Wo hakt’s in der Mobilitätswende?

stark befahrene Autobahn
Wo hakt’s in der Mobilitätswende?
Autorin: Marion Sendker 23.01.2024

Wie kann die Mobilitätswende Naturschutz, zuverlässige Verkehrsangebote und die Belange von Menschen mit Behinderung berücksichtigen? Im Bündnis Sozial­verträgliche Mobilitäts­wende engagieren sich Verbände und Gewerkschaften dafür, dass Verkehrs­politik neu gedacht wird. Zu den Mit­streiter*innen gehört Verena Bentele, Präsidentin des größten deutschen Sozial­verbandes VdK.

Im Zentrum der Verkehrspolitik der Bundesregierung steht bisher klar der Ausbau von Straßen. Wie bewerten Sie das?

Verena Bentele: Für uns ist es eine Enttäuschung, dass die Ampelkoalition weiterhin sehr auf Straße und auf Autos fixiert ist. Mir fehlt der ganzheitliche Ansatz. Die Regierung konnte sich zum Beispiel nicht einmal auf ein Tempo­limit verständigen, obwohl das viele Menschen wollen.

Das Tempolimit wird zwar nicht verhandelt, aber die Regierung hat sich zuletzt auf einen Gesetzes­­entwurf geeinigt, wonach es leichter werden soll, Tempo 30 einzurichten. Ist das ein Fortschritt?

Verwaltung und Stadtrat vor Ort wissen am besten, was die Menschen brauchen. Daher ist es richtig, dass die Kommunen nun leichter Tempo-30-Zonen einrichten können. Mehr Tempo-30-Zonen können die Verkehrs­sicherheit für Fuß­gänger*innen und Rad­fahrer*innen erhöhen und die Fein­staub­belastung reduzieren. Gerade Menschen mit geringem Einkommen leben oft an den miet­günstigeren Haupt­verkehrs­straßen. Insofern können mehr Tempo-30-Zonen definitiv zu einer sozialen und ökologischen Verkehrs­wende beitragen.

Wie sollte denn eine soziale und ökologische Verkehrs­politik aussehen?

Im Prinzip müsste die Bundesregierung das ganze Thema vom Kopf auf die Füße stellen. Wir bräuchten eine Verkehrs­politik, die sich an den schwächsten Verkehrs­teil­nehmer*innen orientiert. Und die fahren nun mal nicht Auto, sondern sind Fußgänger*innen, Menschen, die Fahrräder nutzen, Kinder­wagen schieben, Rollatoren und Roll­stühle nutzen oder mit dem Blinden­stock durch die Gegend gehen. Es gibt einfach eine sehr große Vielfalt im Verkehr, die mehr Aufmerksamkeit verdient. Aber alle zu berücksichtigen, ohne den Auto­fahrer*innen etwas weg­zunehmen, wird schwierig.

Verena Bentele
© Stephan Görlich

Verena Monika Bentele leitet seit Mai 2018 als Präsidentin den größten deutschen Sozial­verband VdK. Vorher war sie vier Jahre lang Behinderten­beauftragte der Bundes­regierung. Die von Geburt an blinde Bentele war die erste Person in diesem Amt, die selbst ein Handicap hat. Bevor sie ihre sozial­politische Arbeit intensivierte, war Bentele Biathletin und Ski­lang­läuferin. Von 1995 bis 2011 wurde sie viermal Welt­meisterin und zwölfmal Paralympics-Siegerin. Bentele ist Mitglied der SPD.

Die Autofahrer*innen stellen deutlich die Mehrheit: Etwa 49 Millionen Pkw sind in Deutschland zugelassen – noch nie gab es so viele Fahrzeuge pro Einwohner*in. Was bräuchte es, damit mehr Menschen auf andere Verkehrs­mittel umsteigen?

Es wird immer Gründe geben, warum Menschen ihr Auto lieber nutzen. Es gibt viele Menschen, für die etwa der Weg zur nächsten Haltestelle und das Warten dort zu viel ist, während Autofahren kein Problem darstellt. Hätten diese Menschen Zugang zu einem barriere­freien öffentlichen Nahverkehr, der sie zuverlässig an ihr Ziel bringt, wäre es eine echte Alternative, das Auto stehen zu lassen. Auch Anreiz­systeme sind wichtig. Es wurden zum Beispiel lange und intensiv neue Dienstwagen gefördert. Da müsste sich deutlich was ändern.

Autobahnkreuz aus der Vogelperspektive
Bekannte Vogelperspektive: Ein Autobahnkreuz von oben. In Kopenhagen gibt es dagegen schon Stadtautobahnen für Fahrradfahrer*innen. © unsplash

Ein Anreiz ist zum Beispiel das 49-Euro-Ticket für Bus und Bahn. Ist das ein Schritt in die richtige Richtung?

Für viele Menschen ist das etwas Gutes. Für Menschen mit sehr wenig Geld fordern wir weiterhin, dass es ein Sozial­ticket geben muss – für 29 Euro. Wir sehen aber, dass Themen wie die soziale und finanzielle Teilhabe im Verkehrs­ministerium derzeit eine deutlich geringere Rolle spielen. Und: Wenn wir mehr Menschen ermöglichen, den öffentlichen Personen­nah­verkehr zu nutzen, muss dieser natürlich dringend ausgebaut werden. Es braucht deutlich mehr Investitionen, eine bessere Taktung, mehr Strecken und mehr Barriere­freiheit. Ein Beispiel: Ich war neulich für einen Termin in Hamburg, und da ging es in die S-Bahn immer eine Riesen­stufe hoch. Jetzt sehe ich zwar nichts, aber ich bin Sportlerin. Mir macht das nichts. Ich laufe halt die Stufe hoch. Aber für Menschen, die einen Rollator nutzen oder einen Rollstuhl, sind solche Stufen natürlich ätzend. Die brauchen immer jemanden, der ihnen hilft. Ich wünsche mir ein klares Bekenntnis der Bundes­regierung zur Barriere­freiheit.

Leider wird Barriere­freiheit für viele eher als Hindernis gesehen, als etwas, das die Verkehrs­planung noch teurer und schwieriger macht.

Verena Bentele, VdK-Präsidentin

Gilt das eher für Städte und Ballungsräume oder auch für ländliche Räume, die in den Diskussionen oft weniger beachtet werden?

Im ländlichen Bereich ist die Situation deutlich heraus­fordernder. Da geht es oft darum, dass es überhaupt eine Anbindung gibt. Zum Beispiel überall eine regelmäßige Buslinie ein­zu­führen, ist sicherlich ein Ressourcen­einsatz, den wir gut abwägen müssen. Ich denke, hier braucht es vor allem kreative Lösungen, die vor Ort initiiert werden, etwa individuelle Rufbus­möglichkeiten.

Sie vertreten den VdK auch auf der Minister­präsident*innen­konferenz. Welche Rolle spielt das Thema Barriere­freiheit für die Politik?

Leider wird Barrierefreiheit für viele eher als Hindernis gesehen, als etwas, das die Verkehrsplanung noch teurer und schwieriger macht. Das Thema hat natürlich Heraus­forderungen: Roll­stuhl­nutzer*innen hätten am liebsten abgesenkte, flache Bordsteine. Ein Mensch, der nicht sieht und darauf angewiesen ist, dass es zumindest eine Minikante gibt, sagt: „Bitte nicht den ganzen Bordstein abschaffen!“ Da müssen wir gucken, wie wir allen gerecht werden. Was aber noch gravierender ist: Alle haben von Barriere­freiheit gehört, aber wir müssen immer noch dafür kämpfen, dass die Belange der Barriere­freiheit auch berücksichtigt werden.

Ihr Verband gehört zum Bündnis Sozial­verträgliche Mobilitätswende, das Millionen Menschen vertritt. Wie kommen Sie gegen die Interessen der Vertreter*innen der Auto­mobil­industrie an?

Wir haben nicht so viele Arbeitsplätze wie die Autoindustrie, wir müssen anders überzeugen. Was gut ist: Wir haben heute eine starke zivil­gesellschaftliche Vernetzung unter den Verbänden. Das war früher nicht so. Dabei ist es wertvoll, dass wir Themen nicht gegen­einander ausspielen. Zum Beispiel: Fein­staub­belastung trifft arme Menschen mehr, weil sie an stärker befahrenen Straßen wohnen. Gleich­zeitig haben sie aber oft kein Auto und tragen weniger zur ökologischen Belastung bei als Menschen, die mit großen Autos herum­fahren. Umweltschutz und Sozial­politik zusammenzudenken, das ist schon ein Gewinn.


Bündnis Sozial­verträgliche Mobilitäts­wende

Wie kann eine sozial gerechte und ökologische Mobilitäts­wende gelingen? Dieser Frage widmet sich das Bündnis Sozial­verträgliche Mobilitätswende. Der Zusammen­schluss aus Wohl­fahrts- und Sozial­verbänden, Gewerk­schaften, Umwelt­verbänden und der Evangelischen Kirche in Deutsch­land vertritt viele Millionen Bürger*innen in Deutschland. Alle Beteiligten beschäftigen sich aus unter­schiedlichen Gründen mit dem Thema Mobilität und sehen dringenden Handlungs­bedarf.

www.stiftung-mercator.de/sozial-gerechte-mobilitaetswende/