Millionendeals im Kinderzimmer
Investieren gern, aber nachhaltig: Das hat sich Maya Hennerkes zur Lebensaufgabe gemacht. Für ihren Traumjob bei der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung braucht sie viel Durchsetzungskraft, Geduld – und manchmal eine Laufrunde zwischen Olivenbäumen und Schafen.
Maya Hennerkes sitzt im ehemaligen Kinderzimmer ihres Mannes – und entscheidet über Millionenbeträge. In den Regalen stehen noch Spielsachen und Kinderbücher. Normalerweise arbeitet die 42-jährige Kölnerin in einem Großraumbüro am Exchange Square im Finanzbezirk der Londoner Innenstadt. Jetzt schaut sie durch das Fenster auf das Fußballstadion des FC Granada, dahinter erheben sich die Ausläufer der südspanischen Sierra Nevada. Das Mittelmeer ist nur knapp eine Autostunde entfernt. Für den Ausblick hat Hennerkes allerdings kaum Zeit. Sie leitet bei der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBWE) die Umwelt- und Sozialverträglichkeitsprüfung von Großinvestitionen über Finanzintermediäre, sprich Fonds und Banken.
Coronabedingt ist ihr Arbeitsplatz ein schmaler Holzschreibtisch, den ihre spanische Schwiegermutter freigeräumt hat. Zwei Handys, ein paar lose Blätter für Notizen, ein Laptop und Taschentücher liegen darauf. Wenn sie mehr Platz braucht, wechselt sie an den großen Esstisch im Wohnzimmer. Die Wohnung befindet sich in Zaidín, einem traditionellen Arbeiterviertel im Süden der andalusischen Provinzhauptstadt Granada.
Zwischen Homeoffice und Homeschooling
Kurz vor dem Corona-Lockdown „flüchtete“ sie mit ihren drei Söhnen zu den Schwiegereltern in die alte Maurenstadt. „Covid-19-bedingtes Homeoffice als Mutter von zwei schulpflichtigen Jungs und einem Kindergartenkind ist definitiv besser zu ertragen, wenn die Kleinen tagsüber von den Großeltern beschäftigt werden“, sagt sie und lacht. Die Schule in London geht erst im September los. Bis dahin bleibt die Familie hier.
Die Schwiegereltern haben eine Wohnung in der Stadt sowie ein Landhaus mit Pool vor den Toren Granadas, wo sie die heißen Sommermonate verbringen. Während die Kinder bei Oma und Opa im Dorf bleiben, fährt Hennerkes jeden Morgen in die Stadtwohnung und arbeitet von 9 bis 17 Uhr. „Ich habe hier mehr Ruhe und vor allem ein besseres WLAN“, sagt sie.
Unten auf der Straße füllen sich die Terrassen der Tapasbars. Hennerkes hat noch eine wichtige Videokonferenz mit ihrem Team vor sich. Sie wollen zusätzliche Darlehen und Kapitalinvestitionen für Finanzkunden besprechen, die hart von den wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise betroffen sind. Parallel treibt sie ein neues Digitalisierungsprojekt voran. Es geht um eine App, mit der Banken die ESG-Daten für ihre Investments erheben und verwalten können. ESG ist die englische Abkürzung für Umwelt, Soziales und gute Unternehmensführung – Hennerkes‘ Spezialgebiet. Sie schaut konzentriert auf den Bildschirm ihres Laptops. Das Headset nimmt sie selten ab: Eine Videokonferenz jagt die nächste.
Feierabendbier unter Orangenbäumen
In Granada fühlt sich Hennerkes zu Hause. Während eines Auslandssemesters lernte sie hier ihren spanischen Ehemann kennen; ihr ältester Sohn kam hier zur Welt. Ihr fröhlicher Charakter passt gut zu den lebenslustigen Andalusier*innen. Abends trifft sie sich gerne mit Freund*innen auf ein Feierabendbier unter den Orangenbäumen der Terrassen in den Altstadtgassen von Albaicín – auch zum Fußballgucken. „Ich liebe Fußball! Und natürlich den 1. FC Köln!“ Eine ihrer Lieblingsterrassen ist El Huerto de Juan Ranas. „Von dort hat man einen tollen Ausblick auf die Alhambra, den alten Kalifenpalast“, schwärmt sie.
Leider hat die Terrasse heute zu. „Nicht schlimm. Wenn es in Granada an einem nicht mangelt, sind das Tapasbars“, sagt Hennerkes und nimmt auf der Terrasse El Mirador hinter der Kirche San Nicolás Platz. Ein Gitarrenspieler stimmt Flamenco-Klänge an. „Nett, aber nicht so mein Ding. Ich höre lieber Indie-Musik“, kommentiert sie.
Hennerkes hat viele Freund*innen – nicht nur in Granada. Sie wirkt offen und authentisch, eine Weltbürgerin, die überall zu Hause ist. Sie hat in Deutschland, Lateinamerika, Spanien, Großbritannien und den USA gelebt, spricht Deutsch, Englisch, Spanisch, Portugiesisch und Französisch. Das hilft ihr auch im Job weiter, denn sie hat es mit Menschen aus den verschiedensten Ländern und Kulturen zu tun.
„Kunden müssen unsere Umwelt- und Sozialstandards übernehmen“
Die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung wurde 1991 gegründet, um den Aufbau der Marktwirtschaft in Mittel- und Osteuropa zu unterstützen. Heute ist die EBRD unter anderem in Zentralasien, Südosteuropa, Nordafrika und den östlichen Mittelmeeranrainerstaaten aktiv. Ihre Bankenkund*innen sitzen in verschiedensten Ländern – von der Mongolei und Ägypten über Kasachstan, Estland und Marokko bis hin zur Westbank und im Gazastreifen.
„Ich muss ständig den Konsens suchen und zwischen sehr unterschiedlichen Interessen jonglieren. Das erfordert viel Geduld, Ausdauer, diplomatisches Geschick und manchmal auch Humor oder die Geschmeidigkeit einer Teflonpfanne“, erzählt Hennerkes.
Chance, das Finanzsystem zu verändern
Sie kann aber auch hart verhandeln, wenn es sein muss. „Ich bin sehr selbstbewusst und lasse mich nicht leicht einschüchtern.“ Sie weiß, wie sie Gesprächspartner*innen Grenzen aufzeigen kann. Ihre Stellung gibt ihr zudem die Macht dazu – immerhin wacht sie über ein jährliches Portfolio von 3,3 Milliarden Euro für Neuzusagen. „Eine große Verantwortung, aber gleichzeitig eine große Chance, Klimaschutz, Umwelt- und Nachhaltigkeitsstrategien fest in unserem Finanzsystem zu verankern. Und zwar nicht als Nebenevent, sondern als Systemgrundlage“, stellt Hennerkes klar.
Mit ihrem achtköpfigen Team kümmert sie sich um die indirekten Investitionsgeschäfte. „Wir finanzieren Finanzinstitute, private Fonds und Versicherer, um damit die Wirtschaft in den jeweiligen Regionen und Ländern anzukurbeln. Dafür müssen die Finanzinstitute aber unsere Umwelt- und Sozialstandards übernehmen und diese auch auf ihre eigenen Kunden übertragen, denen sie Kredite geben oder in die sie investieren“, erklärt Hennerkes.
Es geht unter anderem um Themen wie Ökologie, Chancengleichheit für Frauen und Diversität, Arbeitsschutz und Arbeitnehmerrechte, gesellschaftliches Engagement von Kunden und Korruptionsbekämpfung. Hennerkes und ihr Team holen Informationen darüber bei potenziellen Finanzkund*innen mit Fragebögen und Telefonkonferenzen ein. Zweimal pro Monat fliegt sie zu ihnen, um Angaben zu überprüfen oder Verbesserungsmaßnahmen auszuhandeln.
Wissenschaftlich belegte Argumente
Bei den Verhandlungen helfen ihr die Erfahrungen aus dem Mercator Science-Policy Fellowship-Programm. Im Rahmen dieser Fortbildung konnte sie mit verschiedenen Wissenschaftler*innen über ihr Themenfeld sprechen und so neue Perspektiven gewinnen. Bei einem so intensiv getakteten Leben wie ihrem bleibe häufig kaum Zeit für Reflexion, sagt Hennerkes. „Doch bei den Präsenztagen an den Rhein-Main-Universitäten hatte ich die Gelegenheit, auch mal über den Tellerrand zu schauen“ – ein Realitäts-Check in ihrer „Bubble“, ohne hausinterne Skeptiker*innen.
Die wissenschaftlichen Informationen über nachhaltige Finanzen gaben mir dabei eine ganz neue Sicht auf meinen Job.
„Es ist wahnsinnig inspirierend, mal ganz frei auf sein eigenes Themengebiet zu schauen. Die wissenschaftlichen Informationen über nachhaltige Finanzen gaben mir dabei teilweise eine ganz neue Sicht auf meinen Job“, sagt Hennerkes. Sie lieferten ihr vor allem Fakten und Daten, mit denen sie ihren Bankenkund*innen beweisen kann, dass nachhaltiges Finanzieren auch ökonomisch sinnvoll ist.
Gute, wissenschaftlich belegte Argumente helfen zudem, Banken mit wirtschaftlichen Interessen davon zu überzeugen, in Umwelt und Soziales zu investieren. Ein Beispiel: „Eine Bank gibt einem privaten Windparkbetreiber ein Darlehen. Windparks will niemand im Hinterhof haben. Doch wenn der Betreiber von uns über die Bank verpflichtet wird, die umliegenden Gemeinden ins Projekt einzubeziehen, es also zu einem Benefit-Sharing kommt, minimiert man Risiken und Probleme“, erklärt Hennerkes.
Anspruch und Wirklichkeit lägen zwar noch weit auseinander, doch Nachhaltigkeit und Klimaverträglichkeit rückten zunehmend bei Entscheidungen über Investitionen und Kreditvergaben in den Fokus. „Banken und Regierungen stehen immer fester hinter dem Richtungswechsel zu einem nachhaltigeren und klimafreundlicheren Finanzsystem“, sagt Hennerkes. Ein Beispiel sei der Green Deal der Europäischen Union, mit dem Europa durch nachhaltige Wirtschaftsmodelle bis 2050 der erste klimaneutrale Kontinent werden soll.
Berufsziel: Nachhaltiger Mehrwert
Nachhaltigkeit ist Maya Hennerkes‘ Herzensthema – ökologisch wie sozial. Das war ihr endgültig nach der Lehman-Brothers-Insolvenz klar, die 2008 eine weltweite Finanzkrise auslöste. Damals arbeitete sie bei der Finanznachrichtenagentur Bloomberg in London. Ihr erster Kontakt mit der Finanzwelt, nachdem sie in Köln Regionalwissenschaften Lateinamerika, VWL, Politikwissenschaften und Geschichte studiert hatte. Sie wurde Mitglied im Club of Rome, einem Thinktank von Expert*innen verschiedenster Disziplinen, die sich für eine nachhaltige Zukunft einsetzen.
Schnell stand fest, dass sie bei einer Bank mit nachhaltigem Mehrwert arbeiten wollte. So landete sie 2010 bei der Inter-Amerikanischen Entwicklungsbank IDB in Washington, zunächst als Beraterin des IDB-Vizepräsidenten für Entwicklungsprojekte im privaten Sektor. „Von ihm habe ich gelernt, wie man Personal mit Empathie und Unterstützung positiv führt“, erzählt Hennerkes. Danach kümmerte sie sich um Klimaschutz, Klimarisiken, Chancengleichzeit für Frauen sowie die Umwelt- und Sozialverträglichkeitsanalysen der IDB-Investitionsprojekte von Jamaika bis nach Patagonien.
Traumjob als Lebensaufgabe
Im Januar 2019 zog sie mit ihrer Familie zurück nach London, um bei der EBRD anzufangen. „Das ist mein Traumjob, der perfekte Arbeitsplatz. Denn bei diesen Geldmengen und am Knotenpunkt zwischen privatem und öffentlichem Sektor kann ich am meisten bewirken, um unser Finanzsystem umweltfreundlicher, sozial gerechter und nachhaltiger zu machen“, sagt Hennerkes.
Eine Lebensaufgabe, die kaum Zeit für Freizeit und Hobbys lässt. Trotzdem geht sie abends regelmäßig joggen, wenn sie zurück im Dorf bei ihren Schwiegereltern und Kindern ist – am liebsten mit Kopfhörern und laut aufgedrehter Indie-Rockmusik. „Dabei kann ich am besten abschalten. Du siehst die Sierra Nevada, Schafe und Olivenbäume. Das war‘s. Hier kann ich meine Batterien aufladen. In meinem intensiv getakteten Leben ist Granada mein Rückzugsraum.“
Mercator Science-Policy Fellowship-Programm
Das von der Allianz der Rhein-Main-Universitäten angebotene Fortbildungsprogramm ermöglicht den persönlichen Austausch zwischen Führungskräften aus Wissenschaft, Politik, öffentlichem Sektor, Medien und Zivilgesellschaft. Fellows durchlaufen dabei ein Gesprächsprogramm, das von ihren Interessen und Fragen ausgeht.
www.uni-frankfurt.de/65037914/Das_Programm