als bei der Zusammenarbeit als Teil von EU-Formaten – von Seiten Londons aber auch keine klare Ablehnung.

Kein Status quo ante Brexit

Bereits vor dem Brexit-Referendum 2016 machten Befürworter eines EU-Austritts klar, dass Großbritannien als NATO-Mitglied und Teil verschiedener bi- und mini-lateraler Kooperationsformate mit anderen europäischen Ländern selbstverständlich weiterhin ein engagierter Partner für Europas Sicherheit und Verteidigung bliebe. London tat sich ohnehin selten als Vorreiter in der EU hervor, wenn es um die gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik ging. Flexible Strukturen und eine Öffnung von EU-Kooperationsformaten für Drittstaaten, wie zuletzt geschehen bei der „Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit“ (PESCO), würden es sowohl der EU wie auch Großbritannien und anderen Partnerländern erlauben, in Zukunft bei ausgewählten Vorhaben enger zu kooperieren und Synergien zu erzeugen.

Mit der Abwendung eines No-Deal-Brexits in sprichwörtlich letzter Minute konnten das Vereinigte Königreich und die Europäische Union zumindest einen Rest des guten Willens retten, der insbesondere in den letzten Monaten so sehr gelitten hatte. In den nächsten Monaten und Jahren wird es darum gehen, ein neues Verhältnis zwischen der EU und ihrem ehemaligen Mitgliedstaat zu definieren. Dafür sollten Entscheidungsträger*innen auf beiden Seiten des Ärmelkanals konkrete Probleme identifizieren und Lösungen in beidseitigem Nutzen erarbeiten, ohne jedoch der Versuchung zu unterliegen, den Status quo ante Brexit wieder herstellen zu wollen. Die zukünftigen britisch-europäischen Beziehungen werden anders aussehen als vor zehn, zwanzig oder dreißig Jahren; eine produktive Zusammenarbeit sollte trotzdem weiterhin das gemeinsame Ziel sein.

European Council on Foreign Relations

Der European Council on Foreign Relations (ECFR) ist ein pan-europäischer Think Tank. Er verfolgt das Ziel, europäische Sichtweisen in nationale politische Diskurse einzubringen, Perspektiven für eine gemeinsame europäische Außenpolitik aufzuzeigen und sich für die Weiterentwicklung des europäischen Integrationsprozesses einzusetzen.

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