Wo hakt’s in der Mobilitätswende?
Wie kann die Mobilitätswende Naturschutz, zuverlässige Verkehrsangebote und die Belange von Menschen mit Behinderung berücksichtigen? Im Bündnis Sozialverträgliche Mobilitätswende engagieren sich Verbände und Gewerkschaften dafür, dass Verkehrspolitik neu gedacht wird. Zu den Mitstreiter*innen gehört Verena Bentele, Präsidentin des größten deutschen Sozialverbandes VdK.
Im Zentrum der Verkehrspolitik der Bundesregierung steht bisher klar der Ausbau von Straßen. Wie bewerten Sie das?
Verena Bentele: Für uns ist es eine Enttäuschung, dass die Ampelkoalition weiterhin sehr auf Straße und auf Autos fixiert ist. Mir fehlt der ganzheitliche Ansatz. Die Regierung konnte sich zum Beispiel nicht einmal auf ein Tempolimit verständigen, obwohl das viele Menschen wollen.
Das Tempolimit wird zwar nicht verhandelt, aber die Regierung hat sich zuletzt auf einen Gesetzesentwurf geeinigt, wonach es leichter werden soll, Tempo 30 einzurichten. Ist das ein Fortschritt?
Verwaltung und Stadtrat vor Ort wissen am besten, was die Menschen brauchen. Daher ist es richtig, dass die Kommunen nun leichter Tempo-30-Zonen einrichten können. Mehr Tempo-30-Zonen können die Verkehrssicherheit für Fußgänger*innen und Radfahrer*innen erhöhen und die Feinstaubbelastung reduzieren. Gerade Menschen mit geringem Einkommen leben oft an den mietgünstigeren Hauptverkehrsstraßen. Insofern können mehr Tempo-30-Zonen definitiv zu einer sozialen und ökologischen Verkehrswende beitragen.
Wie sollte denn eine soziale und ökologische Verkehrspolitik aussehen?
Im Prinzip müsste die Bundesregierung das ganze Thema vom Kopf auf die Füße stellen. Wir bräuchten eine Verkehrspolitik, die sich an den schwächsten Verkehrsteilnehmer*innen orientiert. Und die fahren nun mal nicht Auto, sondern sind Fußgänger*innen, Menschen, die Fahrräder nutzen, Kinderwagen schieben, Rollatoren und Rollstühle nutzen oder mit dem Blindenstock durch die Gegend gehen. Es gibt einfach eine sehr große Vielfalt im Verkehr, die mehr Aufmerksamkeit verdient. Aber alle zu berücksichtigen, ohne den Autofahrer*innen etwas wegzunehmen, wird schwierig.
Verena Monika Bentele leitet seit Mai 2018 als Präsidentin den größten deutschen Sozialverband VdK. Vorher war sie vier Jahre lang Behindertenbeauftragte der Bundesregierung. Die von Geburt an blinde Bentele war die erste Person in diesem Amt, die selbst ein Handicap hat. Bevor sie ihre sozialpolitische Arbeit intensivierte, war Bentele Biathletin und Skilangläuferin. Von 1995 bis 2011 wurde sie viermal Weltmeisterin und zwölfmal Paralympics-Siegerin. Bentele ist Mitglied der SPD.
Die Autofahrer*innen stellen deutlich die Mehrheit: Etwa 49 Millionen Pkw sind in Deutschland zugelassen – noch nie gab es so viele Fahrzeuge pro Einwohner*in. Was bräuchte es, damit mehr Menschen auf andere Verkehrsmittel umsteigen?
Es wird immer Gründe geben, warum Menschen ihr Auto lieber nutzen. Es gibt viele Menschen, für die etwa der Weg zur nächsten Haltestelle und das Warten dort zu viel ist, während Autofahren kein Problem darstellt. Hätten diese Menschen Zugang zu einem barrierefreien öffentlichen Nahverkehr, der sie zuverlässig an ihr Ziel bringt, wäre es eine echte Alternative, das Auto stehen zu lassen. Auch Anreizsysteme sind wichtig. Es wurden zum Beispiel lange und intensiv neue Dienstwagen gefördert. Da müsste sich deutlich was ändern.
Ein Anreiz ist zum Beispiel das 49-Euro-Ticket für Bus und Bahn. Ist das ein Schritt in die richtige Richtung?
Für viele Menschen ist das etwas Gutes. Für Menschen mit sehr wenig Geld fordern wir weiterhin, dass es ein Sozialticket geben muss – für 29 Euro. Wir sehen aber, dass Themen wie die soziale und finanzielle Teilhabe im Verkehrsministerium derzeit eine deutlich geringere Rolle spielen. Und: Wenn wir mehr Menschen ermöglichen, den öffentlichen Personennahverkehr zu nutzen, muss dieser natürlich dringend ausgebaut werden. Es braucht deutlich mehr Investitionen, eine bessere Taktung, mehr Strecken und mehr Barrierefreiheit. Ein Beispiel: Ich war neulich für einen Termin in Hamburg, und da ging es in die S-Bahn immer eine Riesenstufe hoch. Jetzt sehe ich zwar nichts, aber ich bin Sportlerin. Mir macht das nichts. Ich laufe halt die Stufe hoch. Aber für Menschen, die einen Rollator nutzen oder einen Rollstuhl, sind solche Stufen natürlich ätzend. Die brauchen immer jemanden, der ihnen hilft. Ich wünsche mir ein klares Bekenntnis der Bundesregierung zur Barrierefreiheit.
Leider wird Barrierefreiheit für viele eher als Hindernis gesehen, als etwas, das die Verkehrsplanung noch teurer und schwieriger macht.
Gilt das eher für Städte und Ballungsräume oder auch für ländliche Räume, die in den Diskussionen oft weniger beachtet werden?
Im ländlichen Bereich ist die Situation deutlich herausfordernder. Da geht es oft darum, dass es überhaupt eine Anbindung gibt. Zum Beispiel überall eine regelmäßige Buslinie einzuführen, ist sicherlich ein Ressourceneinsatz, den wir gut abwägen müssen. Ich denke, hier braucht es vor allem kreative Lösungen, die vor Ort initiiert werden, etwa individuelle Rufbusmöglichkeiten.
Sie vertreten den VdK auch auf der Ministerpräsident*innenkonferenz. Welche Rolle spielt das Thema Barrierefreiheit für die Politik?
Leider wird Barrierefreiheit für viele eher als Hindernis gesehen, als etwas, das die Verkehrsplanung noch teurer und schwieriger macht. Das Thema hat natürlich Herausforderungen: Rollstuhlnutzer*innen hätten am liebsten abgesenkte, flache Bordsteine. Ein Mensch, der nicht sieht und darauf angewiesen ist, dass es zumindest eine Minikante gibt, sagt: „Bitte nicht den ganzen Bordstein abschaffen!“ Da müssen wir gucken, wie wir allen gerecht werden. Was aber noch gravierender ist: Alle haben von Barrierefreiheit gehört, aber wir müssen immer noch dafür kämpfen, dass die Belange der Barrierefreiheit auch berücksichtigt werden.
Ihr Verband gehört zum Bündnis Sozialverträgliche Mobilitätswende, das Millionen Menschen vertritt. Wie kommen Sie gegen die Interessen der Vertreter*innen der Automobilindustrie an?
Wir haben nicht so viele Arbeitsplätze wie die Autoindustrie, wir müssen anders überzeugen. Was gut ist: Wir haben heute eine starke zivilgesellschaftliche Vernetzung unter den Verbänden. Das war früher nicht so. Dabei ist es wertvoll, dass wir Themen nicht gegeneinander ausspielen. Zum Beispiel: Feinstaubbelastung trifft arme Menschen mehr, weil sie an stärker befahrenen Straßen wohnen. Gleichzeitig haben sie aber oft kein Auto und tragen weniger zur ökologischen Belastung bei als Menschen, die mit großen Autos herumfahren. Umweltschutz und Sozialpolitik zusammenzudenken, das ist schon ein Gewinn.
Bündnis Sozialverträgliche Mobilitätswende
Wie kann eine sozial gerechte und ökologische Mobilitätswende gelingen? Dieser Frage widmet sich das Bündnis Sozialverträgliche Mobilitätswende. Der Zusammenschluss aus Wohlfahrts- und Sozialverbänden, Gewerkschaften, Umweltverbänden und der Evangelischen Kirche in Deutschland vertritt viele Millionen Bürger*innen in Deutschland. Alle Beteiligten beschäftigen sich aus unterschiedlichen Gründen mit dem Thema Mobilität und sehen dringenden Handlungsbedarf.