Zug um Zug Europa entdecken
Hunderttausenden jungen Menschen mit einem kostenfreien Interrailticket eine einzigartige Europaerfahrung ermöglichen: Die Europa-Aktivisten Vincent-Immanuel Herr und Martin Speer erzählen in ihrem Gastbeitrag, wie aus einer fixen Idee ein neues Erasmus-Programm wurde.
Es war ein bewegender Tag: Die Europäische Kommission in Brüssel trat vor die Presse und verkündete Art und Umfang des neuen Erasmus-Programms. Über 28 Milliarden Euro sollen in den kommenden sieben Jahren mobilisiert werden, um Bildung und Austausch zu fördern. Und unsere Idee kostenfreier Interrailpässe für 18-jährige Europäerinnen und Europäer soll als Leuchtturm-Initiative DiscoverEU zentraler Bestandteil dieser europäischen Bildungsoffensive sein. Mit dieser Nachricht stellte sich bei uns ein Gefühl von tiefer Dankbarkeit und Freude ein. Das jahrelange Engagement und die vielen Gespräche in ganz Europa haben sich ausgezahlt. Hunderttausenden jungen Menschen wird mit dem neuen Programm eine Europaerfahrung ermöglicht und Europas Zusammenhalt nachhaltig gestärkt. Wie kam es dazu? Wir wurde aus einer fixen Idee ein richtiges EU-Programm?
Startpunkt: Wien
Der Weg von #FreeInterrail begann in einem Wiener Restaurant im Frühjahr 2014. Wir waren damals in den Semesterferien auf den Spuren unserer Generation in 14 europäischen Ländern unterwegs – mit einem Interrailticket in der Tasche und einem großen Rucksack auf dem Rücken. Gefördert von den Stiftungen Mercator und Heinrich-Böll wollten wir wissen, wie es den 18- bis 35-Jährigen geht, was sie bewegt und was ihnen fehlt. An jenem Abend trafen wir den Autor Robert Menasse.
In den Wochen vor dem Abendessen waren wir kreuz und quer durch Europa unterwegs. Von Schweden bis Spanien, von Irland bis Bulgarien. Über 100 junge Menschen haben wir getroffen und von ihren Sorgen und Hoffnungen erfahren, wir hatten viel gelernt und Europa trotz aller Herausforderungen von seiner besten Seite erlebt: vielfältig und einladend. Es war nicht übertrieben, als wir Robert Menasse erzählten, dass die Reise unsere Perspektive auf Europa grundlegend verändert hatte. Europa war lebendig geworden durch den persönlichen Kontakt mit dem Schüler in Sofia, der Aktivistin in Stockholm, dem Soziologieprofessor in Neapel, den Jobsuchenden in Athen und der Grenzpolizistin in der Türkei. Etwas, das wir vorher nur in der Theorie begriffen hatten, wurde plötzlich in einer praktischen Erfahrung bestätigt. Europa ist ein Kontinent voller Menschen unterschiedlichster Hintergründe, die aber alle zusammenkommen und die weitaus mehr eint, als sie unterscheidet.
Dieser Enthusiasmus führte an diesem Tisch in Wien zu einer einfachen Frage: Wieso können nicht alle EU-Bürger*innen die gleiche Erfahrung machen, die wir gerade machen durften? Wenn alle auf persönliche Weise erleben könnten, welch ein Geschenk Europas Vielfalt, die reichen kulturellen Traditionen sowie die offenen Grenzen sind, würde dies der politischen Union nicht zu einem riesigen Sprung nach vorne verhelfen? Wir sind überzeugt: Europäer*in wird man nicht aus Theorie, sondern nur aus Erfahrung. Wie wäre es also, wenn die EU-Kommission allen jungen Europäer*innen zum 18. Geburtstag ein Interrailticket schenken würde?
Europas Jugend zu vernetzen und zueinanderzuführen darf keine Frage von politischer Färbung sein.
Von Wien soll es weiter nach Brüssel gehen
Unser Interrail-Abenteuer ging zu Ende, die Idee vom Wiener Abendbrottisch aber ließ uns nicht mehr los. Es dauerte über ein Jahr, bis wir den nächsten Schritt machten. Im Sommer 2015 ging es der EU nicht gut. Die Griechenland- und Schuldenkrise ließ Zweifel an der Einigkeit der EU-Mitgliedsländer und der Stärke der Gemeinschaft aufkommen. Jugendarbeitslosigkeit, Staatsschulden und Kürzungen im Bildungssystem – es brodelte nicht nur in Berlin und Athen. Da erschien uns die Idee der kostenlosen Interrailtickets für alle 18-Jährigen aktueller denn je. Wir begannen auf Veranstaltungen erstmals darüber zu sprechen und teilten die Idee in ersten Zeitungsartikeln. Die Idee begann zu zirkulieren und wurde schließlich vom sozialdemokratischen ungarischen EU-Parlamentsabgeordneten István Ujhelyi aufgegriffen. Er stellte im Sommer 2015 die erste schriftliche Anfrage zum Thema an die Europäische Kommission. Wir bauten unseren Vorschlag aus und schrieben ein erstes Policy Paper. Bei unserer ersten Brüsselreise besuchten wir nicht nur den ungarischen Abgeordneten, sondern vereinbarten zugleich Termine mit Abgeordneten wie Rebecca Harms, Michael Cramer oder Gesine Meißner. Bewusst entschieden wir uns für einen parteiübergreifenden Ansatz. Europas Jugend zu vernetzen und zueinanderzuführen darf keine Frage von politischer Färbung sein.
In Brüssel war Beharrlichkeit gefragt
Schnell waren Abgeordnete von Grünen, Liberalen und Sozialdemokraten an Bord. Gemeinsam stellten sie einen ersten Antrag für ein Pilotprojekt, welches jedoch parlamentsintern scheiterte. Wir gaben nicht auf, schrieben weiter Artikel und präsentierten die Idee vor großem Publikum beim Z2X Festival von ZEIT Online. Das mediale Echo war enorm. Im September 2016 griffen dann die Christdemokraten, allen voran Manfred Weber, die Idee auf und hoben sie auf die Agenda der mächtigsten Fraktion im Europäischen Parlament. Das brachte neuen Schwung in das Projekt. Ein weiterer Antrag auf Gelder für ein erstes EU-Pilotprojekt war erfolgreich. Doch statt kostenfreier Tickets für junge Menschen wurde daraus ein bürokratisches Gruppenreiseprogramm. Wir blieben also am Ball und starteten einen erneuten Anlauf. Nach einer intensiven zivilgesellschaftliche Kampagne startete DiscoverEU Anfang 2018 als Pilotprojekt: 350.000 junge Menschen bewarben sich, 70.000 erhielten ein kostenfreies Interrailticket. Das Pilotprogramm lief so erfolgreich und sorgte europaweit für so viel Begeisterung, dass die EU-Kommission für den mehrjährigen Finanzplan 700 Millionen Euro für DiscoverEU vorsah.
Endstation: Europa
Doch dann kam Corona. Das letzte Segment des DiscoverEU Pilotprojektes wurde abgebrochen. Rund 20.000 junge Menschen mit einem Ticket wollten reisen, konnten es aber nicht. Und es war auf einmal völlig offen, wie und ob das Programm die Pandemie und die sich verändernden Haushaltsverhandlungen überhaupt überleben würde. Statt auf Reisen arbeiteten wir jetzt digital für die Idee. Im Dezember 2020 kam dann nach bangen Monaten die positive Meldung aus Brüssel: DiscoverEU ist dabei. Und als die Kommission dann im März 2021 verkündete, dass unsere Idee als „flagship initiative“ ein „integraler Bestandteil von Erasmus+“ werden würde, war unsere Erleichterung groß. Es war geschafft! Die Idee vom Abendbrottisch in Wien hat es über das Europäische Parlament und die nationalen Regierungen geschafft, ein eigenes und großes EU-Programm zu werden. Hunderttausende junge Menschen werden zukünftig mit dem Ticket durch Europa reisen. Die Idee wird Europa nachhaltig prägen und stärken können.
Was wir dabei gelernt haben? Dass Ideen aus der Zivilgesellschaft, mögen sie noch so ungewöhnlich sein, die Politik nachhaltig verändern und mit Engagement, Hingabe, Ausdauer, Resilienz und auch etwas Fügung eine Chance bekommen können.