Der Sozialheld: Raúl Krauthausen

Raúl Krauthausen
Der Sozialheld: Raúl Krauthausen
Autorin: Carola Hoffmeister 15.11.2022

Raúl Krauthausen ist einer der bekanntesten Aktivist*innen für Barriere­freiheit und Inklusion in Deutschland. Indem er den Finger in die Wunde legt, engagiert sich der Gründer des Vereines Sozial­helden für eine Welt, in der Menschen einander begegnen, ohne an Grenzen zu stoßen. Und erklärt, was das alles mit einer sozial gerechten Mobilitäts­wende zu tun hat.

Raúl Aguayo-Krauthausen sitzt nah am Computer. Auf dem Bildschirm ist sein Gesicht zu sehen, manchmal tauchen seine Hände auf. Er gestikuliert viel und lebhaft. Der 42-Jährige ist Deutschlands wohl bekanntester Aktivist für die Themen Inklusion und Barriere­freiheit – obwohl er, wie er sagt, nie „Berufs­behinderter“ werden wollte. Doch nun kennen ihn bundes­weit viele Menschen. Und diejenigen, die mit seinem Namen zunächst nichts anfangen können, erinnern sich, ihn schon mal irgendwo in einer Talkshow oder in einer seiner eigenen Fern­seh­sendungen, etwa im MDR, gesehen zu haben, wenn sie seine Beschreibung hören. Krauthausen trägt Schirm­mütze und Horn­brille. Er hat braune Augen, einen Vollbart und ein breites, sympathisches Lachen.

Durch seinen Rollstuhl, in dem er von Geburt an sitzt, stößt Raúl Krauthausen im Alltag oft an Grenzen. Wenn er U-Bahn fährt und es keinen Aufzug gibt oder beim Einwerfen eines Briefes, wenn der Brief­kasten­schlitz zu hoch ist. Wie geht der Blogger, Podcaster, Moderator und Autor mit solchen Erfahrungen um? Wo sind im Laufe seines Lebens die Barrieren mehr geworden, wo konnten welche abgebaut werden? Und warum hat er inzwischen keine Lust mehr, von seinen eigenen Diskriminierungs­erfahrungen zu sprechen? Um diese Fragen geht es in einem langen Gespräch an einem herbstlichen Tag Anfang November. Das Interview findet in seiner Make-Time statt. Krauthausen unterteilt den Tag in drei Abschnitte: „Morgens Me-Time mit Aufstehen und Kaffee­trinken. Dann Meet-Time, in der ich in (Online-)Meetings sitze. Nachmittags ist Make-Time, in der ich die angestoßenen Dinge in die Tat umsetze. Wenn es gut läuft, höre ich um 18 Uhr auf, zu arbeiten. Wobei ich schon jemand bin, der eher zu viel als zu wenig macht.“

Raúl Krauthausen
Raúl Aguayo-Krauthausen kam 1980 in Lima zur Welt und lebt heute in Berlin. Dort gründete er 2004 den Verein Sozialhelden. © Anna Spindelndreier | Gesellschaftsbilder.de

Im ersten integrativen Kindergarten Deutschlands

1980 kam er in Lima zur Welt, der Hauptstadt Perus. Die Eltern hatten sich in dem süd­amerikanischen Anden­staat kennen­gelernt. Als er ein Jahr war, zogen sie wegen des besseren Gesund­heits­systems nach Deutschland, in die Heimat seiner Mutter. Sie gingen nach West­berlin: „Die Stadt kam als einzige für sie infrage, da sie politisch alternativ angehaucht waren“, erzählt Krauthausen. Er besuchte den ersten integrativen Kinder­garten Deutschlands – eher aus Zufall, denn die Eltern hatten eine Familie kennen­gelernt, die eben­falls ein Kind mit Behinderung hatte. „Meine Eltern sind dann einfach deren Fußstapfen gefolgt.“ Anschließend kam er in eine integrative Grundschule und ein ebensolches Gymnasium. Heute lernt von etwa 545.000 Kindern und Jugendlichen mit sogenanntem sonder­pädagogischen Förder­bedarf nur etwas weniger als die Hälfte an allgemeinen Schulen. Damals war eine solche Form des gemeinsamen Lernens eine absolute Rarität: „Deshalb kamen häufig Anfragen von Fernseh­sendern, die über unseren Schul­alltag berichten wollten. Und nachdem ich einmal beim ZDF war, rief eines Tages Roger Willemsen bei uns zu Hause an und fragte, ob ich mit ihm zusammen eine Gala der Aktion Mensch moderieren wollte. Das hab ich gemacht – und so kam der Stein ins Rollen.“

Eine Karte roll­stuhl­gerechter Orte

Raúl Krauthausen studierte zunächst Gesellschafts- und Wirtschafts­kommunikation und Design-Thinking in Berlin. Danach, im Job, stellte er relativ schnell fest, dass es ihm zu wenig ist, in der Werbe­branche zum Beispiel Kampagnen für Autos zu entwickeln. „Das ist nett, und ich habe eine Menge gelernt, aber es ist auch irgendwie sinnfrei. Also habe ich mich gefragt, ob ich das, was ich studiert habe, nicht für etwas anderes einsetzen kann – und da lag es nahe, sich für die Rechte behinderter Menschen stark zu machen.“ 2004 gründete Krauthausen den Verein Sozial­helden. Mit diesem Netzwerk ehren­amtlicher Mitarbeiter*innen möchte er Menschen für gesellschaftliche Probleme sensibilisieren und sie dadurch zum Umdenken bewegen.

Ich habe mich gefragt, ob ich das, was ich studiert habe, nicht für etwas anderes einsetzen kann – und da lag es nahe, sich für die Rechte behinderter Menschen stark zu machen.

Raúl Krauthausen, Aktivist für Barriere­freiheit

Zahlreiche Ideen sind bereits Wirklichkeit geworden. So hängen in vielen Super­märkten neben den Rück­gabe­automaten für Altglas und PET-Flaschen Spenden­boxen für den Pfandbon. Vom Geld, das auf diese Weise zusammen­kommt, profitieren durch Krauthausens Aktion „Phantastisch helfen“ die Tafeln, die Lebensmittel retten und an Bedürftige verteilen. Und mit Wheelmap entwickelte der Aktivist eine Online­karte roll­stuhl­gerechter Orte, an der jede*r – vergleichbar mit Wikipedia – mitwirken und Plätze eintragen kann, die barriere­frei zugänglich sind oder die über eine roll­stuhl­gerechte Toilette verfügen. Mit solchen Projekten möchte Krauthausen nicht nur Orientierung bieten. Er möchte auch Café­betreiber*innen, Kino­besitzer*innen und Mitarbeitende von Behörden zum Umdenken und Handeln bewegen, damit sie sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten für mehr Barriere­freiheit einsetzen. „Davon profitieren natürlich nicht nur die 1,6 Millionen Roll­stuhl­fahrer*innen in Deutschland, sondern ebenso Menschen mit Rollatoren oder Familien mit Kinderwagen.“

Raúl Krauthausen vor einem ICE
Seit dem 1. Januar 2022 soll der öffentliche Verkehr barrierefrei sein. So sieht es ein 2009 beschlossenes Bundesgesetz vor. © Andi Weiland | Gesellschaftsbilder.de
Raúl Krauthausen in einem Bahnhof
Doch noch immer fehlen Aufzüge und Rampen. Orientierung bietet Raúl Krauthausens Wheelmap, eine Online-Karte zum Finden und Markieren rollstuhlgerechter Orte. © Andi Weiland | Gesellschaftsbilder.de
Raúl Krauthausen in einem Fahrstuhl
Die hilft auch Senioren, Familien mit kleinen Kindern oder Reisenden mit schwerem Gepäck. Fast jeder Mensch ist in seinem Leben irgendwann auf Hilfe durch Aufzüge und Rolltreppen angewiesen. © Andi Weiland | Gesellschaftsbilder.de

Ungerechte Entlohnung für Menschen mit Behinderung

Die Karte umfasst inzwischen mehr als zwei Millionen Informationen zur Barriere­freiheit, täglich kommen etwa 300 neue Orte hinzu. Reicht das? „Es tut sich nicht genug“, sagt Raúl Krauthausen knapp, und auch wenn er in erster Linie über Barriere­freiheit mit dem Rollstuhl spricht, meint er auch andere Menschen mit Behinderungen: etwa Blinde, die oftmals ohne Bodenanzeigen für den Langstock und unterschiedlich hohe Kantsteine an den Straßen leben müssen. Gehörlose, die einen kostenlosen Dolmetscher für Gebärden­sprache bei Behörden­gängen vermissen. Oder kognitiv eingeschränkte Menschen, die Informations­blätter in Leichter Sprache besser verstehen würden. Deshalb begrüßt Krauthausen Initiativen wie das Bündnis sozial­verträgliche Mobilitäts­wende von Gewerkschaften, Sozial-, Wohlfahrts- und Umwelt­verbänden sowie der Evangelischen Kirche, das sich für eine ökologische und sozial gerechte Mobilitäts­wende einsetzt.

Auf dem Weg in eine weitgehend barriere­freie Welt sei eine der wichtigsten Fragen diejenige nach der Macht: Wer entscheidet? Die Bus­fahrerin, die sagt, sie habe keine Zeit, die Rampe für Roll­stuhl­fahrende aus­zu­klappen? Früher, so erzählt Raúl Krauthausen, sei ihm genau das passiert. Heute ist es schlicht verboten. „Aber immer noch hören wir den falschen Menschen zu – und dadurch werden manche Dinge erst sagbar. Wenn zum Beispiel eine aus verständlichen Gründen über­forderte Grund­schul­lehrerin klagt, ein behindertes Kind sei in ihrer Klasse nicht tragbar. Dann wird das Kind als Belastung gesehen, statt ihm ein Recht auf Teilhabe ein­zu­räumen. Dieses Recht könnten ihm Politiker*innen geben. Etwa indem sie mehr Personal an Schulen finanzieren.“

Raúl Krauthausens ist ein versierter Ansprechpartner für Journalist*innen, wenn es um die Themen Inklusion und Barriefreiheit oder andere Belange von Menschen mit Behinderung geht.
Raúl Krauthausens ist ein versierter Ansprechpartner für Journalist*innen, wenn es um die Themen Inklusion und Barriefreiheit oder andere Belange von Menschen mit Behinderung geht. © Andi Weiland | www.gesellschaftsbilder.de

Perspektiven­wechsel schafft Empathie

Raúl Krauthausen umrahmt sein Gesicht mit beiden Händen, streicht sich durch den Bart, er überlegt. Man spürt: Er stellt sich auf seine Gesprächs­partner*innen ein. Baut Verständnis­rampen, damit sie, aus ihrer Welt kommend, seine Erfahrungen leichter nach­voll­ziehen können. Und jetzt möchte er Worte dafür finden, dass vor allem wichtig wäre, dass zum Kreis der Mandats­träger*innen auch behinderte Menschen gehören. Damit nicht Menschen ohne Behinderung über Menschen mit Behinderung entscheiden. „Du kennst doch die Apple Watch“, sagt er schließlich. „Die trackt unter anderem die Fitness der Träger*innen. In den ersten zwei Jahren nach ihrem Erscheinen verfügte sie über keine Funktion, mit der sich der Menstruations­zyklus der Frau berücksichtigen ließ.“ Dabei belegen wissenschaftliche Studien, dass der Zyklus einen Einfluss auf die Fitness hat. Wie konnte das passieren, fragten sich die Verantwortlichen bei Apple. „Nun: Es stellte sich heraus, dass an der Entwicklung der Smartwatch nur Männer beteiligt waren“, erzählt Krauthausen. Leider sei es heute immer noch so, dass in vielen Wohl­fahrts­verbänden, Jurys und Gremien ausschließlich nicht behinderte Menschen säßen. „Da wünsche ich mir für die Zukunft mehr Vielfalt. Damit nicht blinde Menschen beispiels­weise einen Geld­automaten bedienen können und dieser damit als barriere­frei gilt. Obwohl er sich in einem Gebäude befindet, zu dem Stufen führen und er damit für gehbehinderte Menschen unerreichbar ist.“

Den Finger in die Wunde legen

Und was ist mit Wut? Vieles von dem, was er erzählt, ist ungerecht und macht wütend. Zum Beispiel die Tatsache, dass in Deutschland etwa 320.000 Menschen mit Behinderung in Werkstätten arbeiten – allerdings ohne Anspruch auf Mindestlohn. Sie verdienen in den Werkstätten laut einer Studie des Bundes­ministeriums für Arbeit und Soziales durch­schnittlich nur 220 Euro im Monat. Und das, obwohl sie für finanz­starke Unternehmen wie Volkswagen tätig sind. „Als Jens Spahn noch Staats­sekretär im Bundes­finanz­ministerium war, hat er einmal mir gegen­über eingeräumt, dass der Staat durch Subventionen immer mehr Geld für behinderte Menschen ausgibt, dieses Geld aber nie bei den Betroffenen ankommt. Statt­dessen versickert es in irgendwelchen Strukturen der Wohl­fahrt, die niemand mehr durch­schaut und niemand mehr wirklich hinterfragt. Im Englischen gibt für eine Industrie, die von behinderten Menschen lebt, einen Begriff. Er heißt plods – people living of disableds.“ Ungerechtigkeit, wieder einmal. „Natürlich macht es mich wütend. Trotzdem ist Wut nicht meine vorherrschende Emotion“, sagt Krauthausen. „Aber ich bin Aktivist geworden, um dieser und anderen unfairen Dingen etwas ent­gegen­zu­setzen.“

Aus diesem Grund erzählt er inzwischen auch nicht mehr gerne private Geschichten. „Früher hab ich das gemacht. Und früher ging es mir wie bei der Wheelmap teilweise auch um mich selbst. Darum, wie ich mein Leben durch die Onlinekarte verbessern kann. Heute kämpfe ich mit anderen Aktivist*innen für selbst­bestimmte Teilhabe und Teilgabe von behinderten Menschen.“ Wenn er über sein persönliches Schicksal spreche, zielten die nächsten Fragen der Journalist*innen auf seine Behinderung ab, seine medizinische Diagnose. „Das lenkt vom Thema ab. Das Thema bin nicht ich, sondern fehlende Barrierefreiheit, fehlende Selbst­bestimmung und fehlende Rechte behinderter Menschen.“


Bündnis sozial­verträgliche Mobilitäts­wende

Wie kann eine sozial gerechte und ökologische Mobilitäts­wende gelingen? Dieser Frage widmet sich das Bündnis sozial­verträgliche Mobilitäts­wende. Der Zusammen­schluss aus Wohlfahrts- und Sozial­verbänden, Gewerkschaften, Umwelt­verbänden und der Evangelischen Kirche in Deutschland vertritt viele Millionen Bürger*innen in Deutschland. Alle Beteiligten beschäftigen sich aus unter­schiedlichen Gründen mit dem Thema Mobilität und sehen dringenden Handlungs­bedarf.

www.stiftung-mercator.de/sozial-gerechte-mobilitaetswende/