Zeitenwende: Warum Deutschland eine neue Außenpolitik braucht
Zeitenwende – rapide Veränderung oder zaghafte Anpassungen? Benjamin Tallis von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) erklärt, wie die deutsche Politik auf die neuen geopolitischen Verhältnisse reagiert.
Herr Tallis, Sie sind als Senior Research Fellow im Berliner Alfred von Oppenheim-Zentrum für Europäische Zukunftsfragen (AOZ) tätig und leiten das Projekt „Aktionswerkstatt Zeitenwende“. Wir leben in einer Zeitenwende – was ist damit gemeint?
Benjamin Tallis: Wir können die Zeitenwende als etwas verstehen, das uns widerfährt, oder als etwas, das wir tun. Bei der ersten Sichtweise handelt es sich um eine fundamentale geopolitische Verschiebung. Diese Verschiebung wurde am deutlichsten durch die Ausweitung der russischen Invasion in die Ukraine im Februar 2022. Diese war in gewissem Maß allerdings eine Fortsetzung von Trends, die sich schon abgezeichnet hatten: der Aufstieg autoritärer Staaten als Konkurrenz zu den Demokratien des Westens. Jetzt beobachten wir eine systemische Rivalität zwischen Demokratien und Autokratien. Die Reaktion auf diese geopolitische Verschiebung markierte ihrerseits eine Zeitenwende – etwas, das wir tun.
Benjamin Tallis ist als Senior Research Fellow bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) im Alfred von Oppenheim-Zentrum für Europäische Zukunftsfragen tätig und leitet das Projekt „Aktionswerkstatt Zeitenwende“. Er ist Autor der Bücher „To Ukraine with Love: Essays on Russia’s War and Europe’s Future“ (2022) sowie „Identities, Borderscapes, Orders: (In)Security, (Im)Mobility and Crisis in the EU and Ukraine“ (2023).
Bundeskanzler Olaf Scholz verkündete in seiner Rede zur Zeitenwende im Februar 2022 eine Reihe von konkreten Implikationen für Deutschland.
Olaf Scholz nannte fünf Kernpunkte, wie Deutschland auf die Ausweitung der Invasion Russlands in die Ukraine reagieren würde: Unterstützung für die Ukraine, Diversifizierung der Energieversorgung, ein umfassenderes Umdenken in der Russlandpolitik als Teil eines veränderten Umgangs mit autoritären Staaten, die Stärkung der Rolle Deutschlands in der EU und der NATO und, fünftens, die Stärkung der Bundeswehr, nicht zuletzt durch den Sonderfonds in Höhe von 100 Milliarden Euro. Der letzte Punkt hat die meiste Aufmerksamkeit auf sich gezogen, weil er die größte Veränderung in der deutschen Politik zu sein schien. Aber sehr schnell geht es in der Geopolitik auch um Energieversorgung. Diese hat dann Auswirkungen auf die deutsche Klimapolitik und auf die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit, auf die Gesellschaft und die Wirtschaft – darauf, ob Deutschland tatsächlich für die Zukunft gerüstet ist. Das hat zu einer heftigen Debatte über die Frage geführt, wie diese Zeitenwende aussehen könnte.
Diese Diskussion führen Sie auch in der „Aktionswerkstatt Zeitenwende“.
Die Aktionswerkstatt befasst sich mit der Frage, wie die deutsche Zeitenwende in integrierter Form ablaufen könnte. Sie bringt amtierende sowie ehemalige Politiker*innen, Beamt*innen aus Ministerien und Expert*innen – sowohl deutsche als auch internationale – zusammen. Wir beurteilen die Maßnahmen der Zeitenwende in vier Kategorien. Die erste ist der Grad der Ambition: Geht die Zeitenwende weit genug? Die zweite ist die Geschwindigkeit: Geht sie schnell genug? Dies war eine Quelle besonderer Frustration für einige der deutschen Verbündeten, als der Kanzler sich vor allem bei den Waffenlieferungen nur auf Druck von außen bewegte. Und das hat auch damit zu tun, wie nachhaltig der Wandel sein wird, was die dritte Kategorie ist. Geht er tief genug? Findet er tatsächlich Anklang beim politischen Establishment, aber auch bei den Menschen? Die letzte Frage schließlich dreht sich darum, wie die Veränderungen auf internationaler Ebene eingebunden sind.
Wie kann die Aktionswerkstatt zur Gestaltung der Zeitenwende beitragen?
Auf zwei Arten. Zum einen bauen wir ein Netzwerk von Menschen auf, die die geostrategischen Entscheidungen Deutschlands verstehen und die Optionen für Veränderungen erkunden wollen. Sie finden gemeinsam politische Schnittmengen, die sie vorher vielleicht nicht gesehen haben. Zum anderen treiben wir unser Denken voran, indem wir den politischen Prozess für internationale Perspektiven öffnen und dafür sorgen, dass er nicht in isolierten Debatten untergeht. Dieses integrierte Denken liefert ein vollständigeres Bild und versetzt die deutschen Entscheidungsträger*innen in die Lage, besser zu handeln, als sie es in der Vergangenheit konnten.
Was sind die Risiken und die Chancen einer Zeitenwende?
Eine solche Zeitenwende bedeutet rapiden Wandel. Dabei gibt es konkurrierende Bedürfnisse, und es müssen Entscheidungen getroffen werden. Wenn wir der Geopolitik und der Sicherheit Vorrang einräumen, werden andere Dinge nicht in gleichem Maße finanziert werden können oder erhalten weniger politische Aufmerksamkeit. Doch Sicherheit und die Geopolitik bilden das Fundament, auf dem andere Bereiche wie Wirtschaft und Bildung aufbauen. Wenn wir aber den Wandel ablehnen, stellt sich die Frage nach der Grundlage der deutschen Sicherheit ganz grundsätzlich. Für viele ist die Abwägung dieses Kompromisses zwischen den Ressourcen des Wohlstands und der Sicherheit der Kern der Entscheidung darüber, wie viel Veränderung wir wollen. Viele Politiker*innen in Deutschland versuchen immer noch, ihren Weg zwischen diesen beiden Polen zu finden.
Tatsächlich sollte diese Abwägung jedoch nicht als Kompromiss betrachtet werden, sondern vielmehr als zeitliche Entscheidung: Wir brauchen Sicherheit, um unseren zukünftigen Wohlstand zu gewährleisten. Aber wir brauchen Wohlstand, um unseren materiellen Vorsprung gegenüber autoritären Regimen zu wahren. Beides ergänzt sich, wenn richtig entschieden wird, aber aufgrund der geopolitischen Verschiebungen muss die Priorisierung der Sicherheit an erster Stelle stehen. Diese soll dann als neue Basis für Wohlstand dienen. Das kann als nationale Sicherheitsprämie betrachtet werden – eine Investition in unsere Zukunft.
Wie wird die Zeitenwende die Politik in fünf bis zehn Jahren geprägt haben?
Ich denke, es gibt mehrere Pfade, die die deutsche Zeitenwende nehmen kann. Deutschland hat immer noch die Chance, den Ehrgeiz und das Tempo seines Wandels zu erhöhen, die Öffentlichkeit stärker mitzunehmen und sich international stärker zu integrieren. Unsere Politiker*innen können Deutschland zu einem Teamplayer machen, der der besonderen Verantwortung für die europäische Sicherheit, die das Land ja zweifelsohne hat, besser gerecht wird. Es ist aber auch denkbar, dass diese Möglichkeiten nicht genutzt werden, Deutschland sich immer noch an die Vergangenheit klammert und ins Hintertreffen gerät. Das passiert schon jetzt in mancher Hinsicht. Die politische Führung der europäischen Politik hat sich in bestimmten Bereichen von Berlin nach anderswo verlagert. Die Frage ist, ob Deutschland sich damit wohlfühlt.
Aktionswerkstatt Zeitenwende
Die Aktionswerkstatt Zeitenwende wurde 2022 von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) als Reaktion auf Olaf Scholz’ Rede zur sogenannten Zeitenwende initiiert. In dem Projekt diskutieren Expert*innen sowie Akteur*innen der deutschen und internationalen Politik auf Basis eines integrierten Denkansatzes, wie eine ganzheitliche und nachhaltige Transformation Deutschlands gelingen kann.