Kanada und NRW: Zusammen ist man weniger CO2

Kanada und NRW: Zusammen ist man weniger CO2
Autorin: Manuela Imre Fotos: Mika Volkmann & Todd Korol 06.07.2021

Die kanadische Provinz Alberta und Deutschlands bevölkerungs­reichstes Bundesland Nordrhein-Westfalen haben auf den ersten Blick wenig gemeinsam. Beim Thema Energie­wende und Klima­schutz kommen Leonid Oukrainski und Heinz-Uwe Lewe aber schnell auf einen Nenner: Wasser­stoff ist essenziell für die Umstellung ihrer Industrie auf einen kohlen­stoff­armen Betrieb. Zusammen mit neun weiteren Regional­regierungen suchen sie beim Projekt Industry Transition Platform (ITP) nach Lösungs­ansätzen, wie hoch industrialisierte Regionen Emissionen senken und gleich­zeitig Arbeits­plätze und Wohlstand fördern können.

Es gibt Tage, an denen Leonid Oukrainski die Rehe vor seinem Büro­fenster zählt. „Fünf sind keine Seltenheit, zwei bis drei ziemlich normal. Schon verrückt, oder? Mit mehr als 970.000 Einwohner*innen ist Edmonton eine Groß­stadt und trotzdem herrlich nah an der Natur“, sagt der 55-Jährige. Sein Blick wandert in Richtung North Saskatchewan River, der sich hinter dem Whitemud Equestrian Park durch die Haupt­stadt der kanadischen Provinz Alberta schlängelt. An diesem Morgen bleiben die Rehe fern. „Klassischer Vor­führ­effekt“, lacht Oukrainski und zückt sein Handy, um „Beweis­bilder“ zu zeigen.

So schön die Aussicht dank riesiger Rundum-Glas­fenster auch ist: Der quirlige Kanadier hält sich eher selten im weitläufigen Regierungs­gebäude auf, in dem das Ministerium für Infra­struktur der Provinz Alberta unter­gebracht ist. Das liege weniger an der Coronakrise oder der Möglichkeit, von zu Hause zu arbeiten. Als Executive Director kümmert sich der studierte Ingenieur um die Bedürfnisse der Bewohner*innen und die der Industrie und Unternehmen der Provinz – also um soziale Programme, Dienst­leistungen sowie die wirtschaftliche Entwicklung. Dazu passe die Unbeweglichkeit eines Büro­gebäudes nicht, erklärt Oukrainski, der statt­dessen auf ein mobiles Modell setzt.

Office auf vier Rädern

„Ich habe meinen rund 400 Mitarbeiter*innen versprochen, sie alle mindestens einmal im Jahr zu besuchen. Deshalb verbringe ich die meiste Zeit in meinem Office auf vier Rädern“, sagt Oukrainski. „Mein Auto ist mit allem Wichtigen aus­gestattet: mit einem Satelliten­telefon, einem speziellen Computer, dem Wackeln nichts ausmacht, einem Bildschirm für Video-Calls und natürlich mit All­rad­antrieb.“

Der Kanadier Leonid Oukrainski ist Executive Director des Ministeriums für Infra­struktur der Provinz Alberta. © Todd Korol

Ohne all das geht in der spektakulär schönen Provinz im Nordwesten Kanadas nichts. Die Winter sind kalt und schnee­reich, im Sommer werden Schotter­wege oft durch spontane Schauer zu Matschpisten. Die nahen Rocky Mountains sind beeindruckend, aber immer für Wetter­über­raschungen gut. Alberta ist so groß wie Deutschland und Italien zusammen: In dreieinhalb Jahren hat Oukrainski daher bereits über 100.000 Kilometer zurück­gelegt. „Um zu wissen, was in der Provinz passiert, muss ich nahe dran sein“, meint er.

Nordamerikaner*innen würden Oukrainski als „people person“ bezeichnen: energie­geladen, aufgeschlossen, freundlich – und, wie er selbst sagt, „ein ewiger Optimist“. Das spiegelt sich auch in seinen Erwartungen für die Zukunft Albertas wider, wo seit Jahr­zehnten Öl-, Kohle- und Gas­industrien die Identität der roh­stoff­reichen Provinz bestimmen. Dennoch zählen Nach­haltig­keit und Klima­verträglichkeit mittler­weile zu den Top-Themen. „Das Vorantreiben der Dekarbonisierung ist das große Ziel unserer Region: Wir wollen führend bei der Kohlen­stoff­abscheidung und der Wasser­stoff­produktion sein“, sagt Oukrainski mit Nachdruck.

Leonid Oukrainski arbeitet in der weit­läufigen Provinz häufig "on the road" im Auto. © Todd Korol
Alberta ist eine hoch­industrialisierte Provinz. © Todd Korol
Unterwegs begegnen ihm viele Trucks. © Todd Korol

Austausch und Unter­stützung für innovative Strategien

Die Einladung zur Teilnahme an der Industry Transition Platform (ITP), einem Gemeinschafts­projekt der Non-Profit-Organisation The Climate Group und der Landes­regierung von Nordrhein-Westfalen, kam 2019 zum perfekten Zeitpunkt. Albertas Regierung suchte gerade verstärkt nach Lösungs­ansätzen zum Thema Wasser­stoff. Dass sich beim ITP-Projekt zwei Jahre lang Menschen aus Landes- und Regional­regierungen aus elf hoch industrialisierten Regionen (Europa, USA, Kanada) austauschen und in Gruppen arbeiten, motivierte Oukrainski enorm.

Dass zudem Vertreter*innen aus der Industrie, Expert*innen für den System­wandel und Forscher*innen den Teilnehmer*innen maß­geschneiderte technische Unter­stützung bieten, damit die Regierungen innovative Strategien zur Reduzierung der Industrie­emissionen entwickeln können, passt genau zur Einstellung des Ingenieurs.

„Meiner Meinung nach müssen Regierungen den ersten Schritt machen und zeigen, was möglich ist. So lassen sich neue Technologien dem täglichen Betrieb näher­bringen und öffentlich akzeptabel machen. Dann erst übernimmt es die Privat­wirtschaft.“ Das sei ein bisschen wie in der Raum­fahrt, überlegt Oukrainski. Erst konnten nur große Staaten wie die USA, Russland und China ins All fliegen. Heute können das auch Privat­personen.

„Wasserstoff ist die Zukunft!“

Alberta produziert zwar Wasser­stoff, laut Oukrainski momentan aber noch haupt­sächlich für den internen Industrie­gebrauch. Ziel ist es, das Element als Energie­träger in den Alltags­gebrauch ein­zu­führen. Für ihn steht fest: „Wasser­stoff ist die Zukunft!“

Zwei Regionen, ein Anblick: Hier Alberta in Kanada... © Todd Korol
...und hier Nordrhein-Westfalen in Deutschland. © Mika Volkmann

Heinz-Uwe Lewe kann zu diesem Kommentar des Kanadiers nur nicken und im Home­office in Duisburg beide Daumen nach oben strecken. Der 32-Jährige arbeitet im Ministerium für Wirtschaft, Innovation, Digitalisierung und Energie des Landes Nordrhein-Westfalen. Genauer: im Referat VII.5, das sich mit sektor­über­greifenden Energie­systemen der Zukunft, Klimaschutz in der Industrie und Energie­effizienz beschäftigt. Normaler­weise könnte er, ähnlich wie Oukrainski, einen aufregenden Blick aus großen Glas­fenstern zeigen – ohne Rehe in diesem Fall, dafür mit dem nahen Rhein­ufer.

Mit Beginn der Pandemie wurden eine große Holzplatte sowie ein paar Holzblöcke aus der Garage der Eltern zum Schreib­tisch im Schlaf­zimmer umfunktioniert. „Meine Verlobte ist Lehrerin. Sie unterrichtet im eigentlichen Arbeits­zimmer ihre Kiddies per Online-Unterricht“, sagt Lewe und zeigt auf die nächste Tür im Gang. Zum Frühstück, Mittag- und Abendessen treffen sich die beiden in der Küche oder im Wohnzimmer. Beide Räume sollen unbedingt „arbeitsfrei“ bleiben.

Energie ja – aber bitte nachhaltig

Der großgewachsene Duisburger mit der dunklen Brille und dem lässigen Lockenschopf hat Nachhaltige Energie­planung studiert und sieht hier großes Potenzial: „Energie ist die Basis für so viele Dinge. Wir brauchen Energie. Die große Frage ist, wie wir sie klima­freundlich herstellen“, sagt er.

Die ITP-Teilnahme war für ihn ein Selbstläufer: Lewe hat bereits am Vorgänger, der Energy Transition Platform (ETP), mitgearbeitet und war begeistert. Die Zusammen­arbeit der Landes­vertreter*innen von Alberta, Hauts-de-France im Norden Frankreichs, Schottland und der Provinz Zuid-Holland in einer der ITP-Innovation-Groups „hat sich ganz organisch ergeben“. Bei den ersten Gesprächen der Teilnehmer*innen sei in bestimmten Regionen das Schlüssel­wort Wasserstoff über­proportional oft gefallen. Die „Hydrogen Action Group“ war geboren.

Heinz-Uwe Lewe arbeitet im Ministerium für Wirtschaft, Innovation, Digitalisierung und Energie des Landes Nordrhein-Westfalen. © Mika Volkmann

„Es war spannend und gleichzeitig motivierend zu sehen, dass selbst grund­verschiedene Regionen und Nationalitäten letztlich am gleichen Ziel arbeiten. Und das, obwohl jede*r mit anderen Problemen kämpft oder einen anderen Ansatz hat“, sagt Lewe. Dieser Erfahrungs­austausch, da sind sich der Deutsche und der Kanadier einig, entwickelte sich in den zwei Jahren des Projekts zur Wissens­gold­grube. „So hat Schottland beispiels­weise zur gleichen Zeit an einer ähnlichen Strategie gearbeitet, als wir für NRW die Wasser­stoff-Roadmap entwickelten“, sagt er.

Industrie­nationen stehen in der Verantwortung

Wasserstoff sieht auch er als Weg zur Klimaneutralität. „Solar- und Wind­energie sind die Grundlage für alles, keine Frage. Aber es gibt viele Prozesse, insbesondere in der Industrie, die nicht nur mit erneuerbarem Strom funktionieren würden. Da braucht man einfach Wasserstoff.“ Es ist später Nachmittag, und Lewe gönnt sich einen „Kopf durch­pusten“-Spaziergang durch den Landschafts­park Duisburg-Nord. Das 180-Hektar-Areal um ein still­gelegtes Hütten­werk wurde zum weitläufigen Stadtpark umfunktioniert.

Einst wurden hier, im heutigen Land­schafts­park Duisburg-Nord, Erz, Koks und Zuschlag­stoffe zum Hoch­ofen befördert. © Mika Volkmann

Vor ihm breitet sich ein Geflecht aus massiven Stahlstreben aus, dahinter ragt ein wuchtiger Schornstein in den Himmel. Lewe bleibt vor einer Erklär­tafel zum „Möllerbunker“ stehen und studiert, wie einst Erz, Koks und Zuschlag­stoffe per Schräg­aufzug zum Hochofen befördert wurden. „Als Industrie­nation haben wir eine tragende Verantwortung, da stimme ich Leonid zu“, nickt er. Vor allem in roh­stoff­reichen Provinzen und Bundes­ländern wie Alberta und NRW seien Regional­regierungen gefordert, beispiels­weise innovative Projekte voran­zu­treiben.

„Die deutsche Industrie ist offen und engagiert“

„In den vergangenen Jahren hat sich gezeigt, dass man mit der Industrie direkt über neue Prozesse sprechen kann und muss. Die deutsche Industrie ist sehr offen und engagiert.“ Aber natürlich seien mit Veränderungen auch große Ängste verbunden – vor allem, wenn dabei Arbeits­plätze weg­zu­fallen drohten.

Gerade dieses Thema stand bei den dreitägigen ITP-Workshops immer auf dem Programm. Während sich die Teilnehmer*innen bei den ersten beiden Events in Mailand und Lille persönlich treffen konnten, liefen zwei weitere virtuell ab. „Schade“, sagt Oukrainski, „die direkte Zusammen­arbeit ist immer netter, für mich durch den Jetlag allerdings auch anstrengender.“

Seit Corona hätte sich der Zeitplan aber zugunsten der Teilnehmer*innen aus Alberta, Kalifornien, Quebec und Minnesota verschoben. Die Workshops beginnen nun am europäischen Nachmittag und damit perfekt für „meinen ersten Tee am Morgen“, freut sich der bekennende Frühaufsteher.

„Dekarbonisierung ist keine herein­brechende Finsternis“

Kaffee trinke Oukrainski kaum. „Mehr Energie kann ich den Kolleg*innen nicht antun“, erklärt er lachend. Er hebt den Zeigefinger, um nach­zu­spielen, wie er beim ITP-Event in Lille der Runde eines klar machen wollte: „We don‘t cut jobs, no! We replace them!“ („Wir streichen keine Stellen, wir ersetzen sie!“) Das klinge vielleicht wie ein Slogan, doch genau das sei nun mal das Ziel – und alle hätten zugestimmt. Man wolle Branchen nicht eliminieren, sondern umformen und müsse dabei transparent bleiben, um Vertrauen zu schaffen. „Wir müssen Angestellten, Unter­nehmens­führungen und Gesellschaften deutlich machen: Dekarbonisierung ist keine herein­brechende Finsternis, sondern eine positive Entwicklung!“

Leonid Oukrainski und Heinz-Uwe Lewe haben sich im Projekt Industry Transition Platform (ITP) kennen­gelernt. © Todd Korol
Gemeinsam mit sieben weiteren Personen aus Regional­regierungen rund um den Globus suchten sie nach Lösungs­ansätzen, wie hoch industrialisierte Regionen Emissionen senken und gleich­zeitig Arbeits­plätze und Wohl­stand fördern können. © Mika Volkmann

„Das war für mich einer dieser Aha-Momente beim ITP-Projekt“, erinnert sich Lewe. „Zu erkennen, dass alle Regionen auf ihrem Weg zum Einsatz erneuerbarer Energien ähnlichen Ängsten und Vorurteilen gegen­über­stehen. Wir sitzen im gleichen Boot.“ Auch NRW konzentriere sich darauf, Unternehmen bei der Umstrukturierung zu unter­stützen. So könnten beispiels­weise Hersteller großer Turbinen für Kraftwerke, die mit Erdgas arbeiten oder mit Kohle befeuert werden, ihre Produktion auf Turbinen umstellen, die zukünftig mit Wasserstoff funktionieren.

„Das sind Konzepte und Ansätze, die in allen Regionen einen Nerv treffen“, sagt der Duisburger, der nach einem Blick auf die Uhr seine Fahrt in die Innen­stadt startet. Ein leichter Niesel­regen erleichtert die Entscheidung, ob er einen Abstecher in den Supermarkt machen soll. „Es findet sich bestimmt noch etwas im Kühlschrank“, überlegt Lewe und geht im Kopf mögliche Abendessen durch. „Hauptsache, es geht schnell.“

Heinz-Uwe Lewe hat erkannt: Alle Regionen stehen auf ihrem Weg zum Einsatz erneuerbarer Energien ähnlichen Ängsten und Vorurteilen gegen­über. Der Austausch ist daher umso wichtiger - eine wahre Goldgrube sogar. © Mika Volkmann

Feierabend in NRW, später Morgen in Alberta

Vorher müsse er noch E-Mails an Kolleg*innen und an seine ITP-Partner*innen in Frankreich und der Provinz Zuid-Holland schicken. „Danach wandert das Dienst­handy in die Aktentasche und die wiederum in den Abstell­schrank“, sagt Lewe. Gerade in Corona-Zeiten falle es ihm schwer, den „Arbeits­kopf ab­zu­schalten“. Deshalb habe er kleine Feier­abend­rituale entwickelt, um dann den Abend zu zweit genießen zu können – noch. „Wir erwarten den ersten Nachwuchs, es wird sich also einiges ändern“, sagt Lewe schmunzelnd.

Die Netzwerke, die Kontakte, der unkomplizierte Austausch mit anderen Regionen seien großartige Hilfs­quellen geworden, die NRW auch künftig pflegen und nutzen wolle. Oukrainski sieht das genauso: „Auch wenn Alberta in vielem anders funktioniert als europäische Regionen – der Wissens­austausch und die neue Kontakt­fülle sind unbezahlbar.“ Während in NRW ein Handy langsam in die Akten­tasche abtaucht, beendet der Kanadier dank acht Stunden Zeit­unterschied seine Morgen­meetings. Er zückt die Auto­schlüssel und dreht den Glas­fenstern mit schnellen Schritten den Rücken zu: „Auf in Richtung Calgary! Dort stehen heute Wasserstoff-Gespräche auf dem Plan.“

Industry Transition Platform

Das von der Stiftung Mercator geförderte inter­nationale Projekt Industry Transition Platform (ITP) bringt Regierungs­leute aus hoch industrialisierten Regionen zusammen, um Strategien zur Dekarbonisierung zu entwickeln und gleich­zeitig Wachstum, Arbeits­plätze und Wohlstand zu fördern.

www.theclimategroup.org/industry-transition-platform