Kanada und NRW: Zusammen ist man weniger CO2
Die kanadische Provinz Alberta und Deutschlands bevölkerungsreichstes Bundesland Nordrhein-Westfalen haben auf den ersten Blick wenig gemeinsam. Beim Thema Energiewende und Klimaschutz kommen Leonid Oukrainski und Heinz-Uwe Lewe aber schnell auf einen Nenner: Wasserstoff ist essenziell für die Umstellung ihrer Industrie auf einen kohlenstoffarmen Betrieb. Zusammen mit neun weiteren Regionalregierungen suchen sie beim Projekt Industry Transition Platform (ITP) nach Lösungsansätzen, wie hoch industrialisierte Regionen Emissionen senken und gleichzeitig Arbeitsplätze und Wohlstand fördern können.
Es gibt Tage, an denen Leonid Oukrainski die Rehe vor seinem Bürofenster zählt. „Fünf sind keine Seltenheit, zwei bis drei ziemlich normal. Schon verrückt, oder? Mit mehr als 970.000 Einwohner*innen ist Edmonton eine Großstadt und trotzdem herrlich nah an der Natur“, sagt der 55-Jährige. Sein Blick wandert in Richtung North Saskatchewan River, der sich hinter dem Whitemud Equestrian Park durch die Hauptstadt der kanadischen Provinz Alberta schlängelt. An diesem Morgen bleiben die Rehe fern. „Klassischer Vorführeffekt“, lacht Oukrainski und zückt sein Handy, um „Beweisbilder“ zu zeigen.
So schön die Aussicht dank riesiger Rundum-Glasfenster auch ist: Der quirlige Kanadier hält sich eher selten im weitläufigen Regierungsgebäude auf, in dem das Ministerium für Infrastruktur der Provinz Alberta untergebracht ist. Das liege weniger an der Coronakrise oder der Möglichkeit, von zu Hause zu arbeiten. Als Executive Director kümmert sich der studierte Ingenieur um die Bedürfnisse der Bewohner*innen und die der Industrie und Unternehmen der Provinz – also um soziale Programme, Dienstleistungen sowie die wirtschaftliche Entwicklung. Dazu passe die Unbeweglichkeit eines Bürogebäudes nicht, erklärt Oukrainski, der stattdessen auf ein mobiles Modell setzt.
Office auf vier Rädern
„Ich habe meinen rund 400 Mitarbeiter*innen versprochen, sie alle mindestens einmal im Jahr zu besuchen. Deshalb verbringe ich die meiste Zeit in meinem Office auf vier Rädern“, sagt Oukrainski. „Mein Auto ist mit allem Wichtigen ausgestattet: mit einem Satellitentelefon, einem speziellen Computer, dem Wackeln nichts ausmacht, einem Bildschirm für Video-Calls und natürlich mit Allradantrieb.“
Ohne all das geht in der spektakulär schönen Provinz im Nordwesten Kanadas nichts. Die Winter sind kalt und schneereich, im Sommer werden Schotterwege oft durch spontane Schauer zu Matschpisten. Die nahen Rocky Mountains sind beeindruckend, aber immer für Wetterüberraschungen gut. Alberta ist so groß wie Deutschland und Italien zusammen: In dreieinhalb Jahren hat Oukrainski daher bereits über 100.000 Kilometer zurückgelegt. „Um zu wissen, was in der Provinz passiert, muss ich nahe dran sein“, meint er.
Nordamerikaner*innen würden Oukrainski als „people person“ bezeichnen: energiegeladen, aufgeschlossen, freundlich – und, wie er selbst sagt, „ein ewiger Optimist“. Das spiegelt sich auch in seinen Erwartungen für die Zukunft Albertas wider, wo seit Jahrzehnten Öl-, Kohle- und Gasindustrien die Identität der rohstoffreichen Provinz bestimmen. Dennoch zählen Nachhaltigkeit und Klimaverträglichkeit mittlerweile zu den Top-Themen. „Das Vorantreiben der Dekarbonisierung ist das große Ziel unserer Region: Wir wollen führend bei der Kohlenstoffabscheidung und der Wasserstoffproduktion sein“, sagt Oukrainski mit Nachdruck.
Austausch und Unterstützung für innovative Strategien
Die Einladung zur Teilnahme an der Industry Transition Platform (ITP), einem Gemeinschaftsprojekt der Non-Profit-Organisation The Climate Group und der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen, kam 2019 zum perfekten Zeitpunkt. Albertas Regierung suchte gerade verstärkt nach Lösungsansätzen zum Thema Wasserstoff. Dass sich beim ITP-Projekt zwei Jahre lang Menschen aus Landes- und Regionalregierungen aus elf hoch industrialisierten Regionen (Europa, USA, Kanada) austauschen und in Gruppen arbeiten, motivierte Oukrainski enorm.
Dass zudem Vertreter*innen aus der Industrie, Expert*innen für den Systemwandel und Forscher*innen den Teilnehmer*innen maßgeschneiderte technische Unterstützung bieten, damit die Regierungen innovative Strategien zur Reduzierung der Industrieemissionen entwickeln können, passt genau zur Einstellung des Ingenieurs.
„Meiner Meinung nach müssen Regierungen den ersten Schritt machen und zeigen, was möglich ist. So lassen sich neue Technologien dem täglichen Betrieb näherbringen und öffentlich akzeptabel machen. Dann erst übernimmt es die Privatwirtschaft.“ Das sei ein bisschen wie in der Raumfahrt, überlegt Oukrainski. Erst konnten nur große Staaten wie die USA, Russland und China ins All fliegen. Heute können das auch Privatpersonen.
„Wasserstoff ist die Zukunft!“
Alberta produziert zwar Wasserstoff, laut Oukrainski momentan aber noch hauptsächlich für den internen Industriegebrauch. Ziel ist es, das Element als Energieträger in den Alltagsgebrauch einzuführen. Für ihn steht fest: „Wasserstoff ist die Zukunft!“
Heinz-Uwe Lewe kann zu diesem Kommentar des Kanadiers nur nicken und im Homeoffice in Duisburg beide Daumen nach oben strecken. Der 32-Jährige arbeitet im Ministerium für Wirtschaft, Innovation, Digitalisierung und Energie des Landes Nordrhein-Westfalen. Genauer: im Referat VII.5, das sich mit sektorübergreifenden Energiesystemen der Zukunft, Klimaschutz in der Industrie und Energieeffizienz beschäftigt. Normalerweise könnte er, ähnlich wie Oukrainski, einen aufregenden Blick aus großen Glasfenstern zeigen – ohne Rehe in diesem Fall, dafür mit dem nahen Rheinufer.
Mit Beginn der Pandemie wurden eine große Holzplatte sowie ein paar Holzblöcke aus der Garage der Eltern zum Schreibtisch im Schlafzimmer umfunktioniert. „Meine Verlobte ist Lehrerin. Sie unterrichtet im eigentlichen Arbeitszimmer ihre Kiddies per Online-Unterricht“, sagt Lewe und zeigt auf die nächste Tür im Gang. Zum Frühstück, Mittag- und Abendessen treffen sich die beiden in der Küche oder im Wohnzimmer. Beide Räume sollen unbedingt „arbeitsfrei“ bleiben.
Energie ja – aber bitte nachhaltig
Der großgewachsene Duisburger mit der dunklen Brille und dem lässigen Lockenschopf hat Nachhaltige Energieplanung studiert und sieht hier großes Potenzial: „Energie ist die Basis für so viele Dinge. Wir brauchen Energie. Die große Frage ist, wie wir sie klimafreundlich herstellen“, sagt er.
Die ITP-Teilnahme war für ihn ein Selbstläufer: Lewe hat bereits am Vorgänger, der Energy Transition Platform (ETP), mitgearbeitet und war begeistert. Die Zusammenarbeit der Landesvertreter*innen von Alberta, Hauts-de-France im Norden Frankreichs, Schottland und der Provinz Zuid-Holland in einer der ITP-Innovation-Groups „hat sich ganz organisch ergeben“. Bei den ersten Gesprächen der Teilnehmer*innen sei in bestimmten Regionen das Schlüsselwort Wasserstoff überproportional oft gefallen. Die „Hydrogen Action Group“ war geboren.
„Es war spannend und gleichzeitig motivierend zu sehen, dass selbst grundverschiedene Regionen und Nationalitäten letztlich am gleichen Ziel arbeiten. Und das, obwohl jede*r mit anderen Problemen kämpft oder einen anderen Ansatz hat“, sagt Lewe. Dieser Erfahrungsaustausch, da sind sich der Deutsche und der Kanadier einig, entwickelte sich in den zwei Jahren des Projekts zur Wissensgoldgrube. „So hat Schottland beispielsweise zur gleichen Zeit an einer ähnlichen Strategie gearbeitet, als wir für NRW die Wasserstoff-Roadmap entwickelten“, sagt er.
Industrienationen stehen in der Verantwortung
Wasserstoff sieht auch er als Weg zur Klimaneutralität. „Solar- und Windenergie sind die Grundlage für alles, keine Frage. Aber es gibt viele Prozesse, insbesondere in der Industrie, die nicht nur mit erneuerbarem Strom funktionieren würden. Da braucht man einfach Wasserstoff.“ Es ist später Nachmittag, und Lewe gönnt sich einen „Kopf durchpusten“-Spaziergang durch den Landschaftspark Duisburg-Nord. Das 180-Hektar-Areal um ein stillgelegtes Hüttenwerk wurde zum weitläufigen Stadtpark umfunktioniert.
Vor ihm breitet sich ein Geflecht aus massiven Stahlstreben aus, dahinter ragt ein wuchtiger Schornstein in den Himmel. Lewe bleibt vor einer Erklärtafel zum „Möllerbunker“ stehen und studiert, wie einst Erz, Koks und Zuschlagstoffe per Schrägaufzug zum Hochofen befördert wurden. „Als Industrienation haben wir eine tragende Verantwortung, da stimme ich Leonid zu“, nickt er. Vor allem in rohstoffreichen Provinzen und Bundesländern wie Alberta und NRW seien Regionalregierungen gefordert, beispielsweise innovative Projekte voranzutreiben.
„Die deutsche Industrie ist offen und engagiert“
„In den vergangenen Jahren hat sich gezeigt, dass man mit der Industrie direkt über neue Prozesse sprechen kann und muss. Die deutsche Industrie ist sehr offen und engagiert.“ Aber natürlich seien mit Veränderungen auch große Ängste verbunden – vor allem, wenn dabei Arbeitsplätze wegzufallen drohten.
Gerade dieses Thema stand bei den dreitägigen ITP-Workshops immer auf dem Programm. Während sich die Teilnehmer*innen bei den ersten beiden Events in Mailand und Lille persönlich treffen konnten, liefen zwei weitere virtuell ab. „Schade“, sagt Oukrainski, „die direkte Zusammenarbeit ist immer netter, für mich durch den Jetlag allerdings auch anstrengender.“
Seit Corona hätte sich der Zeitplan aber zugunsten der Teilnehmer*innen aus Alberta, Kalifornien, Quebec und Minnesota verschoben. Die Workshops beginnen nun am europäischen Nachmittag und damit perfekt für „meinen ersten Tee am Morgen“, freut sich der bekennende Frühaufsteher.
„Dekarbonisierung ist keine hereinbrechende Finsternis“
Kaffee trinke Oukrainski kaum. „Mehr Energie kann ich den Kolleg*innen nicht antun“, erklärt er lachend. Er hebt den Zeigefinger, um nachzuspielen, wie er beim ITP-Event in Lille der Runde eines klar machen wollte: „We don‘t cut jobs, no! We replace them!“ („Wir streichen keine Stellen, wir ersetzen sie!“) Das klinge vielleicht wie ein Slogan, doch genau das sei nun mal das Ziel – und alle hätten zugestimmt. Man wolle Branchen nicht eliminieren, sondern umformen und müsse dabei transparent bleiben, um Vertrauen zu schaffen. „Wir müssen Angestellten, Unternehmensführungen und Gesellschaften deutlich machen: Dekarbonisierung ist keine hereinbrechende Finsternis, sondern eine positive Entwicklung!“
„Das war für mich einer dieser Aha-Momente beim ITP-Projekt“, erinnert sich Lewe. „Zu erkennen, dass alle Regionen auf ihrem Weg zum Einsatz erneuerbarer Energien ähnlichen Ängsten und Vorurteilen gegenüberstehen. Wir sitzen im gleichen Boot.“ Auch NRW konzentriere sich darauf, Unternehmen bei der Umstrukturierung zu unterstützen. So könnten beispielsweise Hersteller großer Turbinen für Kraftwerke, die mit Erdgas arbeiten oder mit Kohle befeuert werden, ihre Produktion auf Turbinen umstellen, die zukünftig mit Wasserstoff funktionieren.
„Das sind Konzepte und Ansätze, die in allen Regionen einen Nerv treffen“, sagt der Duisburger, der nach einem Blick auf die Uhr seine Fahrt in die Innenstadt startet. Ein leichter Nieselregen erleichtert die Entscheidung, ob er einen Abstecher in den Supermarkt machen soll. „Es findet sich bestimmt noch etwas im Kühlschrank“, überlegt Lewe und geht im Kopf mögliche Abendessen durch. „Hauptsache, es geht schnell.“
Feierabend in NRW, später Morgen in Alberta
Vorher müsse er noch E-Mails an Kolleg*innen und an seine ITP-Partner*innen in Frankreich und der Provinz Zuid-Holland schicken. „Danach wandert das Diensthandy in die Aktentasche und die wiederum in den Abstellschrank“, sagt Lewe. Gerade in Corona-Zeiten falle es ihm schwer, den „Arbeitskopf abzuschalten“. Deshalb habe er kleine Feierabendrituale entwickelt, um dann den Abend zu zweit genießen zu können – noch. „Wir erwarten den ersten Nachwuchs, es wird sich also einiges ändern“, sagt Lewe schmunzelnd.
Die Netzwerke, die Kontakte, der unkomplizierte Austausch mit anderen Regionen seien großartige Hilfsquellen geworden, die NRW auch künftig pflegen und nutzen wolle. Oukrainski sieht das genauso: „Auch wenn Alberta in vielem anders funktioniert als europäische Regionen – der Wissensaustausch und die neue Kontaktfülle sind unbezahlbar.“ Während in NRW ein Handy langsam in die Aktentasche abtaucht, beendet der Kanadier dank acht Stunden Zeitunterschied seine Morgenmeetings. Er zückt die Autoschlüssel und dreht den Glasfenstern mit schnellen Schritten den Rücken zu: „Auf in Richtung Calgary! Dort stehen heute Wasserstoff-Gespräche auf dem Plan.“
Industry Transition Platform
Das von der Stiftung Mercator geförderte internationale Projekt Industry Transition Platform (ITP) bringt Regierungsleute aus hoch industrialisierten Regionen zusammen, um Strategien zur Dekarbonisierung zu entwickeln und gleichzeitig Wachstum, Arbeitsplätze und Wohlstand zu fördern.
www.theclimategroup.org/industry-transition-platform