Der Sozialheld: Raúl Krauthausen

Raúl Krauthausen ist einer der bekanntesten Aktivist*innen für Barrierefreiheit und Inklusion in Deutschland. Indem er den Finger in die Wunde legt, engagiert sich der Gründer des Vereines Sozialhelden für eine Welt, in der Menschen einander begegnen, ohne an Grenzen zu stoßen. Und erklärt, was das alles mit einer sozial gerechten Mobilitätswende zu tun hat.
Raúl Aguayo-Krauthausen sitzt nah am Computer. Auf dem Bildschirm ist sein Gesicht zu sehen, manchmal tauchen seine Hände auf. Er gestikuliert viel und lebhaft. Der 42-Jährige ist Deutschlands wohl bekanntester Aktivist für die Themen Inklusion und Barrierefreiheit – obwohl er, wie er sagt, nie „Berufsbehinderter“ werden wollte. Doch nun kennen ihn bundesweit viele Menschen. Und diejenigen, die mit seinem Namen zunächst nichts anfangen können, erinnern sich, ihn schon mal irgendwo in einer Talkshow oder in einer seiner eigenen Fernsehsendungen, etwa im MDR, gesehen zu haben, wenn sie seine Beschreibung hören. Krauthausen trägt Schirmmütze und Hornbrille. Er hat braune Augen, einen Vollbart und ein breites, sympathisches Lachen.
Durch seinen Rollstuhl, in dem er von Geburt an sitzt, stößt Raúl Krauthausen im Alltag oft an Grenzen. Wenn er U-Bahn fährt und es keinen Aufzug gibt oder beim Einwerfen eines Briefes, wenn der Briefkastenschlitz zu hoch ist. Wie geht der Blogger, Podcaster, Moderator und Autor mit solchen Erfahrungen um? Wo sind im Laufe seines Lebens die Barrieren mehr geworden, wo konnten welche abgebaut werden? Und warum hat er inzwischen keine Lust mehr, von seinen eigenen Diskriminierungserfahrungen zu sprechen? Um diese Fragen geht es in einem langen Gespräch an einem herbstlichen Tag Anfang November. Das Interview findet in seiner Make-Time statt. Krauthausen unterteilt den Tag in drei Abschnitte: „Morgens Me-Time mit Aufstehen und Kaffeetrinken. Dann Meet-Time, in der ich in (Online-)Meetings sitze. Nachmittags ist Make-Time, in der ich die angestoßenen Dinge in die Tat umsetze. Wenn es gut läuft, höre ich um 18 Uhr auf, zu arbeiten. Wobei ich schon jemand bin, der eher zu viel als zu wenig macht.“

Im ersten integrativen Kindergarten Deutschlands
1980 kam er in Lima zur Welt, der Hauptstadt Perus. Die Eltern hatten sich in dem südamerikanischen Andenstaat kennengelernt. Als er ein Jahr war, zogen sie wegen des besseren Gesundheitssystems nach Deutschland, in die Heimat seiner Mutter. Sie gingen nach Westberlin: „Die Stadt kam als einzige für sie infrage, da sie politisch alternativ angehaucht waren“, erzählt Krauthausen. Er besuchte den ersten integrativen Kindergarten Deutschlands – eher aus Zufall, denn die Eltern hatten eine Familie kennengelernt, die ebenfalls ein Kind mit Behinderung hatte. „Meine Eltern sind dann einfach deren Fußstapfen gefolgt.“ Anschließend kam er in eine integrative Grundschule und ein ebensolches Gymnasium. Heute lernt von etwa 545.000 Kindern und Jugendlichen mit sogenanntem sonderpädagogischen Förderbedarf nur etwas weniger als die Hälfte an allgemeinen Schulen. Damals war eine solche Form des gemeinsamen Lernens eine absolute Rarität: „Deshalb kamen häufig Anfragen von Fernsehsendern, die über unseren Schulalltag berichten wollten. Und nachdem ich einmal beim ZDF war, rief eines Tages Roger Willemsen bei uns zu Hause an und fragte, ob ich mit ihm zusammen eine Gala der Aktion Mensch moderieren wollte. Das hab ich gemacht – und so kam der Stein ins Rollen.“
Eine Karte rollstuhlgerechter Orte
Raúl Krauthausen studierte zunächst Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation und Design-Thinking in Berlin. Danach, im Job, stellte er relativ schnell fest, dass es ihm zu wenig ist, in der Werbebranche zum Beispiel Kampagnen für Autos zu entwickeln. „Das ist nett, und ich habe eine Menge gelernt, aber es ist auch irgendwie sinnfrei. Also habe ich mich gefragt, ob ich das, was ich studiert habe, nicht für etwas anderes einsetzen kann – und da lag es nahe, sich für die Rechte behinderter Menschen stark zu machen.“ 2004 gründete Krauthausen den Verein Sozialhelden. Mit diesem Netzwerk ehrenamtlicher Mitarbeiter*innen möchte er Menschen für gesellschaftliche Probleme sensibilisieren und sie dadurch zum Umdenken bewegen.
Ich habe mich gefragt, ob ich das, was ich studiert habe, nicht für etwas anderes einsetzen kann – und da lag es nahe, sich für die Rechte behinderter Menschen stark zu machen.
Zahlreiche Ideen sind bereits Wirklichkeit geworden. So hängen in vielen Supermärkten neben den Rückgabeautomaten für Altglas und PET-Flaschen Spendenboxen für den Pfandbon. Vom Geld, das auf diese Weise zusammenkommt, profitieren durch Krauthausens Aktion „Phantastisch helfen“ die Tafeln, die Lebensmittel retten und an Bedürftige verteilen. Und mit Wheelmap entwickelte der Aktivist eine Onlinekarte rollstuhlgerechter Orte, an der jede*r – vergleichbar mit Wikipedia – mitwirken und Plätze eintragen kann, die barrierefrei zugänglich sind oder die über eine rollstuhlgerechte Toilette verfügen. Mit solchen Projekten möchte Krauthausen nicht nur Orientierung bieten. Er möchte auch Cafébetreiber*innen, Kinobesitzer*innen und Mitarbeitende von Behörden zum Umdenken und Handeln bewegen, damit sie sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten für mehr Barrierefreiheit einsetzen. „Davon profitieren natürlich nicht nur die 1,6 Millionen Rollstuhlfahrer*innen in Deutschland, sondern ebenso Menschen mit Rollatoren oder Familien mit Kinderwagen.“



Ungerechte Entlohnung für Menschen mit Behinderung
Die Karte umfasst inzwischen mehr als zwei Millionen Informationen zur Barrierefreiheit, täglich kommen etwa 300 neue Orte hinzu. Reicht das? „Es tut sich nicht genug“, sagt Raúl Krauthausen knapp, und auch wenn er in erster Linie über Barrierefreiheit mit dem Rollstuhl spricht, meint er auch andere Menschen mit Behinderungen: etwa Blinde, die oftmals ohne Bodenanzeigen für den Langstock und unterschiedlich hohe Kantsteine an den Straßen leben müssen. Gehörlose, die einen kostenlosen Dolmetscher für Gebärdensprache bei Behördengängen vermissen. Oder kognitiv eingeschränkte Menschen, die Informationsblätter in Leichter Sprache besser verstehen würden. Deshalb begrüßt Krauthausen Initiativen wie das Bündnis sozialverträgliche Mobilitätswende von Gewerkschaften, Sozial-, Wohlfahrts- und Umweltverbänden sowie der Evangelischen Kirche, das sich für eine ökologische und sozial gerechte Mobilitätswende einsetzt.
Auf dem Weg in eine weitgehend barrierefreie Welt sei eine der wichtigsten Fragen diejenige nach der Macht: Wer entscheidet? Die Busfahrerin, die sagt, sie habe keine Zeit, die Rampe für Rollstuhlfahrende auszuklappen? Früher, so erzählt Raúl Krauthausen, sei ihm genau das passiert. Heute ist es schlicht verboten. „Aber immer noch hören wir den falschen Menschen zu – und dadurch werden manche Dinge erst sagbar. Wenn zum Beispiel eine aus verständlichen Gründen überforderte Grundschullehrerin klagt, ein behindertes Kind sei in ihrer Klasse nicht tragbar. Dann wird das Kind als Belastung gesehen, statt ihm ein Recht auf Teilhabe einzuräumen. Dieses Recht könnten ihm Politiker*innen geben. Etwa indem sie mehr Personal an Schulen finanzieren.“

Perspektivenwechsel schafft Empathie
Raúl Krauthausen umrahmt sein Gesicht mit beiden Händen, streicht sich durch den Bart, er überlegt. Man spürt: Er stellt sich auf seine Gesprächspartner*innen ein. Baut Verständnisrampen, damit sie, aus ihrer Welt kommend, seine Erfahrungen leichter nachvollziehen können. Und jetzt möchte er Worte dafür finden, dass vor allem wichtig wäre, dass zum Kreis der Mandatsträger*innen auch behinderte Menschen gehören. Damit nicht Menschen ohne Behinderung über Menschen mit Behinderung entscheiden. „Du kennst doch die Apple Watch“, sagt er schließlich. „Die trackt unter anderem die Fitness der Träger*innen. In den ersten zwei Jahren nach ihrem Erscheinen verfügte sie über keine Funktion, mit der sich der Menstruationszyklus der Frau berücksichtigen ließ.“ Dabei belegen wissenschaftliche Studien, dass der Zyklus einen Einfluss auf die Fitness hat. Wie konnte das passieren, fragten sich die Verantwortlichen bei Apple. „Nun: Es stellte sich heraus, dass an der Entwicklung der Smartwatch nur Männer beteiligt waren“, erzählt Krauthausen. Leider sei es heute immer noch so, dass in vielen Wohlfahrtsverbänden, Jurys und Gremien ausschließlich nicht behinderte Menschen säßen. „Da wünsche ich mir für die Zukunft mehr Vielfalt. Damit nicht blinde Menschen beispielsweise einen Geldautomaten bedienen können und dieser damit als barrierefrei gilt. Obwohl er sich in einem Gebäude befindet, zu dem Stufen führen und er damit für gehbehinderte Menschen unerreichbar ist.“
Den Finger in die Wunde legen
Und was ist mit Wut? Vieles von dem, was er erzählt, ist ungerecht und macht wütend. Zum Beispiel die Tatsache, dass in Deutschland etwa 320.000 Menschen mit Behinderung in Werkstätten arbeiten – allerdings ohne Anspruch auf Mindestlohn. Sie verdienen in den Werkstätten laut einer Studie des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales durchschnittlich nur 220 Euro im Monat. Und das, obwohl sie für finanzstarke Unternehmen wie Volkswagen tätig sind. „Als Jens Spahn noch Staatssekretär im Bundesfinanzministerium war, hat er einmal mir gegenüber eingeräumt, dass der Staat durch Subventionen immer mehr Geld für behinderte Menschen ausgibt, dieses Geld aber nie bei den Betroffenen ankommt. Stattdessen versickert es in irgendwelchen Strukturen der Wohlfahrt, die niemand mehr durchschaut und niemand mehr wirklich hinterfragt. Im Englischen gibt für eine Industrie, die von behinderten Menschen lebt, einen Begriff. Er heißt plods – people living of disableds.“ Ungerechtigkeit, wieder einmal. „Natürlich macht es mich wütend. Trotzdem ist Wut nicht meine vorherrschende Emotion“, sagt Krauthausen. „Aber ich bin Aktivist geworden, um dieser und anderen unfairen Dingen etwas entgegenzusetzen.“
Aus diesem Grund erzählt er inzwischen auch nicht mehr gerne private Geschichten. „Früher hab ich das gemacht. Und früher ging es mir wie bei der Wheelmap teilweise auch um mich selbst. Darum, wie ich mein Leben durch die Onlinekarte verbessern kann. Heute kämpfe ich mit anderen Aktivist*innen für selbstbestimmte Teilhabe und Teilgabe von behinderten Menschen.“ Wenn er über sein persönliches Schicksal spreche, zielten die nächsten Fragen der Journalist*innen auf seine Behinderung ab, seine medizinische Diagnose. „Das lenkt vom Thema ab. Das Thema bin nicht ich, sondern fehlende Barrierefreiheit, fehlende Selbstbestimmung und fehlende Rechte behinderter Menschen.“
Bündnis sozialverträgliche Mobilitätswende
Wie kann eine sozial gerechte und ökologische Mobilitätswende gelingen? Dieser Frage widmet sich das Bündnis sozialverträgliche Mobilitätswende. Der Zusammenschluss aus Wohlfahrts- und Sozialverbänden, Gewerkschaften, Umweltverbänden und der Evangelischen Kirche in Deutschland vertritt viele Millionen Bürger*innen in Deutschland. Alle Beteiligten beschäftigen sich aus unterschiedlichen Gründen mit dem Thema Mobilität und sehen dringenden Handlungsbedarf.